Der Experimentalfilmer

Obsessive filmische Erkundungen

Johann Lurf gilt als einer der renommiertesten jungen Vertreter der Experimentalfilmszene des Landes. Kürzlich wurde er mit dem Outstanding Artist Award Österreichs ausgezeichnet. Für seine Arbeiten schreckt er nicht vor unkonventionellen Verfahren zurück. Es hat schon etwas von Guerilla-Taktik, wenn er in mitternächtlichen Aktionen an öffentlichen Orten Wiens Feuerwerkskörper zündet, monatelang recherchiert, um versteckte Rüstungsfabriken aufzustöbern oder gleich direkt bei der NASA anruft, um Filmmaterial zu akquirieren.

Text: Shilla Strelka

„So bin ich sehr präzise."

Shilla Strelka: Du bist viel unterwegs. Man bekommt Dich in Wien immer seltener zu Gesicht...

Johann Lurf: Man muss jede Gelegenheit nutzen, um aus Österreich rauszukommen.

Wirst Du im Ausland oft im Kontext des sogenannten Wiener Experimentalfilms rezipiert?

Ja klar, natürlich passiert das, weil die Leute halt gerne in Kategorien denken, auch in geographischen. Dem kommt man nicht aus. Ich versuche aber, nicht da kleben zu bleiben. Ich gehöre keiner Schule an.

Alle Deine Filme experimentieren ja irgendwo mit unserer Wahrnehmung ...

Das klingt so trocken, ist aber ein großer Spaß.

Warum machst Du Filme?

Der Reiz am Bewegtbild ist, dass es an der menschlichen Wahrnehmung so nah dran ist und einen starken, direkten Effekt auf uns hat.

Warum filmst Du nie Menschen?

Menschen ziehen in einem Bild sehr viel Aufmerksamkeit auf sich. Das ist natürlich nicht falsch, aber ich interessiere mich in meiner Arbeit eher für die Dinge, die Menschen machen. Damit ich nicht über einen Menschen spreche, sondern über Menschen im Generellen und gleichzeitig auch über mich selbst, über einen Ort, eine Struktur, einen Rhythmus - das ist alles Teil meiner Gefühlswelt.

„Film mehrfach sehen"

Neben Deinen dokumentarischen Arbeiten, arbeitest Du auch gern mit Found Footage. Diese Filme basieren sehr oft auf einer seriellen Anordnung. Sie stellen auf diese Arten Ähnlichkeiten aus, die wir davor vielleicht gar nicht so wahrgenommen hätten. Durch die Wiederholung bestimmter Motive setzt Du Dinge neu in Beziehung. Man gewinnt eine neue Perspektive.

Du sagst es schon wunderschön. Ich finde es spannend, einen Film mehrfach zu sehen, auch ein Bild nochmal zu besprechen, zu re-kontextualisieren, neu zu überlegen. Durch das wiederholende Sehen lerne ich einfach viel mehr über das Bild oder eine gewisse Struktur. Und durch diese Wiederholung kann ich das auch in tolle Melodien und Rhythmen packen. So bin ich sehr präzise.

Deine Filme nehmen das Verfahren des Experimentierens tatsächlich sehr ernst. Das heißt, Du weißt im Vorhinein nicht hundertprozentig, was am Ende herauskommt. Es sind Versuchsanordnungen, oder?

So würde ich es nicht sagen. Ich mag den Begriff Experimentalfilm ganz gerne. Da gibt es ja ganz unterschiedliche Auffassungen von dem Begriff. Ich würde selbst nie behaupten, Avantgardefilm zu machen.

Warum?

Weil ich nicht weiß, ob ich die Avantgarde bin. Das muss von außen beurteilt werden. Die, die glauben, dass sie Avantgardefilm machen, machen schon längst keinen mehr, könnte man polemisierend sagen. Das Experiment passiert bei mir vor allem in der Planungsphase. Das Drehen selbst ist dann das Ergebnis der Experimente, die ich “nur” auf den Punkt bringe.

„Selbst nie behaupten, Avantgardefilm zu machen"

Das heißt, am Anfang steht bei Dir immer eine experimentelle Fragestellung?

Genau. Ich frage: Funktioniert das, wie ich es mir vorstelle? Ich habe eine Idee für einen Film, egal, ob das jetzt ein rhythmisches Schnittmuster ist, oder eine komplexe Versuchsanordnung. Dann experimentiere ich mit dieser Technik - teilweise ganz krude, manchmal auch sehr aufwendig - um herauszufinden, ob das was ich machen will, überhaupt geht. Und wenn ich herausgefunden habe, dass es geht, beginne ich mit dem Drehen.

Wie kommst Du zu Deinen Motiven?

