Wer in den Keller des sogenannten Seifensiederhauses hinabsteigt, das älteste barocke Gebäude der Wiener Leopoldstadt, findet dort einen gruseligen Ort vor: das Wiener Kriminalmuseum – ein Ort voller Schädel, Tatwaffen und Skurrilitäten. Wir fachsimpeln mit Harald Seyrl, Gründer und Kriminalhistorikeraus Leidenschaft, über den berühmt-berüchtigten Prostituiertenmörder Jack Unterweger, nie identifizierte Leichen und fiese Tötungsmethoden.
Warnung: In diesem Beitrag sind Fotos von Gewaltverbrechen zu sehen.
Im Jahr 2023 wurden laut Medienberichten in Österreich bereits 19 Frauen ermordet, davon waren mutmaßlich 17 Femizide, und es gab 35 Mordversuche bzw. Fälle schwerer Gewalt an Frauen (Stand: 25.9.2023, Quelle: Autonome Österreichische Frauenhäuser). Damit steht Österreich an einer traurigen Spitzenposition: Es ist das einzige europäische Land, in dem jährlich mehr Frauen als Männer ermordet werden.
Maja Goertz: Geschichten von wahren Verbrechen sind in Serien oder Podcasts gerade sehr in Mode. Warum ist das so, glauben Sie?
Harald Seyrl: Alles, was aus der Mitte
rückt und dramatisch ist, interessiert die Menschen. Wenn Sie als
Journalistin über das schreckliche Erdbeben in der Türkei schreiben, lesen das ja
auch mehr Leute, als einen Artikel, in dem es heißt: „Es gibt ein Dorf
in Norwegen, da ist seit hundert Jahren nichts passiert.“
In Ihrem Museum sammeln Sie viele Mordwaffen, darunter sind Äxte, Pistolen und Messer, auch Relikte moderner Zeit, etwa die Jacke des Attentäters des 1981 erschossenen SPÖ-Stadtrats Heinz Nittel oder die blutbefleckte Kleidung der Opfer des Prostituiertenmörders Jack Unterweger. Auch Tatortfotos und Gerichtstexte sowie Körperteile von hingerichteten Verbrecherinnen, unter anderem die Schädel der niederösterreichischen Kindesmörderin Juliana Hummel oder des Raubmörders Franz Zaglauer von Zahlheim, der als Letzter noch mit der grausamen Methode des Räderns sein Ende fand. Macht Ihnen das alles noch Gänsehaut?
Das Museum soll kein Gruselkabinett sein. Wenn Sie auf der Straße ein Auto sehen, denken Sie ja auch nicht daran, dass man damit jemanden ermorden könnte. Ein Auto kann für einen Terroristen zum Mordwerkzeug werden, es kann
aber auch eine Familie zum Wochenendausflug bringen. Ob mit einem
ausgestellten Objekt jemand umgebracht wurde, ist im Grunde zweitrangig.
Es dient viel mehr als Transmitter, um die Geschichte dahinter zu
erzählen.
Die letzte Todesstrafe wurde in Wien erst 1950 vollzogen, vollständig aufgehoben wurde sie in Österreich sogar erst 1968. In das Wiener Kriminalmuseum stolpert man nicht einfach so hinein. Man muss schon wissen, wo es ist: Über einen Hinterhof geht es einige Stufen hinunter in einen riesigen Keller, in dem früher einmal Tiere gehalten wurden. Im Haus darüber wohnt Harald Seyrls Tochter mit ihren Kindern. Mit den gruseligen Artefakten zu leben, ist die Familie gewohnt.
Sehen das die Angehörigen der Opfer ebenfalls so?
Manche wünschen sich sogar explizit, dass wir bestimmte Dinge ausstellen, damit nicht in Vergessenheit gerät, welchen tragischen Kriminalfällen ihre Angehörigen zum Opfer gefallen sind.
Kommen Besucherinnen ins Museum, die einen persönlichen Bezug zu den Ausstellungsstücken haben?
