„Proteste müssen stören, sonst sind sie wirkungslos.“ Wir sprachen mit dem deutschen Künstler Stephan Mörsch, der sich mit einer Baumhaussiedlung im Hambi, dem Hambacher Wald, auseinandersetzt, über Barrikaden, Camps und Sekundenkleber. Demonstrierende wollten dort die Bäume vor der Abholzung für den Braunkohleabbau schützen und entwickelten eine ziemlich clevere Methode des Widerstands. Gemeinsam erkunden wir sein maßstabgetreues Hängemodell des Barrios „Beechtown“, und diskutieren, wie sich architektonische Proteste weltweit unterscheiden und doch verbinden.
Sein Hängemodell des Barrios „Beechtown" wurde unter anderem 2024 in einer Ausstellung, die in Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt und dem Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien entstanden ist, gezeigt. Hier erkennt man das 1:10 maßstabgetreue Hängemodell „Beechtown“, der gleichnamigen Baumhaussiedlung im Hambacher Wald von Stephan Mörsch. Das Ausmaß der Baumhaussiedlung wird beim Anblick der Hängebrücke in Originalgröße aus dem Barrio „Oaktown“ im Hambacher Wald ersichtlich.
Elisa Promitzer: Was bedeutet Protest für Dich persönlich?
Stephan Mörsch: Grenzen ausloten. Ich bin sehr stolz auf die heutige Generation, weil sie out of the box denkt und sich traut, „Stopp“ zu rufen. Freiräume zu denken und umzusetzen – das ist Protest.
Leistest Du auch zivilen Ungehorsam?
Ich komme aus der Zeit der Postpunk-Bewegung und Hausbesetzungen – ich fühle mich im Protest zu Hause. Ohne diesen Hintergrund könnte ich meine Projekte nicht umsetzen. Ich bin noch immer aktiv und baue, nicht im Wald, aber teilweise bei anderen Aktionen mit. Es geht nicht mehr nur um Antifaschismus oder um selbstorganisierte Lebensformen. Was sich durch die Klimabedrohung auftut, stellt eine gesamtmenschliche Problematik dar.
Protestarchitektur findet man auch direkt vor der eigenen Tür: Die Lobau, ein als schützenswert ausgewiesenes Auengebiet in der Nähe von Wien, wird seit Langem von den Plänen der österreichischen Verkehrspolitik bedroht. Es wird bereits seit 1999 gegen die Lobau-Autobahn, die eine Untertunnelung des Naturschutzgebiets verlangt, protestiert. 2018 wurde das Bauprojekt genehmigt, worauf man mit Protestcamps an strategischen Orten reagierte. Am 1. Februar 2022 wurden die Bauwerke abgerissen und geräumt. Der abgestellte Bagger diente als eine Art Eingangstor zum besagten Protestcamp.
„Proteste müssen stören, sonst wären sie wirkungslos“, so die Kuratoren Oliver Elser und Sebastian Hackenschmidt. Wie passen Architektur und Protest zusammen?
Ich suche in allen meinen Projekten Architektur, die über soziale Krisen berichtet. Zum Beispiel gibt es aktuell einen Wald in der Türkei, der seit zwei Jahren besetzt ist. Das Problem ist ähnlich dem im Rheinland im Hambacher Wald: Bergbau und der damit einhergehende Umzug von Dörfern. Diese Menschen in der Türkei wissen genau, was im Hambi passiert ist. Insofern geht es darum, dass man voneinander lernt und Informationen weiterreicht. Natürlich darf man hierbei nicht vergessen, dass man das Privileg der Sicherheit und Meinungsfreiheit wie in Deutschland nicht weltweit genießen kann.
13 Protestaktionen zwischen 1830 und 2023 aus Ägypten, Brasilien, Deutschland, Hongkong, Indien, Österreich, Spanien, der Ukraine und den USA werden im MAK gezeigt. In Hongkong und bei „Occupy New York“ entstanden Zeltstädte, in Kiew wurde der Majdan zu einer Festung aus Barrikaden und in Delhi dauerte eine Autobahnblockade mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen, die zu Häusern umgebaut wurden, ganze 16 Monate.
