Die Nageldesignerin

If you’re a fly girl, get your nails done

Manikürte Nägel waren einmal ein Statussymbol, das zeigte, dass man körperliche Arbeit nicht nötig hatte. Doch als schwarze Frauen begannen, Kunstnägel als Zeichen von Emanzipation und Selbstbestimmung zu tragen, wurden sie zu einem Symbol im Kampf gegen Sexismus und Rassismus. Man fand Mumien, die davon zeugen, dass bereits vor Tausenden Jahren Nägel vergoldet und mit Henna gefärbt worden waren. Heute ist Nail Art mehr als nur ein Trend. Wir haben die bekannte Nageldesignerin Camilla Inge Volbert in ihrem Berliner Studio getroffen, um mit ihr über Nail Art als Kunstform zu sprechen. 

„Sylt-Badezimmer im Boomer-Look an den Händen“

Elisa Promitzer: Was sind die skurrilsten Nägel, die Du je designt hast?

Camilla Inge Volbert: Acryl-Fußnägel mit meterlangen Haaren.

Echthaar?

Nein, aus Kunsthaar, aber in ein anderes Nageldesign arbeitete ich auch schon die echten von einer Kundin abgeschnittenen Haare ein.

Man fand Mumien, die zeigen, dass bereits vor Tausenden Jahren Nägel vergoldet und mit Henna gefärbt worden waren. Warum sind Nägel so wichtig?

Sie sind nah bei Dir, Du gestikulierst ständig und sie sind das Ende Deiner Bewegungen. Ich kann mit Nail Art meine Kreativität an einem nachwachsenden, eigenen Körperteil ausleben. Wir kleiden alles Mögliche von uns ein, aber der Körperteil, den man am häufigsten von sich selbst sieht und der am meisten in Kontakt mit unserer Umwelt ist, bekommt selten die gleiche Aufmerksamkeit.

Trägst Du selbst Kunstnägel? Wie sehen sie heute aus?

Ohne meine Nägel fehlt etwas. Aktuell ist meine rechte Hand noch nackig, meine linke glänzt bereits im Boomer-Interior-Design à la Sylt-Badezimmer, mit Löffel im Love-Küchen-Stil und Coco-Chanel-Parfüm.

„Mit den Nägeln heiße Brotscheiben aus dem Toaster manövrieren.“

Ich sehe Badezimmerwaschbecken im Miniaturformat. Wie schaffst Du diese Präzision auf beiden Händen?

Manche Sachen male ich selbst, für andere verwende ich Folien, Stempel, es gibt unterschiedliche Techniken und Produkte. Ich bin Rechtshänderin, normale Tätigkeiten wie Zähneputzen kann ich nur mit meiner rechten Hand, aber wenn es um meine Nägel geht, scheine ich unaufhaltbar zu sein (lacht). 

Ist das nicht furchtbar unpraktisch?

Ich würde damit nicht klettern gehen, aber meinen Alltag kann ich ohne Probleme bewältigen. Auf das Vorurteil „Damit kann man ja gar nichts machen“ nahm ich in der Ausstellung „Hands on Nails“ im Museum für Gestaltung vom Bauhaus-Archiv Bezug (07.12.2023–18.01.2024). Ich kreierte eine Social-Media-Intervention, die ironisch mit diesem Klischee spielt: Die skurrilsten Nagelformen halten eine Teekanne, schalten das Licht ein und zeigen, dass so gut wie alles damit möglich ist. Meine Nägel sind mein persönliches Werkzeug. Ich benutze sie als Farbpalette, manövriere heiße Brotscheiben aus dem Toaster! 

... da Du die Hitze durch die künstlichen Nägel nicht spürst. Wie praktisch! Fühlen sich Gelnägel wie Fremdkörper an?

Sie sind wortwörtlich eine Verlängerung meiner selbst, ein Fremdkörper sind sie nur nach den Gesetzen der Physik, auch wenn man äußerliche Einflüsse an den Nagelspitzen natürlich nicht spüren kann. Ein Vorteil, den sich viele Menschen zunutze machen, um mit schlechten Habits, wie dem Fingernägelkauen, zu brechen. Gel und Acryl sind steinhart, es reißt nicht ein. Interessanter Funfact: Die Geschichte der Gel-, Acrylnägel beginnt bereits in den späten 1950er-Jahren, als der amerikanische Zahnarzt Dr. Frederick Slack einen Nagelreparaturkleber entwickelte. Doktor Slack hatte sich versehentlich seinen eigenen Fingernagel abgebrochen und beschloss, einen Klebstoff auf Basis von Zahnfüllungsmaterialien zu verwenden, um seinen Nagel zu reparieren. Das Ergebnis war nicht nur funktional, sondern sah auch ziemlich gut aus. Dieses Experiment führte zur Entwicklung des ersten Nagelklebers, der als Basis für Gel-, Acrylnägel diente. 

„Manikürte Nägel als Statussymbol“

Der erste „Nagellack“ soll bereits vor 5.000 Jahren aus Eiweiß, Bienenwachs und Blütenblättern hergestellt worden sein. Welche Materialien verwendest Du?

Ich arbeite vorrangig mit Gel. Bei den Accessoires bin ich kreativ: Ich verwende auch Muscheln aus dem Urlaub, getrocknete Blumen, Zwiebelhaut …

Stinkende Zwiebelfinger?

Bei einer Performance hat die Künstlerin Selin Davasse das Publikum mit eingelegten Gurken gefüttert. Passend dazu gestaltete ich Nägel mit eingelegten Zwiebeln, die als Minigabeln dienten.

In den 30er-Jahren wurde flüssiger Nagellack erfunden, die Inspiration kam aus der Autobranche. Nägel als das Pendant zum Auto als Statussymbol?

