Bis 16.2.20: Die Street Photographer im Kunst Haus Wien

Vom destillierten Blick auf die Welt

Der hypnotische Blick in den Revolverlauf in der Hand eines Jungen, die heimliche Dokumentation von Orgien im Badezimmer des Nachbarhauses – die Straße als Bühne für Poesie und Abgründe des alltäglichen Lebens. Das Kunst Haus Wien stellt in seiner aktuellen Ausstellung STREET. LIFE. PHOTOGRAPHY (bis 16.02.2020) Werke von Ikonen aus siebzig Jahren Fotografiegeschichte spannenden zeitgenössischen Positionen gegenüber. Wir sind mit Sabine Schnakenberg, der Kuratorin der Hamburger Deichtorhallen, vorab durch die Ausstellung spaziert und haben mit ihr über Voyeurismus, die erste Liebe und den Wert von künstlerischer Fotografie in Zeiten von Instagram gesprochen.

Viktoria Kirner: Im Paris der frühen 1930er-Jahre fand die Street Photography ihren Anfang. Über hundert Jahre später entdeckt man auf Instagram unter #streetphotography über 65,6 Millionen Beiträge. Auch abseits der digitalen Welt hat das Genre in den vergangenen Jahren einen neuen Hype erfahren. Welche Wertschätzung erfährt das künstlerische Foto angesichts dieser Bilderflut? Was unterscheidet Fotokunst von einem Instagram-Post mit Likes im sechsstelligen Bereich?

Sabine Schnakenberg: Wichtigstes Kriterium bei der Auswahl eines Fotos für eine Ausstellung ist für mich, wie intensiv sich die Künstlerin mit einem Motiv auseinandergesetzt hat. Einen Schnappschuss kann jede produzieren. Ich interessiere mich dafür, inwieweit sich jemand auf ein Motiv einlässt, darin eintaucht – und mit welcher Hingabe es komponiert wird. 

Wann ist etwas „mit Hingabe“ komponiert?

Ich meine „komponiert“ im Sinne von „konstruiert“. Das ist ein wichtiger Aspekt! Man sehe sich etwa die Arbeiten des Fotografen Mohamed Bourouissa (* 1978) an: Der junge Algerier lebt in einem Pariser Banlieue, fängt dort alltägliche von Bandenkriminalität, Drogen und Gewalt geprägte Szenen ein. Der Witz an der Sache ist nun aber, dass diese Angstsituationen, die seinen Bildern innewohnen, allesamt gestellt sind. Sie wurden von Schauspielerinnen und Freunden des Künstlers nachgespielt. Es sind leidenschaftlich und akribisch genau nach Drehbuch inszenierte Kompositionen. Bourouissa setzt sich mit Regie, Licht und all diesen Dingen auseinander – als würde er einen Film drehen. Das erfordert eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Motiv, was seine Fotos auch transportieren.

Inwieweit fällt dann die Abbildung eines rekonstruierten Momentes überhaupt noch in das Genre „Street Photography“? Geht es dabei nicht eigentlich darum, Alltagssituationen und Momente des „echten“ Lebens einzufangen und zu destillieren?

Klar, grundsätzlich sind gestellte Szenen in der Street Photography noch immer ein Tabu. Aber denkt man genauer darüber nach, merkt man, dass eigentlich jedes Foto inszeniert ist. In dem Moment, in dem die Fotografinnen auf der Straße die Kamera ans Auge führen, inszenieren sie: Sie setzen den Bildausschnitt, wählen den Kontext und so weiter. Genau darum geht es in der Fotografie: gängige Sehgewohnheiten und Prinzipien zu analysieren, sie zu durchbrechen und zu modifizieren. Es geht nicht um die akademisch „richtige“ Definition des Genres, bei der wir Historikerinnen uns dann am Ende alle gegenseitig auf die Schulter klopfen und beglückwünschen. Haben Sie auch geglaubt, dass die Szenerien, die Mohamed Bourouissa in seinen Fotos konstruiert, echt sind? Wenn ja, dann ist das Street Photography!

Weg von fingierten und hin zu echten Momenten: In welcher Situation in Ihrem Leben hätten Sie sich denn gewünscht, dass jemand einen Schnappschuss macht? Welchen Moment hätten Sie gerne destilliert?

Vielleicht meinen Gesichtsausdruck als ich mich zum ersten Mal richtig verliebt habe. Das war im Supermarkt, jemand ist mir mit einem Einkaufswagen von hinten in die Hacken gefahren, ich habe mich umgedreht und sofort in denjenigen verliebt.

Das ist eine schöne Geschichte. Wie im Film und doch nicht inszeniert. Können Sie uns Geschichten zu den ausgestellten Bilder erzählen?