Ich finde es gut, dass internationale Proteste gezeigt werden. Besonders faszinierend finde ich die Verschiebung der Ästhetik. Was mit einfachen Strukturen aus Plastik und Zelten begann, etabliert sich zu komplexen Architekturen.
In Hongkong kam es 2014 und 2019 zu zwei Protestperioden, in denen gegen den stark wachsenden Einfluss Chinas protestiert wurde. Zuerst sollte das allgemeine Wahlrecht eingeschränkt werden und 2019 plante die Stadtregierung ein Auslieferungsgesetz von Straftäterinnen nach China. Das Besondere an dieser Protestarchitektur ist das Zunutzemachen der modernen Großstadt. WLAN, gasbetriebene Generatoren, Lernräume, sanitäre Einrichtungen und öffentliche Verkehrsmittel etablierten sich zu stillen Hilfsmitteln. 2014 wurden 2.300 Zelte auf einer achtspurigen Straße im Central Business District von Hongkong aufgebaut, auch bekannt als „Umbrella Movement“. Das Erkennungszeichen der 2019er-Bewegung sind Minibarrikaden aus einzelnen Ziegelsteinen, um der Polizei die Durchfahrt zu erschweren. Außerdem versuchte man, mit Laserpointern die Überwachungskameras der Polizei zu blenden.
Dein Hängemodell des Barrios „Beechtown“ ist ein 1:10 maßstabgetreuer Nachbau der gleichnamigen Baumhaussiedlung, die im Zuge der Besetzung des Hambacher Walds entstanden ist. Aktivistinnen kämpften gegen den Braunkohleabbau und für die Erhaltung des Waldes. Für den Klimaschutz. Warum hast Du Dich dafür entschieden?
Als die Besetzung im Jahr 2012 begann, war mir bereits klar, dass diese Art des Protests bahnbrechend ist. Vor der Räumung im Jahr 2018 gab es im Hambi insgesamt zwölf Barrios, sprich kleine Dörfer. Das Besondere ist, dass die Aktivistinnen wortwörtlich in die Höhe gegangen sind. In dem Barrio „Beechtown“ haben nur drei Menschen gewohnt. Um die Komplexität dieser Architektur als Ganzes wahrnehmbar zu machen, eine Art Denkmal zu kreieren, beschloss ich, ein Modell davon zu bauen. „Beechtown“ ist aus einem Guss. Der höchste Punkt guckte oberhalb der Baumwipfel empor. Aber nicht alles ist positiv: In diesem Barrio starb leider auch der Journalist Steffen Meyn während der Räumung. Man merkt schnell, dass sich viel Geschichte hinter diesem Barrio versteckt.
„Atommüll? NEIN, DANKE“, dachten sich im Mai 1980 5.000 Atomkraft-Gegnerinnen. Sie besetzten ein Gelände in der Nähe von Gorleben, auf dem Tiefenbohrungen für ein geplantes Atommüll-Endlager durchgeführt werden sollten. Im Protestcamp „Republik Freies Wendland“ lebten 800 Menschen für 33 Tage in einer utopischen Alternativ-Enklave zusammen. Hütten und Türme wurden erbaut und ein eigener Radiosender und eine Einreisebehörde mit Passamt errichtet. Bewohnerinnen des „Dorfs 1004“ konnten sogar in einer Badewanne entspannen. Das Badewasser wurde mit einem kleinen Feuer unter der Wanne erwärmt, und man konnte auch dank selbst gebauter Solaranlagen mit warmem Wasser duschen.
Die Bäume fehlen bei Deinem Modell ...
