Der Stylo d'amour

Die geschminkte Wahrheit

Ende des 19. Jahrhunderts seiner Penisform wegen Stylo d’amour oder Saucisse, Würstchen, genannt, erregte der Lippenstift heftig die biederen Gemüter, um später zum Symbol der Frauenemanzipation zu avancieren. Ein magisches Objekt, umso mehr in pandemischen Zeiten von Zärtlichkeits- und Kussverbot, das die österreichische Künstlerin Selina de Beauclair zu ihrer Fotoserie Partialobjekte inspirierte.

Text: Eva Holzinger, Artwork: Selina de Beauclair

„Wer Lippenstift trägt, ist bereits geküsst.“

Eva Holzinger: Was fasziniert Dich am Objekt „Lippenstift“?

Selina de Beauclair: Lippenstifte faszinieren mich wegen ihrer Doppeldeutigkeit: Sie stehen für Verschwendung, Maskierung und Schönheitsdiktatur, aber auch für weibliche Selbstermächtigung und individuellen Ausdruck. Der Lippenstift ist provokant, sinnlich, Symbol des Kampfes und der Revolution. Er polarisiert, das macht neugierig und zwingt zum genauen Hinsehen. Genau solche Polaritäten will ich in meinen Arbeiten auflösen: Ein Changieren zwischen Genießen und Begehren, Stärke und Fragilität, Anziehung und Ekel.

Hast Du einen Lieblings-Lippenstift?

Auf den Fotos erkennt man meine Lieblinge daran, dass sie besonders zugerichtet sind. Für mich sind diese Lippenstifte zu Skulpturen gewordene Plastiken. Eine Plastik entsteht ja durch das Antragen von weichem Material von innen nach außen, eine Skulptur durch Abschlagen und Wegschneiden – nur, dass die Funktion von Hammer und Meißel von meinen Lippen übernommen wurde, über viele Jahre und ohne Absicht, aber wohl nicht zufällig. Mich interessiert diese Umformung durch das Benutztwerden, eine poetische Einschreibung. 

„Ein magisches Objekt.“

Kannst Du diese poetische Einschreibung etwas genauer erklären?

Der Lippenstift ist das intimste Schmink-Element und kommt einer Frau viel näher als Crémes, Lotionen oder ein Duft. Man hinterlässt Spuren an Menschen oder Gläsern damit, ein Teil davon landet durch Lippenlecken oder beim Essen im Magen. Beim Auftragen streichelt man sich selbst, es ist eine zärtliche, intime Geste. Darin liegt für mich die Poesie.

„Verschwendung, Maskierung, weibliche Selbstermächtigung.“

Warum trägt Deine Fotoserie den Titel „Partialobjekte“?

Mit dem Begriff „Partialobjekte“ hat die bekannte österreichisch-britische Psychoanalytikerin Melanie Klein eine Lust beschrieben, die sich nicht auf ein komplettes Objekt, sondern einen Teil davon richtet: Die Brust, den Phallus, die Stimme. Auch in diesem Projekt steht ein kleiner Gegenstand für etwas sehr viel Größeres, von dem eine enorme Energie und Anziehungskraft ausgeht. Ein magisches Objekt, an das gewisse Phantasien geknüpft werden, das begehrt und geliebt wird. Und das, obwohl es sich lediglich um einen Brei aus Wachs, Öl, Weichmacher und Farbpigmenten handelt. 

„Roten Lippen, verweisen auf die Vulva.“

Beim Anblick der Lippenstifte ist ein gewisser phallischer Stolz nicht wegzudenken… der Lippenstift als Mini-Phallus ist aber hoffentlich nicht alleiniger Grund für unsere Faszination.

Der Lippenstift ist ein erotisches Symbol mit doppelter sexueller Konnotation: Form und Funktion – inklusive der Möglichkeit ihn ein- und auszufahren – machen ihn zu einem handlichen und stets verfügbaren Mini-Phallus, der bei jeder Benutzung abgetragen wird und letztlich ersetzt werden muss. Der geschminkte Mund, die roten Lippen, verweisen auf die Vulva.

