Unser Konsum hat ein krankhaftes Ausmaß erreicht. Der Berliner Carl Tillessen ist Berater, Autor und Trendanalyst.Seit einiger Zeit verfolgt er die Entwicklung unseres Kaufverhaltens. 2020 hat er ein kritisches Buch zum Thema veröffentlicht. Mit uns spricht er über die Auslöser von Impulskäufen, ein System des Wegschauens und die virale Macht von absurden Produkten.
Illustrationen sind von Emma Peinhopf & Linda Zimmermann. Wenn wir eine Hose anprobieren: wir drehen uns und schauen, sitzt sie? Ist es ein robustes Material? Wie kann ich sie kombinieren? Wie viel kostet die? Eine faire Produktion ist wohl vielen wichtig, aber im Moment des Anprobierens sind auch hundert andere Sachen wichtig.
Emma Peinhopf, Linda Zimmermann: Wann haben Sie sich das letzte Mal etwas Unnötiges gekauft?
Carl Tillessen: Das ist ehrlich gesagt gar nicht so lange her. Ich habe mir tatsächlich eine – Achtung Klischee! – Duftkerze gekauft, die ich ja eigentlich gar nicht brauche. Wobei man sagen muss, dass „brauchen“ ein sehr dehnbarer Begriff ist. Ich gebrauche die Duftkerze zwar, aber wenn ich nicht gewusst hätte, dass es sie gibt, würde sie mir nicht fehlen.
Sie sind Unternehmensberater und schreiben ein kritisches Buch über Konsum. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren?
Das habe ich mich selbst auch gefragt. Am Ende sind wir alle Konsum-Opfer und Konsum-Täter gleichzeitig. Wir alle möchten weiterhin auf all das hier (zeigt auf Gegenstände in seinem Zimmer) nicht verzichten und trotzdem ein einigermaßen gutes Gewissen haben. Da sollten alle ihre eigene Balance finden.
„Es ist ein System des Verdrängens, des Nicht-wahrhaben-Wollens.“
„Es ist noch eine relativ neue wissenschaftliche Erkenntnis, dass bei Lustkäufen in unserem Gehirn die gleichen biochemischen Prozesse in Gang gesetzt werden, wie wenn man Kokain oder Amphetamine zu sich nimmt.“
Wenn es diese Fronten nicht gibt, ist es dann überhaupt noch plausibel, immer diejenigen zu beschuldigen, die an der Spitze von Unternehmen sitzen?
Ich glaube, man kann es gut als System des Wegschauens beschreiben. Eine gefälschte Bescheinigung über die Einhaltung von Mindeststandards bei der Produktion geht oft durch zehn Hände, und niemand hinterfragt, ob das wirklich stimmt. Auch die Konsumentin will es häufig gar nicht so genau wissen, obwohl sie ahnt, dass etwas nicht stimmt. Man glaubt lieber das, was man glauben will: „Irgendwer wird das schon kontrolliert haben.“ Es ist ein System des Verdrängens, des Nicht-wahrhaben-Wollens und des Nicht-wissen-Wollens, weniger ein System von Personen, die bewusst sagen: „Es ist mir egal, dass Kinder meinen Kakao ernten, Hauptsache ich spare Geld.“
In der Theorie ist man immer bereit, für ein fair produziertes Produkt mehr zu zahlen. In der Praxis tut man es aber nicht. Warum?
Das ist auch eine ganz zentrale Frage in meinem Buch. Warum verhalten wir uns nicht so, wie wir uns verhalten sollten, und noch nicht einmal so, wie wir uns verhalten wollen? Das hat viele Gründe. Wenn wir zum Beispiel eine Hose anprobieren: Macht die fett? Sitzt sie? Wie viel kostet sie? Ähnlich ist es im Internet: Wir browsen durch diese Welt von Onlineshops und plötzlich poppt etwas auf und dann schlagen wir zu. Hinzu kommen auch psychologische Verdrängungsmechanismen. Wobei Verdrängung noch ein zu schwaches Wort ist. Denn neuere Studien haben gezeigt, dass wir bestimmte negative Informationen zu einem Produkt unwiderruflich löschen. Das ist ein Mechanismus, mit dem wir unser glänzendes Selbstbild aufrechterhalten, weil wir uns selbst nicht eingestehen können, wie schädlich unser Handeln eigentlich ist.
„Wenn wir unsere Lustkäufe – also all das, was wir uns gönnen – auf Social Media teilen, dann haben wir beides gleichzeitig: die Dopaminausschüttung durch Konsum und zusätzlich die durch die Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung.“
Was passiert in unserem Körper, wenn wir konsumieren?
Es ist noch eine relativ neue wissenschaftliche Erkenntnis, dass bei Lustkäufen in unserem Gehirn die gleichen biochemischen Prozesse in Gang gesetzt werden, wie wenn man Kokain oder Amphetamine zu sich nimmt. Wie bei der Sucht nach psychoaktiven Substanzen ist auch bei einer solchen Verhaltenssucht die einzige Möglichkeit, das ursprüngliche Hochgefühl erneut zu erleben, die Dosis des Erlebnisses zu erhöhen. Denn die für die Dopaminproduktion zuständigen Gehirnregionen stumpfen ab und reagieren nur noch, wenn sie überstimuliert werden. Um den Dopaminspiegel zu halten, erhöhen wir dann nicht nur die Größe, sondern auch die Frequenz unserer Einkäufe.
„Je bescheuerter ein Produkt ist, desto mehr virale Kraft besitzt es.“
Wir driften und browsen durch die Welt der Onlineshops, plötzlich poppt etwas auf, zu einem Preis, den wir uns leisten können und wir schlagen zu.