... um den Fokus auf das Wesentliche zu legen. Der Maßstab 1:10 ermöglicht es mir, alles möglichst naturgetreu nachzubauen. Beton ist Beton, Holz ist Holz, Metall ist Metall. Selbst die Knoten sind realitätsgetreu. Ich habe ein dreidimensionales Knotenbuch kreiert, theoretisch eine Anleitung für die nächste Besetzung. Ich startete mit der Rekonstruktion 2018 nach der Räumung, als die Strukturen nicht mehr existierten, um der Öffentlichkeit und der Polizei keine internen Informationen ungewollt zuzuspielen.
Du bist Experte und beobachtest die Protestaktion im Hambacher Wald seit 2012. Wie hat sich der Protest entwickelt?
Ein Waldfest war die Initialzündung für die Besetzung. Die Pressefotos, die man vom Hambi kennt, haben nichts mit dem Beginn zu tun. Anfangs wollte man die Rodungspläne vom Energieversorgungskonzern RWE herausfinden, um strategisch jene Bäume zu besetzen, die als Nächstes gefällt werden sollten. Seit 2014/2015 fanden einmal im Monat sogenannte Waldspaziergänge statt, bei denen Menschen die Besetzerinnen im Hambi besuchten. Als Indigene aus Amerika ankündigten, den Hambi aufsuchen zu wollen, wurde mit viel Presse gerechnet und dementsprechend reagiert: Erstmals befestigte man Transparente mit Solidaritätsbekundungen mit den Kämpfen in Nord- und Südamerika auf zehn Meter Höhe. Also auch gut sichtbar für die Teilnehmenden der Waldspaziergänge. Diese Aktion brachte viel Aufsehen und zeigte das Wissen und den Willen zu Vernetzung mit internationalen Klimakämpfen.
Der letzte Rest des Hambacher Waldes ist gerettet, aber das nächste Problem nicht weit: Es verschob sich nur um etwa 40 Kilometer nach Lützerath. Wie zuvor geht es um den Braunkohleabbau. Als Reaktion folgte ein neues Protestcamp, das zwischen 2020 und 2023 errichtet wurde. Im Barrio „Fantasialand“ gab es neben vielen Pfahlbauten ein „Highpod“, das über Traversen mit mehreren Baumhäusern verbunden war. Die polizeiliche Räumung konnte so verzögert, aber im Vergleich zum Hambacher Wald schnell abgeschlossen werden. Ein während der Räumung entdeckter Tunnel, aus dem die beiden Aktivistinnen Pinky und Brain per Video berichteten, sorgte für den längsten Aufschub.
Der Protest bekam ein architektonisches Gesicht ...
... das noch für viel Aufmerksamkeit sorgen sollte. Das PR-Potenzial wurde erkannt und die eigenen „Baunormen“ dementsprechend verändert. Man verzichtete auf Plastik und versuchte, ästhetisch schöne Gebäude zu bauen. Erst jetzt begann man so schöne Baumhäuser zu bauen – der Traum eines jeden Kindes entpuppte sich als perfektes PR-Tool.Ein wichtiger Part waren auch die Brücken, die es ermöglichten, ohne Bodenkontakt von Baumhaus zu Baumhaus zu gelangen.
Damit begann regelrecht ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizistinnen und Aktivistinnen?
Anfangs wurde noch mit Lock-ons gearbeitet: also sich bei der Räumung an bestimmten Stellen anzuketten. Fortan flüchtete beziehungsweise kletterte man von der Polizei davon. Was in der Ausstellung gar nicht vorkommt, ist das komplexe Tunnelsystem, das im Hambi im Barrio „Oaktown“ errichtet wurde. Die Polizei konnte ihr schweres Räumgerät erst nach Aufgabe des Tunnels in diesem Barrio vollumfänglich einsetzen.
Bergbau wurde wortwörtlich mit Bergbau bekämpft?