Berührung und Zärtlichkeit sind aufgrund der Pandemie außerhalb von romantischen Beziehungen rar geworden, der Mund, den wir hinter Masken verstecken, ist Symbol der Ansteckung geworden....

Das stimmt, allerdings geht es beim Tragen von Lippenstift im Unterschied zu anderer dekorativer Kosmetik aber vielleicht gar nicht so sehr darum, geliebt, geküsst oder berührt zu werden. Vielleicht geht es vielmehr darum, gehört zu werden. Denn wer Lippenstift trägt, ist bereits geküsst. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview ist in der Printausgabe 4/2021 „The Wasted Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.


Für dieses Projekt hat Selina de Beauclair (*1974) ausschließlich ihre persönlichen Lippenstifte fotografiert.  Sie lebt und arbeitet in Wien und im Burgenland. Sie hat mediale Kunst und Fotografie an der Universität für angewandte Kunst Wien studiert und Soziologie, Philosophie, Psychoanalyse und Cultural Studies an der Universität Wien. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Sie ist Mitbegründerin des Künstlerateliers Kombinage im 5. Wiener Bezirk. Selinas Vater Conny ist in der Wiener Kunst- und Kulturszene bekannt: Er war Türsteher des legendären Nachtclubs U4 und ist Fotograf.

Die Ordensschwester

Text: David Meran

Die dicken Wände des Klosters Kirchberg in Niederösterreich stammen aus vergangenen Jahrhunderten, doch nicht die Schwestern, die darin leben. Wir fragten eine, die es wissen muss: Ordensschwester und Psychotherapeutin Teresa Hieslmayr gibt unorthodoxe Antworten auf komplizierte Fragen. Was theologischer Umweltschutz bedeutet, wie Gott während der Corona-Krise helfen kann, und warum billiges Schweinefleisch Sünde ist. 

Verschwendet Euch!

Text: Lara Ritter, Antje Mayer-Salvi, Fotos: Rafaela Pröll, Make-Up: Nico Pessl-Jaritz, Stylist: Simon Winkelmüller

In Ischgl feiern Ski-Touristinnen Corona-Partys vor der ruinierten Berglandschaft, die Meere gehen über die Ufer, das Virus über die Welt, alle isoliert und Greta weint. In einer Welt, in der alles im Überfluss vorhanden ist, in der ausufernder Konsum Natur und Gesundheit zerstört, ist die Verschwendung in Verruf geraten: Marie Kondōs Aufräumarmee, Minimalismus, Selbstoptimierung und ein neuer Moralismus haben ihr den Kampf angesagt. Aber brauchen wir Menschen nicht die Verausgabung zum Glück, das Miteinander im Fest und den rituellen Exzess? Wir haben sechs beeindruckende Persönlichkeiten danach gefragt, welchen Platz die Verschwendung in ihrem Leben einnimmt. 

Der Explosive

Text: Antje Mayer-Salvi, Fotos: Miro Kuzmanovic

Der Schweizer Roman Signer (*1938) ist einer der bedeutendsten europäischen Künstler der Gegenwart. Seine Werke sind prozessuale Skulpturen von bizarrer Ästhetik, Poesie und Humor, Ergebnis penibelster Planung und unberechenbaren Zufalls. Signer und seine Frau Aleksandra empfingen uns in ihrem Atelier in St. Gallen. Wir sprachen über die Kindheit, Scham, Freude und seine Lust an der Pyrothechnik.

Der Kitsch

Text: Paula Pankarter, Artwork: Ernst Miesgang   

Wer sich mit dem Schönen befasst, stolpert schon mal schnell in die Kitsch-Ecke. So auch der österreichische Künstler Ernst Miesgang, der sich des Themas mit „kreativ-ironischer Aggression“ annimmt. Beim Anblick von Nippes packt ihn die Zerstörungswut. Für seine Serie „Shattered“ hat der Künstler kitschige Keramik und Porzellanfiguren zerschmettert und die Scherben zu eigenständigen Plastiken neu zusammengesetzt. Aber was ist das überhaupt – Kitsch? Und wofür brauchen wir ihn?