Man fürchtet, sich zu verirren im Gängelabyrinth der Leiser-Schuhzentrale in Berlin. Dorthin ist Henrike Naumann (*1984), Shootingstar der jungen deutschen Kunstszene, erst vor Kurzem mit ihrem Team gezogen. Sie braucht viel Platz, denn Möbel und Alltagsobjekte sind die Medien, aus denen sie ihre außergewöhnlichen Szenerien entwirft und Themen wie Konsumwahn, Identitätsverlust oder Radikalismus ins Dreidimensionale übersetzt. Uns empfängt die Künstlerin gut gelaunt in Plüschpantoffeln zu einer Tour durch ihr mehrstöckiges Wunderkabinett der Objekte.
Henrike Naumann hat die Fotos zu unserem Interview selbst geschossen, mit einer analogen Kamera. Sie führt uns durch ihre Welt: „Im Eingangsbereich der Leiser-Schuhzentrale in Berlin, wo sich mein Studio befindet, gibt es ein Wandbild mit Schuhen aus dem Jahr 1959. Es jeden Morgen zu sehen, hat Einfluss auf meine Arbeit. Seit ich hier bin, spielen Schuhe immer wieder eine Rolle in meinen Arbeiten.“
Nina Prader: Warum hast Du Dich für diesen Arbeitsort inmitten des kommerziellen und urbanen Treibens entschieden?
Henrike Naumann: Da meine künstlerische Praxis nicht klassisch ist, habe ich lange – ziemlich fatal – nach einer großen Studiofläche in Berlin-Neukölln Ausschau gehalten. Ich verstand dann irgendwann, nach langer, erfolgloser Suche, dass ich eher was Unsaniertes, wie eben hier mein Raum in der Leiser-Schuhzentrale, brauche. An einem Ort zu arbeiten, an dem sich die Kunst-Bubble nicht isoliert, finde ich sogar sehr schön. Hier nebenan ist gleich ein Jobcenter, so ist der Beruf der Künstlerin auf Augenhöhe mit anderen Sparten verortet. Kunst ist etwas, von dem man lebt, deswegen bin ich hier – umgeben vom bunten Branchen-Mix – ganz glücklich.
Regelmäßig wirst Du als „deutsche Installationskünstlerin“ bezeichnet. Deine Arbeit ist aber nicht wirklich in die gängigen Kategorisierungen einzuordnen. Also: Was machst Du in Deinem Studio – und vor allem: Wie machst Du es!?
Meine Studioarbeit besteht darin, viel in Räumen zu sitzen, deren Decken übrigens nicht so hoch sind wie die von Galerien und Museen, und zu kucken, wie man hier und dort Möbel hinstellen könnte, welche Objekte farblich zu anderen passen würden. Ich arbeite ja nur mit Gefundenem. Meine künstlerische Arbeit besteht darin, zu kombinieren oder zu ergänzen, bis ich denke, dass das Ensemble vollständig ist. Vorher habe ich viel On-the-Go ohne Studio produziert, sozusagen direkt von den eBay-Kleinanzeigen in die Ausstellung hinein ...
„Das Gebäude ist ein Bürohaus, auch meine Räume haben hundertprozentige 'Office-Vibes'. Seit ich in diesem Jahr jeden Tag im Studio arbeite, habe ich es mir hier gemütlich eingerichtet.“
... Du willst in dem Sinne keine neuen Objekte produzieren.
Genau, ich beziehe alles sehr behutsam aus der Realität. Meine Rolle als Künstlerin sehe ich nicht darin, mir etwas ganz Neues auszudenken, sondern zu versuchen, aus dem, was da ist, einen Sinn zu destillieren, eine neue Bedeutung oder andere Zusammenhänge zu schaffen. Ich habe im vergangenen halben Lockdown-Jahr viel bewusster reflektiert, wie ich eigentlich arbeite, weil ich das erste Mal in meiner künstlerischen Laufbahn über Monate nur im Studio saß und viel allein entwickelt habe.
„Die Lagerlogistik ist der Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeitsweise.“
„Die Interieurs der Büros sehen schon fast wie eine Arbeit von mir aus. Aus dem Fenster blicke ich auf die nun geschlossene Philip-Morris-Zigarettenfabrik und den rotierenden Marlboro-Cowboy.“
Wir befinden uns in einer Art Depot oder Archiv, wo Möbel, Objekte, Ensembles eingepackt gelagert sind. Wo sind wir hier?
Das ist mein Werkverzeichnis. Hier werden die fertigen Installationen eingelagert. Dieser Ort stellt das zentrale Archiv meiner Arbeit dar. Im Fundus einige Stockwerke über uns, wo ich verschiedenste Fundstücke, Elemente und Objekte lagere, wähle ich die Teile aus, selektiere sie vor. In diesem Jahr haben mein Team und ich uns während des Lockdowns viel von Privatleuten über eBay-Kleinanzeigen schicken lassen. Im Fundus werden dann meine Ensembles entwickelt und ausgefeilt. Die Lagerlogistik ist der Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeitsweise, da ich vor allem Möbel, und die sind oft sperrig und schwer, als mein künstlerisches Medium gewählt habe.
