Die Löwin

Vom unabhängigen Schreiben und Sein

Die Publizistin RUBINA MÖHRING verkörperte die Pressefreiheit wie keine andere Person. Als Präsidentin von REPORTER OHNE GRENZEN ÖSTERREICH setzte sie sich jahrelang bis zu ihrem Tod im Jahr 2022 dafür ein, dass ihre Kolleginnen gefahrlos und unabhängig ihre Arbeit tun können. Wir haben sie vier Jahre vor ihrem Tod zum Interview getroffen. Sie ist furchtlos, kritisch und vor allem eines: beharrlich! 

Text: Lisa Lugerbauer

„Entweder bleibe ich und werde zur Mumie, oder ich gehe und bleibe lebendig.“

Lisa Lugerbauer: Als Kind wollten Sie Seiltänzerin werden, was genau hat Sie daran fasziniert?

Rubina Möhring: Ich fand es so schön, auf einem dünnen Seil in der Höhe zu tanzen, sich in dieser Schwebeposition zu befinden, mit einem Ziel. Journalismus ist, so wie ich ihn sehe, etwas ganz Ähnliches. Man geht auch Schritt für Schritt weiter, versucht auf seinem Pfad zu bleiben, entweder man stürzt ab – oder eben nicht.

Sie sind 1950 geboren, wie haben Sie damals Ihre Kindheit in Deutschland erlebt?

Diese Zeit hat mich natürlich sehr geprägt, auch das Jahr 1968. Ich habe in der Schule selbst erlebt, dass die Nazizeit überhaupt nicht besprochen wurde. Mein Vater hat damals viel dazu beigetragen, dass seine jüdischen Freunde emigrieren konnten. Ich bin mehr in einem jüdischen Kreis aufgewachsen als in einem deutschen. Mit diesem Bewusstsein und diesem Wissen habe ich versucht, die Traditionen innerhalb unserer Familie weiterzuführen, neugierig zu sein und zu berichten, auch unangenehme Dinge, einfach versuchen, gesellschaftlich etwas hinzuzufügen, etwas Sinnvolles.

Ihre ersten journalistischen Schritte machten Sie bei der Tageszeitung „Die Presse“ – damals noch sehr viel konservativer als heute. Wie kann man sich die Arbeit dort vorstellen?

Eine Freundin meines Vaters, meine Mentorin Hilde Spiel, half mir dabei, das Volontariat zu bekommen. Ich war damals 20 Jahre alt, und ja, „Die Presse“ war unter dem damaligen Chefredakteur Schulmeister extrem konservativ. Ich habe in der Chronik angefangen, was sehr gut war. Diese Arbeit im Lokalteil möchte ich nicht missen, da lernt man wirklich das Handwerk. Ich habe es relativ schnell auf Seite drei geschafft – natürlich eine Auszeichnung.

Sie sind als junge Journalistin damals sogar in den Irak gereist.

Als Erstes habe ich die irakische Botschaft besucht und bin danach in die kurdischen Gebiete gefahren. Das werde ich nie vergessen. Ich war 22 Jahre alt und hatte ein Nadelstreifkostüm an – es war affig kalt, ich habe es aber trotzdem angezogen. Mit blauen Schühchen und blauem Hut, weil ich wusste, das macht Eindruck. In diesen zehn Tagen, die ich dort war, habe ich all die Leute gesehen, die ich sehen wollte, inklusive des damaligen Kurdenführers Barzani, der zu dieser Zeit noch lebte. Ich hatte mich da einfach durchgesetzt. Wahrscheinlich dank Nadelstreif, blauem Hut und langen blonden Haaren.

„Dank Nadelstreif, blauem Hut und langen blonden Haaren"

Wie war das dort für Sie, speziell als Frau und dann auch noch so jung? Hatten Sie Angst?

Nein, ich hatte gar keine Angst. Vielleicht ein bisschen, als wir in der Dämmerung von Barzani-Leuten in einem Jeep abgeholt und über Stock und Stein in eine Art Festung gebracht wurden. Da habe ich mir schon gedacht: „Was ist, wenn mir jetzt was passiert?“ Mir ist nichts passiert, ich habe das Interview bekommen und auch Fotos, die der Sohn des Barzani für mich machte. Das waren damals meine Abenteuerlust und meine Neugierde. Als Journalistin muss man neugierig sein, sonst bleibt man irgendwo hängen. Ich habe dann auch viel Sozialberichterstattung gemacht, über Heimkinder und alleinerziehende Frauen – bis mir der Schulmeister gesagt hat: „Wissen Sie, das sind nicht unsere Themen.“

Da war es an der Zeit zu gehen?