In Ihrem Buch machen Sie auch die Digitalisierung für das Ausmaß unseres Konsums verantwortlich. Warum?
Die Globalisierung hat uns durch die Möglichkeit, in Billiglohnländern zu produzieren, niedrige Preise beschert. Diese niedrigen Preise ermöglichen uns den süßen Luxus regelmäßiger Lustkäufe. Die Digitalisierung hat zusätzlich Plattformen geschaffen, auf denen wir uns in Form von Klicks und Likes unsere tägliche Dosis Aufmerksamkeit und Anerkennung abholen können. Wenn wir unsere Lustkäufe – also all das, was wir uns gönnen – auf Social Media teilen, dann haben wir beides gleichzeitig: die Dopaminausschüttung durch Konsum und zusätzlich die durch die Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung. Diese doppelte Dosis Dopamin wollen wir uns natürlich immer wieder geben.
Was sagen Sie zu wish.com, einer Plattform, auf der Online-Shops aus aller Welt ihre Produkte günstig verkaufen. Die meisten Anbieter kommen aus China?
Wish ist ein perfektes Beispiel dafür, wie die Digitalisierung unseren Konsum befeuert. Das Angebot von Onlineshops wie Wish ist für mich besonders bedenklich, weil es eben Trash ist. Das Netz schafft es, in uns das Bedürfnis nach den sinnlosesten Produkten zu wecken, von denen wir gar nicht wussten, dass sie überhaupt existieren, und die uns nie gefehlt haben. Sei es eine Burritodecke, ein Regenschirmhut oder eine Gesichtsbandage für unser Doppelkinn. Je unvernünftiger, absurder und bescheuerter ein Produkt ist, desto mehr virale Kraft besitzt es. Natürlich postet man nicht den Staubsaugerbeutel, den man sich gekauft hat. Man postet das, was man eigentlich nicht braucht. Wie zum Beispiel das aufblasbare Einhorn.
Welche Rolle spielen dann noch lokale Geschäfte, wenn man alles auch online kaufen kann?
Viele marktführende Konzerne erhalten große Stores, in welchen sie ausschließlich ihre eigenen Produkte anbieten. Ihnen kann es egal sein, ob man diese Produkte tatsächlich dort kauft oder im Nachhinein im Onlineshop bestellt. Sie erschaffen Erlebniswelten, sogenannte Flagshipstores und Monobrandläden, und halten sie weiterhin aufrecht, obwohl diese überhaupt nicht mehr rentabel sind. Für die Marken ist das eine langfristige und essentielle Investition in die Kundenbindung.
„Wir sind evolutionär darauf programmiert, uns alles, was knapp ist, erst einmal zu sichern.“
Durch künstliche Verknappung wirken Produkte für uns noch attraktiver. Ist jede „Limited Edition“ ein Fake?
Für Unternehmen wäre es ja eigentlich kein Problem, ihre Produkte in größerer Auflage zu produzieren. Unternehmen bleiben ganz bewusst mit der Stückzahl unter der erwarteten Nachfrage. Ich habe zum Beispiel mit einem Hersteller für mechanische Uhren in High-End-Preislage darüber gesprochenen. Der sagte mir: „Wenn wir ganz genau wissen, dass wir für ein bestimmtes Sammlerstück sieben Kunden haben, produzieren wir sechs Stück.“ Wir sind evolutionär darauf programmiert, uns alles, was knapp ist, erst einmal zu sichern.
Können wir als Konsumentinnen noch etwas richtig machen, ohne dass wir als komplette Aussteigerinnen leben müssen?
Man hat tatsächlich das Gefühl, dass das Ziel, alles richtig zu machen, unerreichbar ist. Wahrscheinlich ist das einfach ein zu hoher Anspruch. Greta Thunberg segelt nach Nordamerika und muss sich trotzdem vorwerfen lassen, dass das jetzt auch wieder falsch war. Darauf haben wir natürlich alle keine Lust. Es liegt auch eine gewisse Absurdität darin, zu fordern „I want you to act like your house is on fire.“ Die Diskrepanz zwischen dem, was von uns gefordert wird, und dem, was wir realistischerweise leisten können, ist dabei einfach zu groß. Ich kann nicht 24/7 in Panik leben und mich so verhalten, als ob mein Haus brennt. Wir müssen uns selbst realistische Ziele setzten.
Die aktuelle Weltlage wirkt zuweilen schon etwas entmutigend, haben Sie zum Abschluss noch eine positive Zukunftsprognose für uns?
Die Lockdowns mit geschlossenen Läden und ohne Publikum für unseren Konsum waren wie ein kalter Entzug. Wir haben dabei tatsächlich kollektiv ein paar prägende Erfahrungen gemacht. Außerdem haben wir festgestellt, wie viel von den Dingen, von denen wir immer geglaubt hatten, dass wir sie für uns kaufen, wir eigentlich für andere kaufen. Das Interesse an der Louis-Vuitton-Handtasche erlischt schlagartig, wenn wir sie niemandem mehr zeigen können. Insofern könnte uns der Lockdown in Bezug auf unseren Konsum eigentlich einiges lehren.
Danke für das Interview!
Das Buch „Konsum - Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ ist 2020 im HarperCollins-Verlag erschienen und ist mittlerweile Spiegelbestseller.
Carl Tillessen hat ein abgeschlossenes Studium in Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre. Heute ist er Trendanalyst und Berater beim Deutschen Mode-Institut und arbeitet als Autor. Daneben berät er renommierte Firmen aus der Luxusbranche in Einzelhandelsfragen.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Kooperation mit der Meisterschule der Graphischen Wien. Dieser Artikel erscheint außerdem in der C/O Vienna Magazine Sonderausgabe THE CONSUMER ISSUE. Hier bestellen!