Vor zwei Jahren kam ein Herr zu uns, der lange bei einem ausgestellten Galgen im Keller stand. Er meinte zu mir: „1948 bin ich fast daran erhängt worden.“ Daraufhin erzählte er mir die Geschichte. Er sei in einen Kriminalfall verwickelt worden. Seine Vermieterin sei eines Tages ausgeraubt und tot in der Badewanne aufgefunden worden. Er wurde verdächtigt, der Täter zu sein. Sein wohl ziemlich sadistisch veranlagter Untersuchungsrichter hatte ihn damals immer wieder zu einem Fenster geführt, von dem aus man den Galgen sah.
Der Mann war kein Mörder?
Nein, der Täter wurde durch Zufall bei einer Kontrolle an der Schweizer Grenze gefasst. In seinem Koffer führte er die Beute von dem Raubmord in Wien mit.
Ist es nicht voyeuristisch, sich vom Leid anderer unterhalten zu lassen?
Wenn sich Menschen nur mit Fällen auseinandersetzen, um sich zu gruseln, mag das sein. Im Fokus sollte aber die Dokumentation stehen. Begonnen hat das Phänomen, echte Verbrechen nachzuerzählen, mit dem französischen Staatsanwalt François Gayot de Pitaval. Zu Ende des 18. Jahrhunderts hat er begonnen, Kriminalfälle zu dokumentieren. Bis dahin sind Verbrechen schnell wieder in Vergessenheit geraten. Sie standen nur in der Zeitung, aber dazu hatten nur wenige Menschen Zugang. Die Dokumentation von historischen Kriminalfällen wird heute in der Regel sogar mit der Bezeichnung „Pitaval“ versehen.
Es ist kühl im Museumskeller. Das Licht spärlich, in den zwanzig verwinkelten Räumen tut sich immer noch eine Treppe weiter nach unten auf, noch mehr schaurige Gegenstände, noch mehr Berichte von schrecklichen Verbrechen. Und dann, wenn man sich durch die gesamte Ausstellung geschlängelt hat, geht es aus dem Grauen zurück an die Oberfläche, zurück ans Tageslicht und die Sonne, wie wenn man aus einem schlechten Traum erwacht.
Was fasziniert Sie persönlich an Verbrechen? Ausgestellt ist zum Bespiel das Skelett der „schönsten Mörderin Wiens“, Theresia Kandl, die im Dezember 1808 ihren gewalttätigen Ehemann mit einer Axt erschlug und dafür als erste Frau in Wien am 16. März 1809 am Galgen endete. Ein bisschen makaber ist das schon ...
Sich mit Kriminalität auseinanderzusetzen, ist schlicht und einfach notwendig. Ich sammle das Material, damit es nicht verloren geht. Über Kriminalität lässt sich viel über die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahrhunderte erzählen. Maria Theresia hat im 18. Jahrhundert die Folter abgeschafft, bis dahin war sie noch gang und gäbe. Kaiser Joseph der Zweite hat die Zahl der Hinrichtungen stark minimiert, was natürlich auch Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte.
Sie zeigen in Ihrem Museum eine brutale, wenig glänzende Seite von Wien. Da kann einem schon mal mulmig werden.
Die Stadt besteht eben nicht nur aus dem Schloss Schönbrunn und dem Riesenrad beim Prater. Man denke an das graue, morbide Wien des 19. Jahrhunderts, in dem Männer wie Hugo Schenk zu Mördern werden konnten. Er war ein Hochstapler und Serienmörder, der mit Hilfe seines Komplizen Karl Schlossarek vier Dienstmädchen ermordete, nur um an ihre Wertsachen zu kommen. Es gibt sogar Volkslieder über ihn und der Schriftsteller Egon Erwin Kisch setzte sich mit der Figur literarisch auseinander. Wir zeigen den Totenschädel des später Hingerichteten bei uns im Museum.
Gibt es Dinge, die bei Kriminalfällen über die Zeit immer gleich bleiben?
Hass und Rache überdauern die Zeit. Eifersucht ist ein sehr beliebtes Motiv. Abnorme Personen, die zu Triebtätern werden, weil sie Freude am Töten und Quälen haben, wie die Wiener Klavierfabrikanten-Gattin Josefine Luner, die ihr Dienstmädchen brutal quälte, gab es auch schon immer, genauso wie Beschaffungskriminalität. Natürlich würde heute niemand mehr wie früher für einen Laib Brot töten.
