Der Schönschreiber

Die Psychologie der Schrift

Für die meisten Menschen endete der Schreibunterricht mit dem Abschluss der Volksschule, nicht aber für Giovanni de Faccio. Er beschäftigt sich seit über dreißig Jahren mit der Kunst des Schönschreibens, der Kalligrafie, die im Islam als Königin der Künste gilt. Als Dozent an der New Design University in St. Pölten lehrt de Faccio diese Kunst. Wie verändert Schrift den Inhalt eines Wortes und letztendlich uns? Ein Gespräch über die Golden Fifties, geschmacklose Milchverpackungen und Unterschriftenfälschung

„Kalos heißt ,schön‘ und Grafos bedeutet ,Schreiben‘.“

Schriftpsychologinnen sagen, unsere Schrift zeigt unsere Persönlichkeit. Die Buchstaben warmherziger Menschen seien tendenziell nach rechts geneigt, die von verschlossenen Menschen tendenziell nach links. Würden Sie diese These unterschreiben?

Durchaus, man muss viel Erfahrung haben, um den Charakter einer Person durch seine Schrift erkennen zu können. Hundertprozentig wird es mit Sicherheit nicht gelingen, aber natürlich: Schriftgröße, deren Neigung, Form und Druck können etwas über die schreibende Person aussagen.

Sie sind zwar kein studierter Schriftpsychologe, aber würden Sie so nett sein, meine Handschrift zu analysieren?

An Ihrer Schrift kann man erkennen, dass an Ihrer Volksschule gerne geschrieben und das Schreiben relativ gut gelehrt worden ist. Die Kursivschrift wurde Ihnen offensichtlich noch beigebracht, seit 2017 ist sie nämlich nicht mehr Pflicht im Unterricht. Ich finde ja, das ist eine Katastrophe, denn die Kursivschrift ist die Brücke zu unserer Persönlichkeit. Aber zurück zu Ihrem Text: Die Formen sind meistens verbunden, was heißen kann, dass Sie eine dynamische Persönlichkeit sind. 

Das ist ja mal was Positives!

Sie sind wahrscheinlich eine aktive Person und keine, die sitzt und abwartet. Darauf deutet auch hin, dass die Schrift stark nach rechts geneigt ist, sie rennt praktisch zum Seitenrand, ebenso neigt sie sich nach vorne – Neugier ist bei Ihnen also auch ein Thema. Da die Schriftlinien nicht ganz perfekt sind, würde ich sagen, sie begegnen dem Leben grundsätzlich mit Freude.

„Wenn ich genervt bin, ist meine Schrift schrecklich. Es kommt darauf an, wie der Mond steht.“

Das höre ich gerne. Wie schaut der Arbeitsalltag von Kalligrafinnen im Jahr 2020 aus? Tusche auf Pergamentpapier, eine Kerze im Vorder- und eine Eule im Hintergrund?

Um die grundlegende Arbeit eines Kalligrafen zu verstehen, hilft es, den Begriff „Kalligrafie“ nachzuschlagen: Kalos bedeutet „schön“ und Grafos heißt „das Schreiben“. Jedes Mal, wenn Kalligrafen eine Feder in der Hand halten, haben sie es also mit Schönheit zu tun. Das genieße ich.

Wie sieht Ihre Handschrift aus, wenn Sie einen banalen Einkaufszettel schreiben?

Das kommt darauf an, wie der Mond steht (lacht). Ich bin sehr launisch und habe daher sehr unterschiedliche Handschriften. Wie sie aussieht, hängt davon ab, wie es mir gerade geht. Wenn ich genervt bin, ist meine Schrift schrecklich, oft kann ich dann meinen Text selbst schwer lesen. Habe ich hingegen Muße, achte ich ein bisschen mehr auf die Form meiner Schrift. Das liegt wohl an meiner Arbeit als Kalligraf.

Zurückblickend auf eine grundlegende Übung des Schriftdesigns, die fast jede Erwachsene hinter sich hat: Wie ist Ihre Unterschrift entstanden?