Ja, genau! Die größte Effektivität liegt in der Tiefe und der Höhe. Die Hütten sind auf 18 und 21 Meter Höhe, die allerhöchste auf 26,3 Metern. Und der Ausguck, der noch über den Wald hinausragte, lag auf 40 Metern. Durch die Bewegungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Baumhäusern und Plattformen kam die Polizei mit ihrer Strategie, mit Hebebühnen zu operieren, an ihre Grenzen. Sie sind in dieses Barrio dreimal erfolglos zum Räumen vorgefahren und beim dritten Mal kam es zum schrecklichen Unfall vom Journalisten Steffen, der die Räumung eines benachbarten Baumhauses filmen wollte, dabei abstürzte und starb.
„Die größte Effektivität liegt in der Tiefe und Höhe!“
Zehntausende Farmerinnen vereinten sich im November 2020 auf den drei wichtigsten Zufahrtsstraßen von Delhi, um gegen drei Agrargesetze zu protestieren, die das Ende der Mindestpreise für Getreide bedeuten würden. Kilometerlange Protestcamps wurden errichtet, die sonst vielbefahrenen Autobahnen blockiert, Zelte aufgebaut und Anhänger und LKWs zu provisorischen Hütten umgebaut. Nach mehr als einem Jahr zeigte der zivile Ungehorsam seine Wirksamkeit: Der indische Premierminister zog im November 2021 die Gesetzesvorlage zurück. Die Farmerinnen konnten wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren.
Die Baumhaussiedlung ist architektonisch sehr beeindruckend. Wie ist sie entstanden?
Es gab keinen Bauplan und Material war Mangelware. Man band Bäume in Baumkronen fest, um eine Plattform zu generieren. Mit Stroh isolierte man Wände aus Paletten. Das war die Basis-Bausubstanz. Die Konstruktion der ersten Brücke ging von einem einzigen Menschen aus, der sein Wissen mit den anderen teilte. All das ist meistens nachts passiert, weil die Gefahr, tagsüber von der Polizei bei komplexen Bautätigkeiten auf dem Waldboden gestört zu werden, zu groß war.
Wie kommt man überhaupt in die Bäume?
Ganz oldschool mit Pfeil und Bogen. Man schießt ein Seil in die Baumkrone und beginnt zu klettern. Manche Menschen kletterten auch einfach so los – barfuß. Eine Brücke wurde sogar Einrad fahrend überquert.
Selbst bei Protestarchitektur gibt es eine Bauordnung: Polizistinnen dürfen ab einer Höhe von 2,50 Meter keine „unsicheren“ Oberflächen betreten.
Ich persönlich habe das noch nie gehört, aber es kann sein, dass einige Polizeitruppen diesen Befehl hatten. Ich denke, das ist Ermessensspielraum eines jeden Einsatzes. Deshalb kommen die zuvor erwähnten Hebebühnen zum Einsatz, ganz selten auch Helikopter.
Wie bist Du an die genauen Maße und Pläne gekommen, um ein Modell davon nachzubauen?
Zwei Wochen vor der Räumung bekam ich einen wichtigen Datensatz an Bildmaterial von Aktivistinnen. Menschen flogen mit Drohnen durch die Häuser. Ich rekonstruierte sogar den Teppichboden mitsamt seinen Kaffeeflecken. Ich hatte das große Glück, dass Besetzende während Corona mich in meinem Studio besuchten und viele meiner Wissens- und Verständnislücken füllten.
Bitte mehr Wald und weniger Fluglärm! Im Flörsheimer Wald südwestlich von Frankfurt am Main errichteten Menschen im Mai 1980 ein Protestcamp gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens auf der „Startbahn West“. Man versuchte, sich gegen die Rodung von 129 Hektar teils geschütztem Wald und die bereits erhebliche Fluglärmbelastung zu wehren. Das Hüttendorf mit teilweise mehr als 60 Bauten blieb fast eineinhalb Jahre standfest. Im Herbst 1981 nahte das Ende der Protestarchitektur: Ein massives Polizeiaufgebot räumte das besetzte Gebiet. Selbst ein Volksbegehren kurz danach wurde trotz 220.765 gesammelter Unterschriften abgelehnt.