Hugo Schenk war ein österreichischer Hochstapler und Serienmörder. Als er wegen Heiratsschwindel im Gefängnis saß, lernte er Karl Schlossarek kennen. Mit seiner Hilfe ermordete Schenk vier Dienstmädchen. 1884 wurde Hugo Schenk hingerichtet. Sein Schädel, der neurologisch untersucht wurde, befindet sich im Wiener Kriminalmuseum.
Ist Ihnen schon mal ein Täter untergekommen, den Sie besonders intelligent fanden?
Ein Mörder muss schon mal intelligenter sein als ein Totschläger, der nur aus Affekt handelt. Fälscher von Banknoten zum Beispiel müssen technisch oder grafisch begabt sein. Sobald jemand „professionell“ kriminell ist, braucht er spezielles Wissen. Natürlich geht es bei Kriminalfällen immer um tragische Schicksale. Aber
ich muss mich bei meiner Arbeit von meinen Emotionen freimachen, wie ein Gerichtsmediziner.
Wie kommt es, dass so viele Frauen Opfer von Gewaltverbrechen werden? Österreich belegt in Sachen Femizide eine traurige Spitzenposition in Europa.
Eine Frau ist leichter angreifbar, alleine durch ihre körperliche Unterlegenheit gegenüber Männern. Besonders prekär wird es, wenn sie aus einem Kulturkreis kommt, in dem ihr weniger Rechte zugestanden werden, und sie es nicht gelernt hat, sich zu wehren, oder Gewalt als „normal“ ansieht.
„Prostituierte wurden mit einem speziellen Knoten erdrosselt.“
In Ihrem Museum werden Beweisstücke vom legendären Jack-Unterweger-Fall gezeigt, darunter Stoffe, mit denen er junge Frauen die Luft abgeschnürt hat. Wie kommt man als Museum an so etwas heran?
Wir arbeiten mit der Polizei zusammen. Normalerweise werden Beweisstücke vernichtet, wenn ein Prozess abgeschlossen ist. Das hat ganz praktische Gründe: Man hat keinen Platz, um das alles zu lagern. Nur wenn die Dinge von großem öffentlichem Interesse sind, werden sie aufgehoben.
Was macht so ein Beweisstück von Jack Unterweger für Sie besonders interessant?
Alle Morde, die Jack Unterweger beging, hatten die gleiche Handschrift: Prostituierte wurden mit einem speziellen Knoten erdrosselt. Damals, in den 90er-Jahren, kannte man in Österreich nur die Daktyloskopie, also Spurensicherung durch Fingerabdrücke. In den USA hingegen gab es schon das Verfahren der DNA-Analyse und eine Knoten-Expertin. Also hat man die Beweis- und Vergleichsstücke zur Untersuchung über den Teich verschickt. Dort wurden Übereinstimmungen zu der DNA des Verdächtigen, also Jack Unterweger, gefunden. Später wurden die Sachen mit einem Schiff zurück nach Wien geschickt. Als sie angekommen sind, war der Fall aber schon abgeschlossen, weil sich Jack Unterweger in Haft umgebracht hatte.
Können Täter oder Opfer Einspruch dagegen erheben, dass Tatwaffen oder Beweisstücke ausgestellt werden?
Es gab den Fall, dass eine Frau jahrzehntelang von ihrer Pflegefamilie in einer Holzkiste gefangen gehalten wurde. Ziemlich grausam. Nachdem das aufgeflogen war und den Tätern der Prozess gemacht wurde, hat sie sich gewünscht, dass die Kiste als Symbol ihres Leidens zu uns ins Museum kommt. Da sich die Täter dagegengestellt hatten, ist sie schließlich vernichtet worden.
„Manche verschwinden einfach so von der Bildfläche.“
Johann „Jack“ Unterweger ist ein österreichischer Serienmörder, der 1974 wegen Mordes an Margret Schäfer zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Aus dem Gefängnis heraus machte er sich als Autor einen Namen in der Kunstszene. 1990 wurde er frühzeitig entlassen und verübte eine Mordserie an Prostituierten, die er mit ihrer Unterwäsche strangulierte. 1994 wurde er in neun von elf Verdachtsfällen schuldig gesprochen. Nach Verkündigung des Urteils nahm er sich im Gefängnis das Leben.
Wir wollen ein bisschen etwas über Sie erfahren! Sie betreiben ein zweites Museum in Ihrem Schloss in Scharnstein in Oberösterreich. Schlossbesitzer und Kriminialhistoriker, wie passt das zusammen?
Meine Familie hat ursprünglich viele Schlösser besessen. In den 60er-Jahren habe ich das Schloss Scharnstein in einem desolaten Zustand gekauft. Seitdem wird daran gearbeitet – das wird nie fertig werden! 1973 habe ich in einem Teil des Schlosses ein Museum für mittelalterliches Recht eingerichtet, weil es früher als Landgericht genutzt wurde. In einem anderen Teil lebe ich mit meiner Frau.
Wie ist es, in einem Schloss zu leben?
Kalt! Dort zu heizen, ist sehr mühsam. Deswegen ist das Museum in Scharnstein auch nur in den warmen Monaten geöffnet.
Sehen Sie sich die Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ im ZDF an?
Ich bin froh, wenn ich mir nicht ununterbrochen Kriminalberichterstattungen ansehen muss. Was mich aber immer sehr interessiert, sind nie identifizierte Leichen. Alle Menschen haben einen sozialen Hintergrund, vielleicht ein Auto, Versicherungen, eine Wohnung. Jeder muss doch irgendwem abgehen, oder? Und trotzdem verschwinden manche einfach so von der Bildfläche. Immer wieder.
Denken Sie an einen speziellen Fall?
In den 70er-Jahren ist ein Mann im Land Salzburg ermordet worden, den man nie identifizieren konnte. Die Leiche lag in einem abgebrannten Gebäude, war also zum Teil verkohlt. In der Nähe hat man eine Rolex gefunden und darauf geschlossen, dass er vermögend war. Mehr hat man nicht herausfinden können. Der Fall bleibt ungeklärt, auch wenn er sogar drei Mal bei „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ war. Wenn man wüsste, wer das Opfer ist, könnte man die Täter leichter finden. Die Brandleiche liegt jetzt bei uns in Scharnstein.
Schlendert man durch das Wiener Kriminalmuseum, muss man sich eines immer wieder deutlich vor Augen führen: Das alles ist echt. Das sind keine Geschichten aus Thrillern und keine Film-Requisiten. Die Masse und Brutalität der Verbrechen, die im Museum präsentiert werden, machen nachdenklich.
Gibt es das perfekte Verbrechen?
Sicher, sonst gäbe es keine ungeklärten Fälle. Es gibt Täter, denen es gelingt, lange unerkannt zu bleiben. Denken Sie mal an den Fall von Tibor Foco, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, weil er eine Prostituierte und einen Zuhälter ermordet hat. Vor 25 Jahren ist er in perfekter Form geflüchtet. Trotz Haft durfte er an der Universität in Linz studieren. Helfer haben in der Nähe seines Institutsgebäudes ein Motorrad für ihn deponiert. Er ist durch ein Toilettenfenster geklettert, hat sich das Ding geschnappt und ist verschwunden. Bis heute gibt es keine Spur von ihm. Niemand weiß, wo er sich aufhält, oder ob er überhaupt noch lebt. Solche Fälle sind schon faszinierend.
Bekommt man keine Lebensangst, wenn man sich so viel mit der Bosheit, Brutalität und Mordlust der Menschen auseinandersetzt?
Dafür braucht man nicht ins Kriminalmuseum kommen, da kann man auch nur die Tageszeitung lesen. Sicher kann man nie sein, das Leben ist eben lebensgefährlich!
Das Wiener Kriminalmuseum hat von Donnerstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet.
Harald Seyrl wurde 1942 in Oberösterreich geboren und studierte Konservierungstechnologie. In den 1960er-Jahren kaufte er das Schloss Scharnstein und eröffnete dort 1973 ein Museum zu mittelalterlichem Recht. Durch das große Interesse daran folgte 1991 das Wiener Kriminalmuseum, für das er eng mit der Wiener Polizei zusammenarbeitet. Er schreibt Bücher, darunter „Attentate: Wendepunkte der österreichischen Geschichte“ und „Sicher durch die Zeit: Die Geschichte der Wiener Polizei“ über historische Verbrechen in Österreich.