Ja, mir wurde klar, entweder bleibe ich und werde zur Mumie, oder ich gehe und bleibe lebendig.

Sie waren früher oft in der Türkei, fahren Sie auch heute noch hin?

Wir, die NGO Reporter ohne Grenzen, haben einen Korrespondenten in der Türkei. Eigentlich wäre bald eine Verhandlung, aber ich schaffe es zeitlich nicht. Ich möchte auch keine „Edel-Geisel“ sein. Ich werde von hier aus darüber schreiben, das ist vielleicht weniger spektakulär, aber vermutlich sinnvoller als selbst dorthin zu fahren. Es ist mir auch ein großes Anliegen. Die Türkei wird zu einem autoritären Staat, da sind jetzt weitgehend alle Medien aufgekauft oder stillgelegt. Die Landbevölkerung liest weitgehend keine intellektuellen Zeitungen, sondern schaut staatliches Fernsehen – das ist ein Einheitsbrei.

Was macht Sie für Ihren jetzigen Posten als Präsidentin von Reporter ohne Grenzen so geeignet?

Ich war immer stur und habe mich nie unterkriegen lassen, darauf bin ich auch sehr stolz. Als ich diesen Posten übernommen habe, war ich beim ORF tätig – dort war ich über 30 Jahre beschäftigt, zuerst als freie Mitarbeiterin und dann in der Redaktion.

„Ich war immer stur und habe mich nie unterkriegen lassen.“

Wie kann man sich den Arbeitsalltag bei Reporter ohne Grenzen vorstellen? Was macht die Organisation genau?

Eine ganze Menge, besonders, wenn es so eine kleine Organisation ist, wie hier in Österreich. Es hängt sehr viel von mir ab. Ich habe zwar eine Eventmanagerin und eine Bürokraft – viele Kontakte habe aber nur ich, dann hänge ich den ganzen Tag am Telefon oder im Internet und schreibe E-Mails. Und ich sollte doch an meinem Buch „Mundtot“ schreiben. Das hätte ich schon vor zwei Jahren abschließen sollen. Ich hatte dann aber eine Krebserkrankung und war einfach nicht fähig dazu. Das habe ich jetzt überwunden und werde es endlich schreiben.

Wie schätzen Sie als Expertin die Lage der Pressefreiheit in Österreich in Bezug auf die neue Regierung ein?

Die neue Regierung ist sehr schwierig. Ich glaube, dass da kein Respekt vor Pressefreiheit oder Informationsfreiheit herrscht. Informationsfreiheit, was mir der liebere Begriff ist, ist ein Menschenrecht. Dass Bürgerinnen die Freiheit haben, an Informationen aus den verschiedensten Medien zu kommen, um sich selbst ein Bild zu machen. Wenn das Spektrum der Medien eingeschränkt ist, wie beispielsweise in Österreich, gibt es nur sehr wenige Medien, die einem eine andere Meinung liefern.

„,DER STANDARD‘ und der ,Falter‘ sind mit die letzten unabhängigen Stimmen in Österreich.“

Welche Medien sind in Österreich wirklich noch unabhängig?

Die Tageszeitung „DER STANDARD“, die sich von Einflussnahme freihält, respektiere ich sehr. Der „Falter“ als Wochenzeitung ist nicht minder wichtig, wenn nicht im Moment das fast wichtigere Medium. Das sind mit die letzten unabhängigen Stimmen! Das ist sehr bedauernswert und traurig. Die Angriffe von der FPÖ auf den ORF – das ist unsagbar. Da haben wir Strache, der Armin Wolf der Lüge bezichtigt hat. Da haben wir Steger, der Hans Geleg angegriffen hat, und da haben wir Gudenus, der genau wie Orbán gegen Soros wettert – also antisemitisch kläfft. Ich habe manchmal das Gefühl, die FPÖ folgt dem medienpolitischen System Orbáns. Das hat, wie ich finde, hier in Österreich nichts zu suchen.

Inwiefern hat Sie der Tod des slowakischen Journalisten Ján Kuciak getroffen? Wie reagiert man in solchen Situationen als Präsidentin von Reporter ohne Grenzen?

Ich habe insofern reagiert, als dass ich den Medien den seriösen slowakischen Journalisten Tibor Macák, er ist Redakteur des Slowakischen Rundfunks, als Interviewpartner vermittelt habe. Er war im ORF zu sehen und auch in einigen Printmedien zu lesen. Ich fand das eigentlich gut, wie die Medien über den Fall berichtet haben. In der Slowakei geht es aber noch weiter. Dieser Fico hat Journalisten als „dreckige, journalistische Prostituierte“ tituliert und auch als „journalistische Hyänen“ bezeichnet. Das alles hat begonnen mit Trump, der gesagt hat, Journalisten sind die Feinde des Volkes. Diesem Schema folgt jetzt die FPÖ, das ist ein ganz böses Zeichen. Die mangelnde Wertschätzung – darum geht es ja – nicht nur von Journalisten, sondern auch von Menschenrechten, von Informations- und Medienfreiheit. Wenn sich Regierungen nicht mehr mit konstruktiver Kritik auseinandersetzen wollen, was sind das dann für Regierungen? Sind das demokratische Regierungen?