Zu Beginn waren manikürte Nägel ein Statussymbol, da man nicht dreckig war, nicht nach Arbeit aussah. Sehr lange oder auffällige Nägel galten jedoch als trashy und obszön, da sie zunächst vor allem von schwarzen Frauen und Frauen aus der Working Class getragen wurden. Erst mit verändertem Blick auf Sexismus, Klassismus und Rassismus wandelte sich auch das Verständnis von der kulturellen Bedeutung von Nägeln.

„Wie ich meinen Arsch abwische?“

Die amerikanische Soziologin Miliann Kang schreibt in ihrem Buch „The Managed Hand“ (2010): „Zu jenem Zeitpunkt standen French Manicure und Pastellfarben für weiße, bürgerliche, heteronorme Schönheit. Lange modellierte, mit Airbrush bearbeitete Fingernägel hingegen waren Zeichen von Blackness, sexueller Abweichung und marginalisierter Weiblichkeit.“

Hinter Nail Art versteckt sich eine starke Geschichte, weil es ein Design ist, das nicht von weißen, heterosexuellen Cis-Männern geprägt ist. Ein Grund, warum es lange nicht anerkannt wurde. Schade, dass es sich erst ändert, wenn weiße Leute sich dafür interessieren. Umso wichtiger ist es, dass ich mir als weiße Nageldesignerin der langen Tradition bewusst bin und den historischen Kontext kenne.

Rapperinnen wie Missy Elliott und Lil’ Kim machten das Nagel-Bling-Bling in den 80ern und 90ern populär: „If you’re a fly girl, get your nails done. Get a pedicure, get your hair did.“ (FLO feat. Missy Elliott)

Dadurch landeten stylische Fake-Nails bei MTV und in Modemagazinen. Kunstnägel sind ein Modeaccessoire, ein Trend, aber auch wichtiger Bestandteil afroamerikanischer Kultur.

Trotzdem oder gerade deswegen wurden Stars wie Florence Griffith-Joyner, die in den 90ern dreimal Olympia-Gold im Sprint holte, von der Presse auf ihre langen Nails reduziert, ihre Leistung rückte in den Hintergrund. Frauen mit Kunstnägeln werden oft abgewertet oder krass sexualisiert. Warum?

Sie verkörpern das Gegenteil von einer kleinen, stillen, schüchternen Frau. Gelnägel sind die perfekte Angriffsfläche für Sexualisierung und Abwertung. 

Was sind Deine hässlichsten Erfahrungen?

Es gibt Menschen, die denken, sie können jegliche Grenzen ignorieren. Unbekannte Leute haben mich gefragt, wie ich meinen Arsch abwische, lassen nicht locker, glotzen mich an, fassen meine Nägel an. Oder machen heimlich Fotos. 

„Ästhetik der Nullerjahre“

Wir erklärst Du Dir den momentanen Hype?

Die aktuelle Ästhetikverschiebung zurück zu den Nullerjahren, dieser Y2K-Trend, dominiert Social Media und Modestrecken. Aufwendige Nageldesigns sind ein Teil davon. 

Im 19. Jahrhundert verlängerten Griechinnen Nägel mit Pistazienschalen. Was sind die längsten Nägel, die Du je gemacht hast?

Für eine Installation von einer Künstlerin designte ich Nägel in einer Art Spirale, ausgerollt wären sie wahrscheinlich eineinhalb Meter lang gewesen. Das war kein herkömmliches Nageldesign, eher ein Kunstobjekt, wofür ich locker einen Tag brauchte.

Vertraut Dir auch Deine Mama ihre Nägel an?

Meiner Mama mache ich die Nägel, aber nur einfärbig. Bei meiner Schwester kann ich mich austoben, als Kind malte sie mir alles Mögliche auf die Nägel, jetzt bin ich dran.

Wie war Deine Kindheit?

Kreativ! Mein Papa ist Grafikdesigner, ich bastelte schon von klein auf, nähte meine eigenen Outfits. Dann studierte ich Modedesign in Berlin, Nail Art brachte ich mir aber selbst bei. Mit Anfang 20 schenkte mir meine Schwester einen Gutschein fürs Nagelstudio, mit Delfin-Stickern, Glitzer und Steinen begann ich die Designs selbst aufzupeppen. Heute, fünf Jahre später, ist es mein Vollzeitjob. Das war alles Learning by Doing.

„Alles Learning by Doing“

Was ist Dein liebster Nail-Art-Trend?

Kitschige Memes finde ich immer funny. Man darf sich nicht zu ernst nehmen. 

Wer kommt zu Dir? Jung und alt? Männer und Frauen?

In erster Linie FLINTA*-Personen, aber auch immer wieder heterosexuelle Männer, manchmal bringen Frauen ihre Boyfriends mit.

Was sind Deine Traumnails? Wo liegen die Grenzen?

Fingernägel aus dem 3D-Drucker fände ich spannend. Dann könnte ich das Handwerkliche mit dieser technischen Innovation verbinden und krasse Formen, die händisch nicht umsetzbar sind, kreieren.

Kunstnägel – künstlich oder künstlerisch?

Nail Art ist ein Handwerk, das sich langsam seine längst verdiente Anerkennung erkämpft, mitsamt seiner komplexen Geschichte. Es ist mehr als Kunst, es ist politisch.

Danke für das Gespräch.

Die gebürtige Berlinerin Camilla Inge Volbert studierte Modedesign an der Universität der Künste in Berlin, mit YouTube-Videos brachte sie sich Nail Art selbst bei und arbeitet mittlerweile hauptberuflich als selbstständige Nageldesignerin für Prominente, kommerzielle Shoots und Fashion Editorials, etwa für GATA Magazine, Dazed Fashion, SZMagazin und mehr.


(dp)