Claudia Bosse arbeitet zwischen den Zeiten, der Körper dient ihr als Medium. Seit vielen Jahren ist sie in Kollektiven wie theatercombinat zwischen Choreographie, Theater und Performance aktiv. Im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals zeigt sie ihre Solo-Arbeit ORACLE and SACRIFICE oder die evakuierung der gegenwart, in der antike Orakelpraktiken auf die Gegenwart treffen. Sie erzählt über tabuisierte Materialien, das Fressen von Zeit, Formen der Gewalt und der Normalität als Irrsinn.
Der Ausgangspunkt Deiner aktuellen Arbeit „ORACLE and SACRIFICE 1 oder die evakuierung der gegenwart“ ist die sogenannte Leberschau, eine antike Praktik des Wahrsagens aus Opfermaterial. Die Zukunft wird durch Opfer gelesen?
Irgendwann bin ich auf die Leberorakel der Etrusker und Babylonier gestoßen. Angesichts der vielen ökologischen und politischen Umwälzungen habe ich mir dann darüber Gedanken gemacht, welches Verhältnis wir zur Zukunft haben. Welche Anzeichen sind bereits da, die wir uns nicht anschauen wollen? Wie gehen wir mit dem um, was wir wissen? Für diese Leberorakel wurden Tiere getötet und ihnen Fragen ins Ohr geflüstert. Diese haben sich dann durch den Körper bewegt. Wenn das Tier ausgetrennt wurde, war der Gedanke, dass der Wille der Götter sichtbar wird, wenn die Sonnenstrahlen auf das Innere fallen. Darüber wird dann die Zukunft lesbar. Es ist ein sehr ökologisches Setting: Informationen gehen durch den Körper, das Licht – die Kraft der Sonne – trifft darauf und dadurch ergibt sich Weisung, die in die Zukunft geht, das fand ich ziemlich bemerkenswert. Demnach tragen wir die Zukunft in unserem Inneren – in unseren Organen – und wenden uns trotzdem davon ab.
„Zukunft und Vergangenheit sind aus demselben Material“ schreibst Du in diesem Zusammenhang ...
Als wir in Indonesien gearbeitet haben, bin ich auf komplett andere Konzepte von Zeit und Raum gestoßen. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart sind zugleich versammelt und die Arbeit ORACLE & SACRIFICE war ein Versuch, sich in der Versammlung der Gleichzeitigkeit zu orientieren oder zu desorientieren, sich hindurchzunavigieren. Das Ganze mit künstlichem, aber auch organischem Material zu befragen, was bei uns eine totale Tabuisierung ist. Es gibt die Materie, die wir ständig ausgrenzen. Mich interessiert es aber, mich mit dieser Materie zu konfrontieren, auch als Gegenüber, als Auskunft. Zu sagen, es gibt nicht nur die Schrift oder das saubere System der Überlieferung, sondern komplett andere materielle Versammlungen, die auch Informationen oder Wissen in sich tragen. Mir geht es um die Konfrontation mit diesem Wissen.
Das Material Fleisch und die Organe sind in einer Gegenwart, in der Tierschutz, Artensterben und Veganismus zu zentralen Aspekten geworden sind, natürlich kontrovers zu lesen, oder?
Ich glaube, es geht um die Kontextualisierung, um eine Achtsamkeit, wie man mit diesen Materialien verfährt. In welchen Zyklus speist man das Material ein? Die meisten Organe, mit denen wir arbeiten, haben wir unter Aufsicht des Leiters der pathologisch-anatomischen Sammlung im Narrenturm konserviert, die verwenden wir dann immer wieder.
Wie kann man sich den Transport vorstellen?
Wir reisen mit den Organen. Es gab zuletzt einige Polizeikontrollen aufgrund des G7-Gipfels in Bayern und die haben sich natürlich auch gefragt, warum wir die dabeihaben. Die Organe reisen mit uns mit, in Substanzen eingelegt.
„Munitionierung gegen die vereinfachten Narrative.“
„Oracle and Sacrifice“ ist Claudia Bosses erstes Solo, und soll ein „Denken mit dem eigenen Körper“ bewerkstelligen. Im Sommer verlegt sie die Performance in den Wald, dieses Mal mit der Unterstützung anderer Performer.
Diese Beschäftigung mit alten Opferkulten, Ritualen und antiken Texten zieht sich wiederkehrend durch Deine Arbeit. Was interessiert Dich daran besonders?