Hätten Sie je daran gedacht, dass es wieder so weit kommen wird, von demokratisch gewählten Regierungen Pressefreiheit einfordern zu müssen?

Ich persönlich hätte nie gedacht, dass das 21. Jahrhundert derart restaurativ sein könnte. Ich habe immer geglaubt, dass wir die schrecklichen Geschichten hinter uns lassen und das 21. Jahrhundert ein Paradies wird – also menschenrechtlich. Aber genau das Gegenteil ist der Fall.

Halten Sie manche österreichischen Journalistinnen für ernsthaft gefährdet?

Noch nicht. Aber die Einschüchterungspolitik führt natürlich dazu, dass sich manche gefährdet fühlen. Diese Einschüchterungspolitik, die macht tatsächlich Angst und möglicherweise manche gefügig – es geht ja um Existenzen. Und der deutsche Medienmarkt, auf den man ausweichen könnte, ist auch nicht sehr groß. Größer als hier, aber er wird immer kleiner.

Haben Sie sich auch schon persönlich Diffamierungen, Hasskommentaren oder Drohungen aussetzen müssen?

Nein, weniger. Aber ich merke natürlich bei Leuten, die auf dieser politischen Linie sind, dass sie mir gegenüber unangenehm werden. Auch was die Nachbarschaft im Privaten betrifft.

Worst-Case-Szenario: An welchem Punkt hätten Sie Ihre journalistische Karriere beendet?

Das kann ich so nicht beantworten. Ich habe meine journalistische Karriere gemacht, als alles noch nicht so war wie heute, insofern bin ich verschont geblieben. Ich habe schon manchmal überlegt, ob ich den ORF verlassen sollte, weil ich diese politischen Einflussnahmen anstrengend fand. Habe es aber nicht getan, weil ich zwei Kinder hatte, die damals sehr klein waren und weil das auch noch nicht so schlimm war. Ich weiß nicht, ob ich heute noch so lange beim ORF bleiben würde. Ich weiß auch nicht einmal, ob ich heute noch zwei Kinder in die Welt setzen würde.

Wieso das?

Das war damals so eine heile Welt. Ich habe sie in eine Welt gesetzt, von der ich nie erwartet hätte, dass sie sich so verändern würde. Ich frage mich manchmal, ob ich sie richtig erzogen habe für das alles. Sie sind sehr gut geraten, da habe ich Glück gehabt. Sie machen ihren Weg und sind kritisch – so was kann aber auch in die Hose gehen.

Es muss damals schwierig gewesen sein, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bekommen. Was raten Sie berufstätigen Frauen bezüglich ihrer Kinderplanung? Nach hinten verschieben?

Nein, einfach machen. Wenn ich ein Kind haben will und mich dafür entscheide, dann sollte ich es bekommen. Und alberne Kollegen, die blöde Sprüche bringen, die sollen einem den Buckel runterrutschen! „Du wirst es bereuen, dafür Deine Karriere beim ORF zu gefährden“ – das ist völliger Schwachsinn. Es hat mir nicht geschadet. Ich war damals auch die einzige in meiner Generation, die nicht nur ein Alibi-Kind bekommen hat, sondern eben zwei. Bin vorgeprescht. Man darf sich von solchen Dingen nicht einschüchtern lassen. Es ist das eigene Leben, das man lebt.

Sehr schön gesagt. Sie haben sich für die Frauenquote beim ORF eingesetzt, wie stehen Sie zur Frauenquote generell?

Die Frauenquote ist absolut erstrebenswert. Ich bin grundsätzlich eher gegen Quoten, weil es selbstverständlich sein sollte, aber wenn die Männer das eben nicht begreifen, dann muss man es ihnen aufzwingen. Ich habe mich für die Frauenquote beim ORF sehr engagiert, habe auch den Kindergarten dort durchgesetzt und installiert – entgegen aller Erwartungen. Inzwischen redet im ORF niemand mehr darüber, dass ich das gemacht habe. Ist aber auch wurscht. Der Kindergarten ist jetzt da, und das ist wichtig. Meine Kinder waren da schon älter, ich habe das also nicht aus Eigennutz gemacht, es war mir einfach wichtig – so bin ich halt. Ich mache Dinge, weil ich finde, dass sie wichtig sind.