Bitte beschreibe, was sehen wir?
Das ist die Installation „Ruinenwert“ für das Haus der Kunst in München aus dem letzten Jahr hier eingelagert. Dort siehst Du „Das Reich“, eine Installation, die ich kürzlich im Belvedere21 in Wien gezeigt habe, und hier die Installation „Anschluss 90“, die ich 2018 unter anderem beim „steirischen herbst“ zeigen konnte. Meine Arbeit „DDR Noir“ von 2018, die oft besprochen wurde, siehst Du hier. Wir haben jetzt auch wieder ein bisschen Platz schaffen können, da meine Arbeit „Ostalgie“ aktuell nach Moskau unterwegs ist.
„In den Büroräumen entwickle ich neue Arbeiten, momentan unter anderem eine für das Germanische Museum Nürnberg. Ich sammle unentwegt Artefakte, die ich dann in meinem Atelier sortiere und zu neuen Arbeiten zusammensetze.“
Jedes Möbelstück erhält eine Nummer und wird in einer Excel-Tabelle verzeichnet. In der Vergangenheit, als ich noch keine so großen Lagerflächen zur Verfügung hatte, achtete ich darauf, eine Installation direkt von einer Ausstellungslocation zur anderen wandern zu lassen, damit sie immer in Bewegung bleibt. Beim Aufbau erlebte ich manchmal Überraschungen, wenn sich zum Beispiel ein Stuhl, der eigentlich zu einer anderen Installation gehörte, hinein geschummelt hatte. Jetzt können meine Arbeiten direkt hier im Atelier abgeholt werden.
„Meine Arbeitsweise passt gar nicht richtig in die Zeit.“
„Emilie und Jan machen derzeit ein Praktikum bei mir im Studio und werden in einer neuen Videoarbeit von mir performen. Wir teilen uns die Betriebsküche mit den anderen Unternehmen im Gebäude. Mein Geschirr lässt sich immer recht gut zuordnen.“
„Die Installation 'Triangular Stories' haben wir im Studio aufgebaut. Von dort aus habe ich Videointerviews gedreht. 2021 geht die Arbeit für eine Ausstellung nach Sarajewo. Entstanden ist die Installation in Kooperation mit der Kunsthalle Bratislava. Das Bett und die Accessoires sind übrigens aus der Nähe von Wien. Habe der Besitzerin ihr komplett aufeinander abgestimmtes Schlafzimmer abgekauft. Es war noch bis 2018 genau so eingerichtet. Da im Gebäude mehrere Firmen mit vielen MitarbeiterInnen arbeiten, tragen wir bei der Arbeit den ganzen Tag Masken.“
Viele Möbel sind in Luftpolsterfolie eingewickelt und übereinandergestapelt. Aber hier gibt es eine rote Rolle – packst Du besonders wertvolle Objekte in dieses flauschige Vlies?
Das ist Mythos (lacht)! So dekadent sind wir nun auch wieder nicht. Das ist Zonk-Plüsch. Daraus haben wir eine kleine Edition von „Zonk-Deckchen“ für den Kunstverein Leipzig produziert. Es gab eine Sat.1-Fernsehshow in den Neunzigern mit dem Titel „Geh aufs Ganze“, in der man schätzen musste, wie teuer zum Beispiel eine Waschmaschine ist. Wer gut schätzte, erhielt die Waschmaschine, wer verlor, bekam den Zonk als Trostpreis. Das ist ein Plüschtier, eine schwarzrote Stoffratte, und sieht wie ein kleiner Teufel mit langer Nase aus. Den Zonk hatte ich schon öfter in meinen Installationen, er steht für „leider nicht gewonnen“.
Viele Künstlerinnen arbeiten zunehmend digital, Deine Arbeit ist ja im Gegensatz dazu fast schon „demonstrativ analog“.
Meine Arbeitsweise passt gar nicht richtig in die Zeit. Alle werden kleinformatiger und digitaler. Ich merke aber, dass ich diese großen Räume brauche, um meine Geschichten zu erzählen. Für mich ist das der Weg. Dinge, die ich nicht richtig greifen kann, inhaltlich oder emotional zu manifestieren, um sie anfassen, fühlen und diskutieren zu können. Hier in meinem Werkverzeichnis befindet sich ganz viel Material, das ich in Zukunft zur Diskussion stellen möchte. Ich muss jetzt nicht eine Installation nach der nächsten ausspucken, aber mich treiben als Künstlerin Fragen wie: „Was hat sich bei mir und in der Gesellschaft verändert, seit diese Möbel in den Wohnungen standen?“ oder: „Wie reflektiere ich Wohnstile und Einrichtungen heute – mit Distanz und zeitlichem Abstand?“
„Auf dem Sofa im Studio sitzen die 'Trauerkränze Deutsche Einheit', eine Arbeit die ich für das Städtische Museum Abteiberg in Mönchengladbach entwickelt habe. Christin aus meinem Team stellt die Trolli Couture Handtaschen her. Diese hier ist eine Spezialanfertigung in meiner Lieblingsfarbe. Im ersten Lockdown habe ich eine gebrauchte Poledance-Stange im Büro installiert.“
Wir sind nun mit Dir zum lichtdurchfluteten Fundus einen Stock höher gewandert, voll geräumt mit Wohnaccessoires. Wirkt wie ein Nachlass! Wenn Du hier sortierst, ist das ein Auflösen oder Aufräumen?
Das sind Einzelstücke, die noch nicht Teil einer künstlerischen Arbeit geworden sind, gewissermaßen ist es tatsächlich ein Nachlass, den ich als Künstlerin hier vorfinde. Es ist, als ob man ein Gerät in lauter Einzelteilen geliefert bekommt. Es gibt aber keine Gebrauchsanweisung mehr. Man staubt alles ab, um zu kucken, was das alles eigentlich ist und welche Funktion die Elemente haben könnten. Es ist der Versuch, etwas zusammenzubauen, von dem man nicht weiß, was am Ende dabei herauskommt. Wenn ich es lange genug versuche, finde ich irgendwann den Zweck.
Folgst Du hier einer Ordnung?
Der „Fundus-Gedanke“ spielt eine wichtige Rolle in meiner Praxis, die darin besteht, ein Objekt zu suchen, zu finden und danach greifen zu können. Alles hier ist nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet: nach Farbe, nach Form, aber auch nach Kriterien wie „Beklemmung“. In letzter Zeit fühle ich mich manchmal wie eine Malerin, da ich nach Farben sortiere. Diese Vorgehensweise triggert dann viele Ideen. Es geht darum, Konstellationen zu finden, die – zumindest für den Moment – einen Sinn ergeben könnten.
„Ich kann die Micky Maus nur zeigen, wenn ich auch den Baseballschläger dazustelle.“
„Vom Dach des Bürogebäudes kann man nach Gropius-Stadt blicken. Das Leiser-Leuchtschild auf dem Dach erzählt von der Zeit, als das ganze Gebäude von der Schuhfirma genutzt wurde.“
Sortierst Du auch nach Aura? Behandelst Du ein Objekt, das für Dich zum Beispiel für Radikalismus steht, anders als jenes, das Du positiv bewertest?
Es ist tatsächlich so, dass ich zu manchen Alltagsobjekten der Achtziger- und Neunzigerjahre ein sehr freundschaftliches Verhältnis pflege. Manche mag ich, und es macht mir auch Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Ich habe aber auch viel mit politischen Memorabilien gearbeitet. Das war ein persönlicher Horrortrip, durch den ich mich durchschicken musste und wollte. Es ist klar, ich kann die Micky Maus nur zeigen, wenn ich auch den Baseballschläger dazustelle.
Warum?
Es gibt für mich keine unschuldige Erinnerung an eine Jugend in den
Neunzigern. Sie ist mit Gewalt und Radikalisierung verbunden. Nostalgie
existiert eigentlich nie ungebrochen. Wenn ich Dinge finde, die
dezidiert aus der rechten Ecke stammen, erschrecke ich. Ich tue mir
schwer, mit ihnen umzugehen. Wenn ich als Künstlerin Objekte bewusst mit
Bedeutung auflade oder welche, die mit einer bestimmten Ideologie
behaftet sind, zur Diskussion stelle, können interessante Debatten
heraufbeschworen werden. Ich kann gar keinen Giftschrank mit kritischen
Objekten öffnen, da ich mich von allen Sachen, die nicht Teil einer
Installation sind, getrennt habe.
Arbeitest Du für Ausstellungen in Österreich anders als in Deutschland?
In Österreich habe ich für meine Ausstellungen viele Objekte über die Onlineplattform willhaben.at gefunden. Dort gibt es einen Suchmodus, der mit einem Algorithmus optisch ähnliche Dinge findet. Das war für mich natürlich super. Es werden dort tatsächlich sehr viele Objekte angeboten, die ich auch aus Deutschland kenne. Wenn ich mich mit der Geschichte Deutschlands und Österreichs auseinandersetze, stellen sich mir Fragen wie: Was sind die gemeinsamen Gewalt-Vergangenheiten? Wie wirken sie heute noch fort? Wie werden sie kommuniziert? Was macht das, wenn die gleichen Möbel in der Steiermark und in Zwickau stehen? Meine Sprache sind die Möbel, sie kommunizieren für mich das, was schwierig in Worte zu fassen ist.
Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau (DDR) geboren, lebt und arbeitet in Berlin. Naumann reflektiert gesellschaftspolitische Probleme auf der Ebene von Design und Interieur und erkundet das Reibungsverhältnis entgegengesetzter politischer Meinungen im Umgang mit Geschmack und persönlicher Alltagsästhetik. Sie arrangiert Möbel und Objekte zu szenografischen Räumen, in die sie Video- und Soundarbeiten integriert. In Ostdeutschland aufgewachsen erlebte Henrike Naumann in den 90er-Jahren die rechtsextreme Ideologie als dominante Jugendkultur. Ihre Werke wurden in Ausstellungen und Museen in Deutschland und international gezeigt, darunter im Belvedere 21 in Wien, im Museum der Bildenden Künste Leipzig und im Hamburger Bahnhof in Berlin.