Mir geht es um die Frage von Gewalt. Welche Formen von Gewalt werden in unserer Gesellschaft permanent ausgeübt? Es geht auch um die Gewalt an weiblichen Opfern, die es immer wieder in der Mythologie gab, zum Beispiel zum Zwecke des Krieges. Oder Seherinnen – Figuren wie Kassandra – wie waren sie angesehen oder legitimiert, da sie in die Zukunft schauten, aber kaum Beachtung bekamen. Ich brauche eine Munitionierung, um mit den vereinfachten Narrativen der Gegenwart umzugehen. Andere Zusammenhänge und Perspektiven werden hergenommen, um die Tabus der Gegenwart sichtbar zu machen. Es ist wichtig, Gegenbilder zu haben, um das zu analysieren, in dem wir gerade stecken. Eine Form der Munition ist eben diese Art von Erzählungen, aber es gibt auch andere Texte und Schriften, die einem dabei behilflich sind, Zusammenhänge anders zu begreifen. Mir geht es da um die tabuisierte Gewalt, Slow Violence oder andere Konzepte von Gewalt, die wir an Umgebungen ausüben, die ganz deutlich unser Verständnis von Ursache und Wirkung überschreiten, mit denen wir aber aufgrund der allgemein ökologischen Konsequenzen rasant konfrontiert sind. Diese Formen von Gewalt sind wesentlich, weil es einfach darum geht, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang wir unsere Handlungen, den Verbrauch und das, was wir geben, begreifen.
„Wir fressen ständig unsere Zeit und verringern unsere Gegenwart.“
Die linke Abbildung zeigt einen Schnappschuss aus „commune 1-73“, Bosses Auseinandersetzung mit der Pariser Commune von 1871. Auf der rechten Seite sehen Sie eine Aufnahme aus „ORACLE and SACRIFICE in the Woods“, uraufgeführt im Wiener Wald. Der Grund für diesen Gang in die Natur war ein pragmatischer: durch die Pandemie war Bosse das Reisen verwehrt, deswegen zog sie Inspiration aus der Natur in ihrer Nähe.
Welche Gewalt ist die gefährlichste?
Wir sind natürlich darauf geschult, die Verletzung von territorialen Grenzen, die Verteidigung von politischen Territorien als das massive Moment anzusehen. Ich habe aber den Eindruck, dass die größte Gewalt da ausgeübt wird, wo sämtliches, ich meine Menschen, Gas, Steine, Bäume, Wasser, nur als Ressource angesehen wird. Dieses Denken von Ressourcen, der Zugriff darauf, der unser Überleben absichert, ist ein Grundzusammenhang der größten Gewaltausübung, die permanent diese Ungleichgewichte erzeugt. Ein Punkt, an dem sowohl koloniale als auch die dramatischen Situationen an den Grenzen Europas (der Krieg in der Ukraine) Folgen von diesen Zugriffen sind. Es geht um Sicherungen von dem Verständnis von Ressourcen und deren Ausbeutung, darüber werden ständig Menschenleben geopfert, zur Verteidigung von ideologischer, aber auch materieller Zugriffe.
Wie wirken sich diese Themen konkret auf Deine Arbeit aus?
Im Zuge der Arbeit an ORACLE & SACRIFICE in the Woods hatte ich das Gefühl, dass es darum gehen muss, dass man neue Mythologien erfindet. Man trennt Geschichte von Wissenschaft und versucht im Grunde, Zuordnungen zu machen, die man als Konkurrenten darzustellen versucht. Ich habe den Eindruck, es geht vielleicht um ein Denken, ein Verknüpfen mit und über Material, was diese Zeiten und verschiedenen Arten von Wissen auf eine andere Art verknüpft, was in der Lage ist, gewahr zu sein, dass es Zellen gibt, die sowohl Roboter als auch organische Zellen sind, die sich selbst abbauen können, dass es Konzepte wie beispielsweise den organlosen Körper gibt und Konzepte von Opferung. Ich glaube, die Frage ist: Wie verbinden wir diese total geordneten verschiedenen Weisen des Wissens, von denen jede für sich wieder Territorien beansprucht? Wie kann man sich ermächtigen, Verknüpfungen herzustellen, die nicht anti-wissenschaftlich oder anti-mythologisch sind? Wenn Du etwas länger betrachtest, was nicht menschengeschaffen ist, wie etwa einen Stein, kannst Du über dieses Objekt etwas über Zeit und dynamische Prozesse begreifen – wir sind es nicht gewöhnt, uns dieses Wissen auch zuzutrauen. Ein Vertrauen zum eigenen Denken zu entwickeln, was man nicht immer sofort ideologisch zuteilen muss.