Protestarchitektur spricht in Bildern. Welche Rolle spielt Social Media?
Ich selbst habe den Tod von Steffen live via Twitter mitbekommen. Ein trauriges, aber gutes Beispiel dafür, dass die sozialen Medien schon ein Tool sind, um den analogen Protest digital zu verbreiten und mit Emotionen und Informationen aufzuladen.
Wie wichtig ist Anonymität?
Viele leben unter einem Pseudonym, um im Falle einer Festnahme nicht geahndet werden zu können. Nach deutschem Gesetz muss man nach drei Tagen wieder freigelassen werden. Kein Name bedeutet keine Anzeige.
Wie zielführend war der Protest?
Der Hambi war auf mehreren Ebenen ein Erfolg. Vielleicht nicht für den Wald, denn auch, wenn hier Braunkohle nicht länger abgebaut werden darf, ist das Ökosystem kaputt. Aber RWE, die Firma, die bei uns die Löcher buddelt und ein Dorf nach dem anderen verschwinden lässt, bekam einen Dämpfer. Der Konzern hat sich sehr clever in diese ganze Region seit 1920 eingekauft, indem er zehn Prozent seines Erlöses pro Jahr an sämtliche lokalen Kräfte verteilte. Dass die Vorhaben von RWE nicht nur verzögert, sondern in diesem Fall gestoppt werden konnten, ist ein Gewinn für die ganze Region.
Die Protestarchitektur erreichte auch die USA: Im Herbst 2011 wurde für 60 Tage der Zuccotti Park im Finanzdistrikt von New York City besetzt. Man protestierte gegen die Auswirkungen der Weltfinanzkrise und gegen die Dominanz von Großunternehmen. Dementsprechend handelt es sich auch um einen eingeschränkten öffentlichen Raum, der im Privatbesitz eines Unternehmens ist. Was mit radikal offenen Strukturen unter freiem Himmel begann, entwickelte sich aufgrund von schlechtem Wetter zu einer Zeltstadt. Das Protestcamp von Occupy Wall Street etablierte sich zu einem Vorbild für globale antikapitalistische Bewegungen in rund 90 Ländern mit hunderten Camps.
Sekundenkleber ist ein Begriff, der aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist. Werden Körper zu Ziegelsteinen?
Nur so viel: Die Panik ist da und berechtigt. Aber ich finde, dass die sogenannte „Ende-Gelände-Bewegung“ zum Beispiel, die parallel und auch aktuell passiert – etwa in der Lausitz in den Braunkohlegebieten im Osten Deutschlands, mit ihren Aktionen ein stärkeres Bild kreiert: Tausende Leute in weißen Kleidern rutschen einen Abhang hinunter, inszenieren quasi eine Schlachtenszene zwischen den unschuldigen, friedlichen Weißgekleideten und den in Schwarz gekleideten Polizeikräften. Und das Ganze wird mit Drohnenaufnahmen eingefangen. Aber das ist eine ästhetische Frage. Mehr kann ich dazu nicht sagen – ich habe eine Privatmeinung zur Klimakrise, aber keine künstlerische.
Würden sich, wenn man Bier oder Schnitzel verbieten oder stärker versteuern würde, mehr Sympathisantinnen für den Protest finden?
Das ist ebenso eine Privatfrage: Bin ich Künstler oder Politiker? Aber auf den Hambi bezogen denke ich, dass eine große Menschenmenge den Protest begrüßte. Anfänglich besuchten circa 20 Leute jeden Sonntag den Hambi. Es endete in einer Demonstration von 50.000 Leuten. Das bedeutet, der Support vor Ort war und ist noch da. So auch in Lützerath, wo der Protest sogar im Winter begann. Die Menschen, die das Ausmaß, ein sechs mal acht Kilometer großes und 550 Meter tiefes Loch, live sehen, erkennen den Ernst der Lage.