Wie lange haben Sie vor, noch bei Reporter ohne Grenzen zu wirken?

Ich hole jetzt jüngere Leute in den Vorstand, weil ich der Meinung bin, dass ein Generationenwechsel stattfinden muss. Ich könnte mir gut vorstellen, es ein bisschen ruhiger anzugehen. Ich habe ja auch schon eine ganze Menge geleistet. Andererseits macht es natürlich immer noch großen Spaß. Sagen wir mal so: Ich bin jetzt 68 Jahre und möchte in diesem Job nicht älter als 70 werden.

„Ich bin stolz darauf, dass ich so widerborstig bin.“

Haben Sie noch berufliche Ziele – außer das Buch „Mundtot“ fertig zu schreiben?

Was mich interessiert und was ich gerne noch intensiver machen möchte, ist das Unterrichten an Universitäten. Ich halte es für meine Aufgabe, nicht zuletzt, weil ich sehr viel erlebt habe und diese Erfahrungen weitergeben kann.

Worauf sind Sie am meisten stolz?

Einerseits bin ich stolz darauf – obwohl ich so widerborstig bin –, dass ich beim ORF ganz schön Karriere gemacht habe. Das war nicht selbstverständlich und hat einfach mit meiner professionellen Qualität zu tun. Auch dass ich die letzten fünf Jahre bei 3sat war – das hat mir eine große Freude bereitet. Und besonders stolz bin ich natürlich auf meine Kinder.

Wie und wo schreibt es sich am besten?

Am Schreibtisch. Hier auf der Couch, auf der wir gerade sitzen, geht das nicht. Es ist aber immer noch eine große Herausforderung an meine Disziplin zu Hause zu arbeiten.

Vielen Dank für das Interview!

Rubina Möhring, geboren 1950 in Berlin, ist promovierte Historikerin und Publizistin. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Soziologie in Freiburg, Genf, Istanbul und Wien. Sie war Journalistin, von 1986 bis 2010 beim ORF und bei 3sat. Sie ist Lektorin für Publizistik an den Universitäten Wien, Innsbruck und Krems und langjährige Vizepräsidentin der internationalen Menschenrechtsorganisation Reporters sans frontières, Präsidentin der österreichischen Sektion von Reporter ohne Grenzen und Herausgeberin und Autorin zahlreicher gesellschaftspolitischer Publikationen. 2022 ist Rubina Möhring im Alter von 71 Jahren verstorben. 

Die Manteros

Text: Lena Stefflitsch

Die illegalen Straßenverkäufer werden in Spanien Manteros genannt. Eine Personenbezeichnung, die sich aus ihrer ständigen Begleiterin, einer Manta, ableitet, der weißen Decke, auf der sie ihre Waren ausbreiten und die sich in Sekundenschnelle in einen tragbaren Beutel umformen lässt. Als Top Manta bekannt findet der informelle Verkauf von Fake-Luxusartikeln auf öffentlichen Plätzen in vielen Teilen Spaniens statt. Anders als in Barcelona, wo die Manteros sogar eine Gewerkschaft und ein eigenes Modelabel gegründet haben, erschwert das hohe Polizeiaufgebot im Zentrum Madrids, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Wer sind die „schwarzen“ Männer mit den weißen Säcken? Uns haben die Manteros aus ihrem Alltag erzählt.

Der Kunst-Schaffner

Text: Paula Pankarter

Bei TRAM geht es um Verbindung, Verbindung durch Kunst. Verbunden werden sollen die beiden Hauptstädte Europas, die räumlich gesehen am nähesten zusammenliegen und doch so weit voneinander entfernt sind: Wien und Bratislava. Zum leidenschaftlichen Paartherapeuten dieser beiden Metropolen des Ostens hat sich Juraj Čarný aufgeschwungen. Wir haben mit dem Kurator des Kunst-Zugs über die ambivalente Beziehung zwischen diesen beiden Hauptstädten gesprochen.

Der Pferdenarr

Text: Lisa Lugerbauer

Oberstallmeister Johannes Hamminger

Ein Lipizzanerhengst wiehert, das Mobiltelefon des pensionierten Oberstallmeisters JOHANNES HAMMINGER läutet. Den edlen Pferden der Spanischen Hofreitschule, Sinnbild Wiener Kulturtradition, ist das egal. Die Spitzensportler unter den Vierbeinern traben in aller Ruhe von ihren Stallungen über den Hof zum täglichen Morgensport, um fit für die jahrhundertealten Reitkunststücke zu sein. Warum finden wir Pferde so schön? Was finden Pferde schön? Hat ein Pferd Schamgefühle und kann beleidigt sein? Hamminger gibt Auskunft.