Fast jeder erlebt die Phase, in der man versucht, die Unterschrift von bewunderten Freunden oder der Eltern zu imitieren. Anfangs habe ich mich stark an der Unterschrift eines Lehrers orientiert. Mittlerweile habe ich natürlich zu meiner eigenen gefunden. Ich habe sie nicht gestaltet, sie ist mit der Zeit entstanden und kommt von Herzen. Die erste Unterschrift, die ich unter ein Dokument gesetzt habe, war aber nicht meine eigene, sondern die meiner Mutter. Ich habe sie gefälscht, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Das ist ein Klassiker, glaube ich. 

„Meine erste Unterschrift war die meiner Mutter.“

Allerdings! Wie sind Sie zur Kalligrafie gekommen?

Eigentlich bin ich gelernter Elektrotechniker. Das mit der Kalligrafie war wie mit der ersten Liebe, man weiß nie, wann es genau so weit sein wird. Es passiert einfach. Das erste Mal war in Venedig. Ich nahm in einem Kurs für Kalligrafie eine Feder in die Hand. Das klingt vielleicht kitschig, aber es war Leidenschaft auf den ersten Blick. Als ich diese Feder in der Hand hatte und anfing Buchstaben zu gestalten, vergaß ich die Zeit. Das ist zum Glück immer noch so: Wenn ich schreibe, bin ich nur scheinbar anwesend, in Wirklichkeit bin ich immer zwei Zentimeter neben mir.

Sie sind vor über 30 Jahren aus Italien nach Österreich gezogen. Was hat Sie hierher geführt?

Die Liebe! Was sonst? Ich habe in Italien eine Österreicherin kennen gelernt und bin wegen ihr hergezogen. In den ersten zwei Jahren habe ich mich damit beschäftigt, Deutsch zu lernen, danach hatte ich keine Ausrede mehr, nichts zu machen. Ich musste mir einen Job suchen. Das war im Jahr 1995, als man noch Telefonbücher benutzte.

Hat Ihnen das Telefonbuch weitergeholfen?

Ja, ich habe in den Gelben Seiten die Adressen von Grafikschulen in Österreich rausgesucht und ihnen kalligrafisch gestaltete Briefe geschrieben, mit der Frage, ob Sie Interesse hätten, mehr von meinen Arbeiten zu sehen. Innerhalb von drei Tagen hat mit der Direktor einer privaten Grafikschule im niederösterreichischen Pöchlarn geantwortet und geschrieben „Giovanni, komm zu uns, zeig uns, was du machst!“ Das war mein erstes und bisher einziges Bewerbungsgespräch – der Start meiner Karriere als Kalligraf in Österreich.

„Es war Leidenschaft auf den ersten Blick!“

Ihr Lieblingsbeispiel aus der Geschichte der Kalligrafie?

Mich begeistert, welche Materialien früher zum Schreiben verwendet wurden. Man schrieb etwa mit Gänsefedern auf Tierhaut. Texte zu lesen, die so entstanden sind,  und diese Materialen selbst mal auszuprobieren, ist sehr faszinierend. 

Hatten Sie jemals die Nase voll vom Schönschreiben?

In einer zurückliegenden Krisensituation meines Lebens hatte ich tatsächlich große Schwierigkeiten, mit Schrift zu arbeiten, obwohl ich damit schon seit Jahrzehnten mein Brot verdiente. Zu jener Zeit hat mich dann aber ein italienischer Industrieller kontaktiert. Er hatte eine meiner Arbeiten in einem Magazin entdeckt. Das war ein Stein, in den ich Schrift gemeißelt hatte. Er fragte mich, ob ich eine Projektidee von ihm realisieren wolle. Ein Buch mit 37 lateinischen und italienischen Texten von Autoren wie Vergil. Das Buch sollte exakt so hergestellt werden, wie es zu Lebzeiten dieser Autoren üblich war, nämlich auf Pergament mit selbst gemischten Farben. 