Der Protest findet auf der Straße statt, ihre Kunst im Museum. Ist das Museum, der Ort des Establishments schlechthin, der richtige Ort, um Protestarchitektur auszustellen?
Natürlich, mein Ziel ist: vom Wald ins Museum. Nicht ich als Künstler stehe im Fokus, sondern der Protest und die Personen, die ihn aktiv führen. Aktivistinnen sind bei den Pressekonferenzen, wie hier in Wien, dabei. Die Mitnahme der Originalbrücke ist ein weiteres gutes Beispiel. Es geht um die Einnahme von Raum im Kontext von Protest. Es geht um unterschiedliche Protestformen, ihre Architektur, Strategien und Methoden. Worum es nicht geht, ist Politik.
Können Ausstellungen über Protest wirklich unpolitisch sein?
Rechte Protestierende bauen tendenziell auch weniger. Zum Beispiel gibt es im Osten von Deutschland einige Dörfer, die von rechten Kräften aufgekauft wurden. Da werden lieber ganze Bauernhöfe erworben, anstelle dass etwas Neues gebaut wird. In Deutschland hat man zwar die AfD, die auf lokaler Ebene versucht, in die Kulturpolitik einzugreifen, aber das steht noch am Anfang. Ein Spielraum ist noch vorhanden. Dazu kommt, dass die Kunst im Rheinland schon immer sehr politisch war. Als ich jung war, gab es autonome Zentren für Kunstförderungen. Die Tradition für linke Inhalte ist da! Diese sind oft einfach intelligenter, lebensbejahender und bunter.
„Abseits der kapitalistischen Realität existieren“
Auch in Kiew kam es im Dezember 2013 zunächst zu kleinen Protesten am symbolträchtigen Majdan Nesaleschnosti („Platz der Unabhängigkeit“). Eine breite, von unterschiedlichen politischen Richtungen getragene Protestbewegung vereinte sich und errichtete ein Protestcamp mit Tausenden Besetzerinnen. Mit Barrikaden aus Paletten, Sperrmüll und Autoreifen versuchte man, sich vor Angriffen der Polizei zu schützen.
Die Besetzung ging über zehn Jahre. Waren manche Menschen dauerhaft dort?
Das war individuell. Unabhängig davon, wie lange man dort war, entzog man sich in jener Zeit der bürgerlichen Existenz.
Verschwendete Jahre?
Ja, aber im positiven Sinne. Sie haben die Systemfrage erfolgreich gestellt und abseits der kapitalistischen Realität existiert. Das Interessante ist, dass Leute aus den unterschiedlichsten Verhältnissen aufeinandergestoßen sind. Arm traf auf großbürgerlich. Man muss sich diese „verschwendete Zeit“ auch leisten können, sowohl mental als finanziell. Es sind viele Spenden geflossen, um das zu ermöglichen.
Wie war die Reaktion der Aktivistinnen auf Dein Modell?
Es flossen Tränen. Sie haben es selbst gebaut, es war ihr Zuhause. Vom einen auf den anderen Tag wurde dieses abgerissen. Sie glaubten, es nie wiederzusehen.
Der deutsche Künstler Stephan Mörsch (1974) lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Bildende Kunst, Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literatur und Vergleichende Religionswissenschaften und kommt aus dem Rheinland, quasi direkt aus einem dieser Tagebaulöcher. Bereits als Kind ließ er sich von Modellbauten in Museen begeistern und fand in seiner Karriere später selbst zu dieser Kunstform. Zu Beginn seiner Tätigkeit hat er hauptsächlich gezeichnet. Seine Werke wurden in unterschiedlichen Museen und Galerien, unter anderem im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, im Museum für Gegenwartskunst Siegen, im Kunstmuseum Bonn, im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main und im MAK in Wien gezeigt. Von 2012 bis 2018 unterrichtete er als Professor und Lehrbeauftragter für Raumstrategien an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin.