Der Kitsch

„Kitschig ist, was nur schön ist – und nichts darüber hinaus.“

Wer sich mit dem Schönen befasst, stolpert schon mal schnell in die Kitsch-Ecke. So auch der österreichische Künstler Ernst Miesgang, der sich des Themas mit „kreativ-ironischer Aggression“ annimmt. Beim Anblick von Nippes packt ihn die Zerstörungswut. Für seine Serie „Shattered“ hat der Künstler kitschige Keramik und Porzellanfiguren zerschmettert und die Scherben zu eigenständigen Plastiken neu zusammengesetzt. Aber was ist das überhaupt – Kitsch? Und wofür brauchen wir ihn?  

Text: Paula Pankarter, Artwork: Ernst Miesgang   

„Mama, ich will das haben! Ich muss das haben!“ 

Jede erinnert sich noch an diesen Moment, als man damals als Kind voller Ehrfurcht auf das penibel sortierte Nippes-Regal der Großmutter starrte. All diese wundervollen kleinen Figürchen: Häschen, Vögelchen, Mädchen aus Porzellan. Ach! So filigran, ihre feinen Rundungen und diese samtig wirkenden glatten Oberflächen. Ihre zierlichen Gestalten erstarrt in verspielt-eleganten Posen; ihre zarten Züge, ihr unschuldiger eingefrorener Gesichtsausdruck, ein leicht neckisches Lächeln auf den Lippen, ein rührseliger Blick. Nippes fasziniert uns, weil es einen Moment vollendeter Schönheit bannt und diese Schönheit damit jeglicher Zeitlichkeit enthebt.  

„Kitschig ist, was nur schön ist – und nichts darüber hinaus.“ 

Wir spürten, wie es uns in den Fingern juckte, wir wollten dieses entzückende kleine Ding unbedingt berühren, es wie ein Küken im Ei mit den Händen umschließen. Doch Anfassen war verboten! Schon eilte die aufgeregte Großmutter herbei, voller Angst um ihre Kostbarkeiten. Stolz erzählte sie den Enkelinnen von jedem einzelnen Stück ihrer Sammlung. Doch die sehnsüchtige Bitte, das ach so süße Figürchen doch einmal berühren zu dürfen, wurde vehement verweigert, denn die Großmutter warnte eindringlich: „Porzellanfiguren sind sehr zerbrechlich!“ Die Empfindlichkeit der Figuren hebt ihren Wert. Wir haben das Bedürfnis, sie zu beschützen, alles Chaos der Welt von ihnen fernzuhalten, sie vor der Zerstörung dieser ihnen innewohnenden Perfektion zu bewahren. Mit der Entzückung geht auch die Furcht vor Rissen in ihrer vollkommen makellosen Oberfläche einher.  

„Nippes fasziniert uns, weil es einen Moment vollendeter Schönheit bannt.“ 

Ich kann mich noch genau daran erinnern, als meine Großmutter mir als Kind eine ganz kleine Porzellanpuppe geschenkt hat, weil ich mit ihren nie spielen durfte. Ich war fest davon überzeugt, dass dieses Spielzeug das Schönste war, was ich je besessen hatte: ihr voller blonder Lockenschopf, das himmelblaue Tüllkleid und die kirschroten prallen Lippen. Als meine Schwester und ich das erste Mal im Hof mit dem Püppchen spielten, zerbrach sie. Der Schock, ihr abgetrenntes schneeweißes Beinchen auf den braunen Pflastersteinen liegen zu sehen, sitzt immer noch tief. Die Unantastbarkeit von Nippes steigert bei den Kleinen das Begehren umso mehr. Denn all das, was Kinder nicht haben dürfen, wollen sie erst recht in Besitz nehmen: „Mama, ich will das haben. Ich muss das haben!“ Eltern können das verzweifelte Verlangen ihrer Kinder, dieses vollendet schöne Objekt in Händen zu halten, meist nicht nachvollziehen. Für sie ist Nippes oft nichts anderes als grässlicher Kitsch – nutzlose Staubfänger. Mit dem Erwachsenwerden versiegt diese Sehnsucht. Wir gestehen uns ein, dass die Eltern Recht hatten, all diese putzigen Püppchen und Tierchen sind wirklich grauenvoll. Wenn ich heute beim Ausmisten im ehemaligen Kinderzimmer unter dem Bett den alten Porzellanclown im nachtblauen Seidenkostüm entdecke, finde ihn einfach nur noch abscheulich und werfe ihn voller Scham in den Mülleimer.  

„Wieso brauchen wir Kitsch – vor allem am Anfang und am Ende unseres Lebens?“ 

Erst mit dem Lebensabend erwacht dieses Bedürfnis nach Kitsch offenbar wieder. Im Gegensatz zu Kindern können die Alten diesem ungeniert frönen und ihre ganze Wohnung damit befüllen. Doch was ist das, dieses Bedürfnis nach Kitsch? Und wieso brauchen wir Kitsch – vor allem am Anfang und am Ende unseres Lebens? Kitschig ist, was nur schön ist – und nichts darüber hinaus. Kitsch ist einfach, birgt in sich keinerlei Widersprüche, verbannt jegliche Form von Komplexität und verflacht alles zu einer hübschen Oberfläche. Daher wird Kitsch häufig als Gegenteil der Wahrheit, als verlogene Verniedlichung der Welt definiert. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso er vor allem ganz junge und ganz alte Menschen fasziniert. Das Kind sieht die Welt in ihrer reinen Schönheit, hinterfragt sie nicht. Die Alten treibt das Verlangen nach diesem kindlichen Blick.   Wir werden mit dieser Unschuld geboren und scheiden mit der Sehnsucht nach dieser aus der Welt, und in der Zeit dazwischen finden wir all das ziemlich öde. 

Der Wiener Künstler Ernst Miesgang (* 1980 in Linz) hat an der Akademie der bildenden Künste Wien studiert. Er arbeitet mit Kollagen, Plastiken und Fotografie. Als Ausgangsmaterial seiner Kunstwerke verwendet er Gegenstände, die leicht und in rauen Mengen verfügbar sind und deren Erscheinungsform ihn „so richtig anpisst“. Seine naturwissenschaftlich inspirierte Arbeitsweise eröffnet neue Perspektiven auf Altbekanntes, um so die Sehgewohnheiten des Publikums zu irritieren. Für seine Serie „Shattered“ (2014–2018) klebt der Künstler die Scherben zerschmetterter Kitsch-Keramik und Porzellanfiguren mit Epoxidharz zu neuen Gebilden zusammen. Die Plastiken geben vor, anatomische Modelle zu sein. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass sie reine Fantasieprodukte sind. Miesgang hatte schon Ausstellungen in Wien, Helsinki, London, Moskau und Athen. 

Der Astronaut

Text: Eva Holzinger

Der 59-jährige Kanadier Chris Austin Hadfield ist wohl einer der bekanntesten Astronauten. Wer, wenn nicht er, dachten wir uns, kann über das Schöne sprechen? Seine Tweets aus dem All – ja, dort gibt es Twitter – machten ihn berühmt: Wenn er nicht gerade mit der Queen chattet oder David Bowies „Space Oddity“ in der Schwerelosigkeit interpretiert, erzählt er auf YouTube und Co. über das Leben und Arbeiten im All. Er ruft uns für das Interview via Facetime an. Drei Flüge ins All, zwei Spacewalks, ein Spaceship unter seiner Führung und exakt 30 Minuten Zeit, um über das Schöne, die Zeit und Angst im All zu sprechen. 

Die Ordensschwester

Text: David Meran

Die dicken Wände des Klosters Kirchberg in Niederösterreich stammen aus vergangenen Jahrhunderten, doch nicht die Schwestern, die darin leben. Wir fragten eine, die es wissen muss: Ordensschwester und Psychotherapeutin Teresa Hieslmayr gibt unorthodoxe Antworten auf komplizierte Fragen. Was theologischer Umweltschutz bedeutet, wie Gott während der Corona-Krise helfen kann, und warum billiges Schweinefleisch Sünde ist. 

Die Sehenden

Text: Viktoria Kirner, Fotos: Christian Benesch

Unweit des grünen Praters treffen wir Julia, Kerstin, Damla, Dilan und Juan. Sie alle sind blind oder stark sehbeeinträchtigt. Wir sprechen mit ihnen über VorurteileSeegurken und die Schönheit von glatten Bildschirmen. Wir möchten erfahren, was der in unserer Kultur stark visuell konnotierte Begriff  Schönheit für Menschen bedeutet, die nicht oder kaum sehen können.