Diese Ideen stehen im starken Kontrast zu den Vereinfachungen und Spaltungen, die aktuell in unserer Gesellschaft vorherrschen. Wie lässt sich dem entgegenwirken?
Man muss in den Zeiten wildern und diese Systeme der Genealogien durcheinanderbringen, sonst sind wir in Zuschreibungen gefangen, die nicht funktionieren und uns in ein Desaster bringen. Dann schauen alle mit staunenden Augen auf dieses Desaster und sagen: „Oh das habe ich nicht gedacht!“, aber letztendlich war die ganze Ökonomie und der Umgang mit der Natur nach dem zweiten Weltkrieg seit den kolonialen Bewegungen bereits angelegt. Die in Gas und Öl gespeicherte Energie ist einfach die von Millionen von Jahren und das ist organischer Abfall. Das, was wir verheizen, ist organischer Abfall, der sich durch die Sonne und das Zusammenstoßen von Sedimenten ergeben hat, und darin liegt Zeit. Wir fressen eigentlich ständig unsere Zeit und verringern dadurch unsere Gegenwart.
Claudia Bosse wurde 1969 in Salzgitter-Bad in Niedersachsen geboren und studierte an der Hochschule „Ernst Busch“ Schauspiel in Berlin. Dort gründete sie auch 1997 das theatercombinat mit. Seit 2011 arbeitet sie auch verstärkt im bildnerischen Bereich, unter anderem auch für das Leopold Museum Wien.
„Die Zukunft liegt im Rücken“ heißt es in einem Text von Walter Benjamin, der ein Bild von Paul Klee als Zeitbild sieht.
Man steht vor den Trümmern. Das Politische generiert seine neuen Systeme immer aus den Trümmern. Wir müssen in den Trümmern stehen können, die Trümmer betrachten und dabei begreifen, dass die Trümmer unsere Zukunft sind, von der wir uns nicht mehr abwenden können. Wie kann man Gegenwart schaffen, die nicht ständig alles verschlingt? Es braucht einfach ganz andere Verknüpfungen. Man wird beispielsweise dazu gezwungen, im Ukraine-Krieg kriegerisch Position zu beziehen, weil man als naive Pazifistin etikettiert wird, sobald man das System des Krieges als Verteidigung von Territorien ablehnt. Da findet eine komplette Vereinfachung von Zusammenhängen statt, die einfach nur den Aufrüstungsbestrebungen in die Hände spielt. Das ist zutiefst reaktionär und absolut erschreckend.
Was denkst Du über die aktuelle Debatte rund um die KünstlerInnenkollektive Taring Padi und ruangrupa, dessen Bild im Zentrum eines Antisemititismus-Diskurses bei der diesjährigen documenta steht?
Die ganze Diskussion um die documenta finde ich sehr interessant, also die Art, wie diese ganze Antisemitismus-Debatte geführt wird. Es scheint, als könnte man alles tun in der Kunst, aber dahinter verbergen sich Tabuisierungen und standardisierte Umgänge, insbesondere mit der deutschen Geschichte. Wenn diese unterbrochen werden, wird das nicht akzeptiert. Welcher Diskussionsraum wird eigentlich geöffnet, um die komplexen Zusammenhänge, in denen wir uns befinden, überhaupt polyphon denken zu dürfen, und dabei auch Positionen des globalen Südens zuzulassen? Ich habe das Gefühl, dass bei dieser Polyphonie komplexer Diskurse ohne Policing aktuell die Luft sehr dünn wird. Natürlich kann man dieses Bild als antisemitisch bezeichnen und es problematisieren, worauf diese Zeichen in Deutschland auftreffen, die die indonesische Geschichte und global politische Zusammenhänge um den Putsch von 1965 eher überzeichnet reflektieren. Aber was verlangt man von den anderen, die man einlädt die documenta zu kuratieren? Welche Haltung müssen sie repräsentieren? Ist es möglich, bestimmte Dinge zur Disposition zu stellen? Wo sind die Tabus und können diese diskutiert werden?
Wie können diese denn diskutiert werden?
Strukturell hat ruangrupa ein totales Hacking und eine Umverteilung von Mitteln an über 1500 Künstlerinnen und Kollektive weltweit betrieben. Dies ist eine völlige Umwertung von dieser Nachkriegsgründung mit den 100 besten Künstlern der documenta, die auf einer Linie steht mit den Festwochen und ganz vielen anderen Institutionen, die auf den Trümmern in Europa über Kunst Narrative der Verständigung schaffen wollten, und dabei selbst nicht alle nazifrei waren. Welche Parameter-Shifts können da stattfinden? Es muss diskutiert und kritisiert werden, aber warum wird es repräsentativ diskutiert und warum wird anhand dessen die Integrität des ganzen Projektes dieser documenta infrage gestellt? Es wird zur Geste, aber nicht zum Argument.
„Die Aufrechterhaltung von Normalität wird immer irrsinniger.“
Wie man an der Waldperformance sehen kann, beschränkt Bosse ihre Arbeiten nicht gerne rein auf Theaterbühnen. Zu ihrem bisherigen Werk gehören auch eine Reihe urbaner Interventionen, in Städten wie Kiew, São Paolo und Brüssel.
Die Jahre der Pandemie waren durch die Abwesenheit von physischen Körpern und soziale Distanzen geprägt, hat das etwas in Deiner Arbeit geändert, gerade weil Du Deinen Körper als Medium nutzt?
Wir sind aus Indonesien direkt in die Pandemie gekommen. Nachdem das Reisen, was für meine Arbeit wichtig ist, nicht möglich war, musste ich meine Umgebung ganz anders erkunden. Dadurch bin ich viel stärker in die Wälder und in die Landschaft gekommen. Mit einer Freundin sind wir alle zwei Wochen nachts in den Wald gegangen, denn man musste sich einfach andere Umgebungen schaffen, um anders zu denken. Das andere war, sich selbst zu befragen, was Notwendigkeiten sind. Was sind die Notwendigkeiten im täglichen Umfeld, was die Notwendigkeiten des Austauschs? Während der Pandemie haben wir Lesegruppen gegründet, gemeinsam Texte gelesen. Man hat versucht, Zwischenräume zu finden, in denen das physische gemeinsame Denken ganz wesentlich war. Auf der anderen Seite haben wir mit theatercombinat die Translocal Performative Academy initiiert, ein Projekt, bei dem wir einen digitalen Raum geschaffen haben, in dem wir uns einmal im Monat zusammentreffen, um die lokal verorteten Arbeitsprozesse über digitale Artefakte zu übersetzen und uns gegenseitig über laufende Prozesse auszutauschen. Neue Formen, örtliche und lokale Phänomene in einen digitalen Raum zu übersetzen, jenseits von Zoom. Solche Dinge sind zu dieser Zeit entstanden.
Was ist Deine aktuelle Gegenwartsdiagnose?
Das ganze System bricht zusammen, habe ich den Eindruck, während zeitgleich 150 Prozent Normalität angestrebt wird. Die Pandemie hat gravierende Veränderungen nach sich gezogen. Man liest immer „AUA streicht 2000 Flüge, kein Personal mehr“, „Viele Betriebe schließen, weil sie keine ArbeiterInnen mehr haben“, „Norditalien kürzt das Wasser“ und „30 Grad zu warm am Nordpol“ – viele der selbstverständlichen Zusammenhänge, die wir gewöhnt waren, beginnen an den Ecken zu krachen, das spürt man. Man befindet sich in einem extremen Wandel. Die 10-km-Atmosphäre, die unsere Sphäre auf der Erdoberfläche bildet, ist ein fragiles Gefüge, das gerade massiv gefährdet wird. Die Ökonomien unseres Systems funktionieren nicht mehr. Man ist bestürzt und zuversichtlich zugleich, weil man denkt, es mache etwas so deutlich, man könne die Augen nicht mehr davor verschließen. Die Aufrechterhaltung von Normalität wird immer irrsinniger. Die kurze Entschleunigung ist zur Beschleunigung Richtung absoluter Irrsinn geworden. Es sind rasante Umbrüche, die wir auch dringend notwendig haben. Gestern wurde ich nicht von einer Leber erschlagen, deshalb geht es mir heute gut!
Claudia Bosse ist Regisseurin, Choreografin, Künstlerin und leitet seit langer Zeit das theatercombinat, eine transdisziplinäre Kompanie, die sie 1997 in Berlin mitbegründete. Ihre Arbeiten sind ortsspezifisch und verhandeln dabei Formen von Gewalt, Geschichte und konkrete Utopien.Sie werden von ihr auf Bühnen und Spaces in der ganzen Welt umgesetzt, meistens in Kooperation mit lokalen Künstlern.