Eine interessante Geschichte gibt es zu einer Serie der US-amerikanischen Fotografin Merry Alpern (* 1955): Diese entdeckt beim Blick aus dem Fenster eines Wall-Street-Apartments, dass sich in den Toiletten  des gegenüberliegenden Bankgebäudes unglaubliche Szenen abspielen: Sex, Drogen, Exzess, alles, was das „Wolf of Wall Street“-Klischee so hergibt. Daraufhin entwickelt sie eine regelrechte Obsession und verbringt einen gesamten Winter damit, heimlich die Szenen zu fotografieren. Fasziniert ist sie zwar auch von den Geschehnissen, aber noch mehr von ihrem eigenen, bisweilen schon zwanghaften, Voyeurismus, dem sie sich letztlich künstlerisch stellt. 

Sie sprechen so leidenschaftlich über diese Kunstwerke! Was fasziniert Sie so daran?

Mich beindruckt die Hingabe einer Merry Alpern, wie sie mit allen Sinnen an die Sache rangeht. Das ist fantastisch! Aber auch das Abwarten, die Ruhe und die Anspannung der Fotografin Melanie Einzig lösen bei mir Gänsehaut aus. Sie ist eine ganz kleine, zierliche Fotografin, aber sie ist super tough. Sie läuft mit ihrer Kamera durch New York, wartet, beobachtet und drückt dann im richtigen Augenblick ab.

Ganz im Gegensatz zum britischen Fotografen Dougie Wallace, genannt „Glasweegee“!

Der ist ein toller Fotokünstler, seine Bilder spiegeln seine dominante Persönlichkeit wider. Seine Herangehensweise ähnelt der von William Klein (* 1928), der ähnlich offensiv fotografisch direkt in das Geschehen eintaucht. Bei beiden Künstlern ist ein gewisser „Speed“ und eine unglaubliche Energie spürbar, wenn sie sich mit ihrer Kamera durch New York bewegen und Passantinnen damit fast schon brüskieren. Demgegenüber stehen fotografische Positionen, die eine beobachtende Distanz einnehmen, wie die von Loredana Nemes zum Beispiel. 

Gibt es auch weibliche Fotografinnen, die ähnlich offensiv wie Wallace arbeiten?

Kaum. Häufig deshalb, weil Frauen mitunter Angst vor Handgreiflichkeiten haben – meist auch zu Recht. Denn wenn du schon mal versucht hast, auf der Straße zu fotografieren, weißt du, welchen Aggressionen du dich gerade als Frau zuweilen aussetzt. Vielen fehlt aber leider einfach das Selbstbewusstsein, um sich in diesem Genre ähnlich breit zu machen, wie es ein Dougie Wallace tut – dabei hätten Frauen hier viel mehr Potenzial.

Inwiefern?

Frauen haben eine enorme Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen. Sie können ausharren und verstehen häufig, viel differenzierter Momente herauszufiltern. Ich würde gerne jede weibliche Fotografin dazu auffordern, sich doch etwas mehr zuzutrauen. Was natürlich nicht immer leicht ist, wenn man sieht, wie männliche Fotografen auftreten, die schon allein kraft ihres Körpers mehr Präsenz und Durchsetzungsvermögen an den Tag zu legen scheinen. Es gibt Fotografen, die meinen, Frauen seien schon alleine deshalb nicht in der Lage, Street Photography zu betreiben. Das ist natürlich kompletter Blödsinn!

Danke für das Gespräch!

Sabine Schnakenberg ist Kuratorin für Fotografie in den Deichtorhallen in Hamburg.

Die Eröffnung von STREET. LIFE. PHOTOGRAPHY findet heute, Dienstag, 10.09.2019, um 19:00 im Kunsthaus Wien statt.

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Kunsthaus Wien!

RAHMENPROGRAMM

11.09.19, 18:00

Dialogführung mit Kuratorin Sabine Schnakenberg und Fotografinnen der Ausstellung

17.10.19, 18:00 / 22.01.20, 17:00

Kuratorinnenführung mit Verena Kaspar-Eisert

22.01.20, 18:00

Vortrag von Christoph Schaden „Bühnen des Realen. Momente des Theatralen in der Street Photography“

21.09.19, 10:00–16:00 / 23.11.19, 10:00–16:00 / 25.01.20, 10:00–16:00

Street Photography Workshops mit Kay von Aspern

19.10.19, 14:00–16:00 / 30.11.19, 10:00–12:00

Photowalk „Streets of Vienna“ mit Niko Havranek

12.10.19, 14:00–16:00 / 16.11.19, 14:00–16:00

Workshop für Jugendliche „Mein buntes Wien“ ab 10 Jahren

12.10.19 14:00–16:00 / 16.11.19, 14:00–16:00