Kino für alle
Der Wiener Kinowinter steht wieder im Zeichen der Menschenrechte. This Human World, das international human rights film festival geht in seine 15. Runde. Neunzig internationale Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme werden gezeigt. Wir haben aus dem umfangreichen Programm drei Empfehlungen für unsere Leserinnen ausgsucht, sie führen uns von Lateinamerika bis in die Lobau.
„Fantasma tropical“
Anhell69 (2022)
Ein Leichenwagen fährt durch Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens, Heimat der Drogenkartelle und blutiger Bandenkämpfe. Die bunten Lichter der Stadt erleuchten kurz den Kofferraum mit einem offenen Sarg. Der Regisseur spricht und erzählt von seinem Leben und das seiner queeren Freunde und Freundinnen in der Stadt.
Zwei Jahre bevor der junge kolumbianische Regisseur Theo Montoya geboren wird (1992), stirbt der berühmteste Sohn der Stadt im Kugelhagel: Pablo Escobar. Theo und sein Freundeskreis, fest verankert in der Queer-Szene der Stadt, oszillieren zwischen stiller Melancholie und pulsierenden Exzessen. Gewalt und Hoffnungslosigkeit sind lange nach Escobars Tod noch tief im Bewusstsein der Stadt verankert. Theos Generation wächst zum großen Teil ohne ihre Väter auf, der Tod ist ihr ständiger Begleiter.
2017 – ein Jahr nach dem endgültigen Friedensvertrag der kolumbianischen Regierung mit der FARC-Guerilla – macht sich Theo an die Arbeit an seinem ersten Spielfilm, ein B-Movie-Horrorfilm namens Anhell69, auf den sich die vorliegende Doku bezieht. Die Prämisse von damals ist schnell erklärt: die Friedhöfe sind überfüllt, weswegen die Geister fortan mit den Lebenden Medellíns verkehren und mit ihnen Beziehungen eingehen, womit sie sich zu Staatsfeinden machen. Doch bevor der Film gedreht werden kann, verstirbt der Hauptdarsteller Camilo, eine Woche nach dem Casting, an einer Überdosis Heroin. Sein Tod bleibt keine Ausnahme. Viele andere aus dem Freundeskreis folgen ihm, die meisten davon sterben an Überdosen oder begehen Selbstmord. Dem Regisseur wird klar, dass er einen anderen Film für seine Geister machen muss, angeführt von Camilo, seinem „Fantasma tropical“.
„Ver(a) cidade“
Skin (2021)
Der brasilianische Regisseur und Drehbuchautor Marcos Pimentel zeichnet mit seinem Film Skin ein dokumentarisches 24-Stunden-Porträt der Straßen und Menschen Belo Horizontes, anhand von Hauswänden und Passantinnen, öffentlichen Tanzkursen und Kindern, die Capoeira-Kämpfe austragen. Pimentels Kamera bleibt meistens statisch und lässt die Bilder für sich sprechen. Straßengeräusche und ein subtiler Soundtrack vervollständigen die Atmosphäre. Die sozialen Probleme, die auf den Wänden der Stadt Ausdruck finden, gehen über Belo Horizonte hinaus und geben Einblick in die ausbeuterischen gesellschaftlichen Strukturen, mit denen Brasilien zu kämpfen hat. Thematisiert werden unter anderem die extrem rechte Bolsonaro-Regierung, der Mord an der beliebten Politikerin Mariele Franco, der strukturelle Rassismus, mit dem große Teile der Bevölkerung zu kämpfen haben und die enorme Schere zwischen Arm und Reich. Hoffnung spenden Porträts der Sängerinnen Elza Soares und Belchior, humorvolle bis tiefgründige Sprüche und absurde Zeichnungen im Comic-Stil. Das – erfolgreiche – Vorhaben des Films lässt sich wohl am treffendsten mit einem der vielen doppeldeutigen Graffiti zusammenfassen: „Ver(a) Cidade“. Die Stadt sehen / die wahre Stadt.
„Ein Lehrstück für Aktivisten“
Die Wüste lebt (2022)
Vom Urbanen ins Ländliche und zurück. Manch eine wird sich noch an die klassische Disney-Doku von 1953 erinnern, deren Name sich der österreichische Regisseur und Künstler Oliver Ressler sicher nicht zufällig für seinen Film Die Wüste lebt ausgeborgt hat. Darin geht es um die hohe Anpassungsfähigkeit von Lebewesen, welche die Wüste ihr Zuhause nennen und dort die widrigsten Umstände meistern, bis der langersehnte Regen kommt. Da ist der Sprung zu den Aktivistinnen des Lobau-Camps, unter Insiderinnen auch „Wüste“ genannt, nicht weit. Diese wollen trotz zahlreicher unfreiwilliger Umsiedelungen, einem Brandanschlag und anderer Rückschläge ihren Protest nicht aufgeben.
Ressler, der sich in seinem künstlerischen und filmischen Werk unter anderem mit Aktivismus und Protestbewegungen auseinandergesetzt hat, strukturiert diese einstündige Dokumentation um drei Diskussionen im ersten Lobau-Camp nahe der Station Hausfeldstraße herum, in denen der jeweilige Status Quo der Besetzung besprochen wird. Da er auch von der Repression des Protestes durch die Stadt Wien – Drohbriefe vom Anwalt inklusive – betroffen war, tritt er selbst vor die Kamera und diskutiert mit. Der Film begleitet die Aktivistinnen fünf Monate, vom Herbst 2021 bis Ende Jänner 2022, kurz bevor das Camp zum ersten Mal mit Gewalt geräumt wird. Der Zuschauer wird in den Alltag der jungen Protestlerinnen eingeweiht und ist dabei, als sie von einer angedrohten Räumung erfahren, die sich schließlich als falscher Alarm herausstellt. An den Diskussionen zeigen sich das Potential, aber auch die Probleme und Frustrationen politischer Arbeit und direktdemokratischer Organisation. Damit ist ein Lehrstück für die jetzige und zukünftige Aktivistinnengenerationen gelungen.