Das war sicher unglaublich aufwendig!

Für mich galt: Wenn wir jemanden finden, der das finanziert, kann ich das machen. Warum nicht? Und seine Antwort damals: „Dann starten wir!“ Anfangs hatten wir ein Jahr für dieses Projekt eingeplant, am Ende sind es fünf Jahre geworden. Ich habe das Buch nicht nur gestaltet, sondern auch Forschungen angestellt, wie und mit welchen Farben die Texte dieser Autoren damals entstanden sind. Dabei herausgekommen ist eine Art Katalog, der etwas über 2.000 Jahre Schriftgeschichte erzählt.

Wir sind überall umgeben von Schrift: Sie befindet sich auf Lebensmittelverpackungen, auf Werbebannern, im Internet, in Magazinen und auf Straßenschildern. Welche Schrift hat Sie am meisten berührt?

Mich berühren antike – römische oder in Holz geschnittene – Schriften. Ein Beispiel dafür ist das Buch „La Operina“ aus dem Jahr 1521 des Kalligrafen Ludovico Vicentino degli Arrighi. Er hat jede Seite mit Holzschnitt gedruckt. Ich kann mich aber auch sehr ärgern über Schriften. Eine Milchverpackung auf dem Frühstückstisch hat mich mal so geärgert, dass ich diese Marke nie mehr gekauft habe. Dabei war die Milch gut. Aber die Schriftformen und die Schriftanwendung auf der Packung waren zu hässlich.

Times New Roman, Cambria, Calibri: Wenn Sie einen Text in Word schreiben, was verwenden Sie?

Keine davon! Ich bin auch Typdesigner und verwende am liebsten meine eigenen Schriften. 

Eine Ihrer bekanntesten Typos, die Sie gemeinsam mit Lui Karner entwickelt haben, heißt Rialto.df. Wieso?

Rialto ist bekanntlich eine Brücke in Venedig, der Stadt unweit meines Geburtsortes. Ich bin, wenn man so sagen will, fast ein Venezianer. Mein Partner Lui Karner war aus Österreich, unsere Großeltern hätten sich rein theoretisch gegenseitig erschießen können im Zweiten Weltkrieg. Wir wollten mit dem poetischen Namen sozusagen eine Brücke zwischen den Nationen schlagen. 

Im Februar halten Sie einen „Sign Painting Workshop“ an der New Design University, bei dem Vintage-Schriften aus der US-amerikanischen Werbung der 50er-Jahre gestaltet werden. In diesem Jahrzent erlebte die USA einen Wirtschaftsboom. Wie spiegeln sich die „Goldenen Zeiten“ Amerikas in diesen Schriften wider?

Grafiker sagen zu ihnen „plakative Schriften“ und meinen damit Typos, die „laut“ sind. Sie sind in den vergangenen Jahren in Europa oft kopiert und imitiert worden. Ich habe die Geschichte dieser Schriften recherchiert und viele Stunden im Internet damit verbracht, amerikanische Werbeplakate aus den 50er-Jahren anzuschauen.

Was haben Sie entdeckt?

Es ist unglaublich, was in Amerika zu dieser Zeit möglich war. Auf einem Plakat sieht man eine glückliche Familie unter einem Weihnachtsbaum, jeder mit einer Waffe in der Hand. Ich war schockiert und dachte mir „Was soll das?“ Eine Werbung des Waffenhandels! Heute in dieser Form – zumindest in Europa – undenkbar. Und um etwas zu verkaufen, waren alle Mittel erlaubt, es galt in jedem Fall lauter zu schreien als die Konkurrenz.

„Das Synchronisieren der Atmung verbessert das Schreiben.“

Am Beginn Ihrer Kurse machen Sie mit ihren Schülerinnen Atemübungen, damit der Körper sich beruhigt. Kann eine gute Schrift nur mit einem entspannten Körper gelingen?

Das Synchronisieren der Atmung mit der Bewegung verbessert bei vielen Sportarten die Leistung. Das funktioniert auch beim Schreiben, wenn man den eigenen Atem mit dem Rhythmus der Schrift kombiniert. Jeder Mensch ist ein Instrument, und unser Herzschlag ist unser Metronom, den wir durch unsere Handschrift in eine Form gießen können.

Der Großteil der schriftlichen Kommunikation läuft heute über Computer und Mobiltelefone. Die Schriftarten sind vorbestimmt, wir entscheiden digital meist nicht selbst, wie Wörter und Sätze ausschauen. Wie verändert in einer digitalen Welt die Schrift das Wort?

Schrift kommuniziert nicht nur Inhalte, sie ist auch Teil unserer Identität. Gratulieren mir etwa online hunderte Personen zum Geburstag, tun sie das alle in derselben Schrift. Würden sie mir eine Karte schreiben, würde ich auch ohne ihren Namen erkennen, wer sie geschrieben hat, obwohl die Worte dieselben sind. 

Was vermissen Sie am Süden?

Das Essen, die Wärme, das Licht. Am meisten vermisse ich es, mit meinen wenigen, aber guten alten Freunden vor einem Teller Spaghetti und bei einem guten Glas Wein zu sitzen und miteinander zu blödeln.

Danke für das Interview!

Der internationale Kalligraf und Typedesigner Giovanni de Faccio ist 1966 in Italien geboren und lebt in Österreich. Er ist Mitgründer der Associazione Calligrafica Italiana. Seine bekannteste von ihm entwickelte Schriftfamilie ist die Rialto.df. 1999 erhielt er dafür den Deutschen Preis für Kommunikationsdesign. 2002 wurde er mit dem Certificate of Excellence in Type Design vom Type Directors Clubs, New York geehrt. An der New Design University in St. Pölten lehrt er seit 2004 die Kunst des Schreibens.

Der Drucker

Text: Antje Mayer-Salvi

Robert Plaschko in der Druckerei

Die Österreichischen Lotterien, politische Parteien, kleine kreative Agenturen und große Wiener Kunstinstitutionen – sie alle vertrauen ihr, wenn es ums Drucken geht. Robert Plaschko leitet eine der größten Druckereien des Landes, die Print Alliance, die in drei Schichten ihre Maschinen praktisch permanent am Laufen hält. Wir besuchten das Werk in Bad Vöslau bei Wien. Ein Gespräch über veganes Papier, den Super-GAU und die Frage, warum Druckerinnen eine gute Nase brauchen.

Die CIN CINs

Text: Antje Mayer-Salvi, Fotos: David Meran

Jasmin Roth und Stephan Göschl sind Gestalterinnen mit Haut und Haaren. 2015 gründeten sie CIN CIN, ein multidisziplinäres Designbüro in Wien, das sich auf Motion-, Print- und Webdesign spezialisiert hat. Wir diskutierten mit ihnen darüber, ob man Österreich die Sahelzone des guten Geschmacks nennen darf und was Torten-Toppings mit Typo zu tun haben.

Jasmin Roth und Stephan Göschl

Die Daten-Virologin

Text: Viktoria Kirner

Martina Lindorfer eingekleidet von Ferrari Zöchling

Apps, die unbemerkt Screenshots von Chatverläufen machen, Passwörter die geleakt werden, und Daten, die man an Dritte verkauft: Die Wiener Sicherheitsforscherin Martina Lindorfer beschäftigt sich mit solchen – für Laiinnen nur schwer nachweisbaren – Angriffen auf unsere Privatsphäre. Für ihre Arbeit im Bereich der Erkennung und Abwehr von Schadprogrammen auf mobilen Geräten erhielt die ehemalige Hackerin den Hedy Lamarr Preis der Stadt Wien. Wir trafen sie zum konspirativen Gespräch nebst Selbstversuch, eingekleidet in Mode von Ferrari Zöchling und abgelichtet von der Fotografin Anna Breit.