Es gibt zwei Dinge, die ich bemerkt habe. Einerseits, dass ich mich für Objekte interessiere, die gemacht wurden, um gesehen zu werden und andererseits interessiere ich mich für Dinge, die gemacht wurden, um NICHT gesehen zu werden. 
Im Film "Kreis Wr. Neustadt" geht es etwa um Orte der Repräsentation, die gemacht sind, um angesehen zu werden. Wenn man das in den Kontext einer filmischen Struktur setzt, kann man Vergleiche ziehen und einen Kommentar über das Gesehene abgeben. In den Filmen "Embargo" und "Reconnaissance" geht es wiederum um Objekte, die man nicht sehen soll, die versteckt sind. Auch dort versuche ich durch das Zeigen der Objekte mehr herauszufinden.

„Ich will keine Antworten liefern, ich will Fragen stellen.”

In den zwei letzteren von Dir genannten Filmen geht es um die geheime Rüstungsindustrie in Österreich und eine militärische Testanlage für Unterwassertorpedos in Kalifornien. Auf den ersten Blick erschließt sich oft gar nicht, dass Deine Filme soviel politischen Subtext haben?!

Die Titel geben auf jeden Fall einen Hinweis. Ich will keine Antworten liefern, ich will Fragen stellen und Informationen sammeln, die es auf diese Art noch nicht gab. Außerdem verstehe ich die Filme immer auch als Ausgangspunkt für Recherchen zu anderen Projekten.

Du hast kein Interesse zu kommentieren oder zu erklären. Warum nicht?

Weil ich so wenig wie möglich mit Pauschalisierung und Schubladen arbeiten möchte, die führen in ganz vielen Fällen zu Fehlschlüssen. Sprache arbeitet mit Generalisierungen, aber Film muss das nicht und dementsprechend möchte ich lieber einen Raum schaffen oder eine Zeitspanne, innerhalb derer der Zuschauer nachdenkt.

Was sind Deine Einflüsse? Strukturalistische Filmemacher? Investigativ-Ästhetiker wie Trevor Paglen oder Harun Farocki?

Ich würde eher sagen, dass ich versuche, eine ungewohnte Perspektive einzunehmen, die ein Nachdenken provoziert. Natürlich steht man in vielen Traditionen, es gibt Internet, es gibt die Kunst. Ich knüpfe nicht absichtlich an was an. Meine größte Inspirationsquelle ist aber sicher die Musik, die mir mehr über Struktur und Rhythmus beibringt, als die meisten Filme. Musik ist viel offener als Film, der durch Bilder viel festlegt.

„Meine größte Inspirationsquelle ist sicher die Musik.”

Wobei Musik auch selten eine bestimmte Aussage treffen möchte …

Ja, eben, ich finde die Wirklichkeit einfach zu spannend, sonst würde ich abstrakte Filme machen.

In vielen Deiner Filme wählst Du bestimmte Gebäude aus, die Du mit Deinen Bildern geradezu sezierst. Es ist ein sehr präziser, fokussierter Zugang, der teils alltägliche, teils obskure Architekturen, zum Spektakel werden lässt. Deine Observationen sind oftmals so obsessiv, dass der Kamerablick mitunter paranoid wirkt. Wie castest Du Deine Drehorte?

Ich recherchiere im Vorfeld über die jeweiligen Orte soviel ich kann: mit Hilfe von Landkarten, Fotos, 3D-Modellen, und was es sonst noch an Information gibt. An den Ort fahre ich immer schon mit einer Vorstellung, wie der Film aussehen könnte. Vor Ort sehe ich dann, ob das Vorhandenen überhaupt mit meiner Idee zusammenpasst. Dann mache ich Testaufnahmen und wenn es gut ist, lasse ich mich mehr darauf ein.

„Schokolade ist kein Mittel, um im Kino nicht einzuschlafen.”

Es gibt in Wien nicht nur einen global vernetzten Verleih und Vertrieb für Experimentalfilm wie Sixpackfilm, sondern auch Institutionen wie Viennale, Filmmuseum oder dem Ursula Blickle Kino, die den Experimentalfilm als künstlerisches Format ernstnehmen. Wie schätzt Du die Szene ein?

Wien ist genial, weil es hier eine Experimentalfilm Community gibt, zu der man sehr schnell Kontakt findet. Es gibt mehr als ein Experimentalfilmscreening pro Woche in Wien, das sehenswert ist. Das gibt es an anderen Orten in der Form nicht.

Zum Schluss noch ein paar kurze Fragen: Wie nimmst Du Zeit wahr?

Zeit ist kost- und dehnbar!

Wie ungeduldig bist Du?

2 auf einer Skala von 0 bis 10

Meinst Du, man müsste unsere Wahrnehmung entschleunigen?

Klar, aber manchmal auch beschleunigen.

Du schläfst angeblich regelmäßig im Kino ein?

Viel zu oft.

Was sagt das über die Filme, die im Kino laufen?

Das passiert mir leider auch bei guten Filmen. Wenn der Tag lang war und man müde ist, schläft man einfach ein. Ich habe probiert, mit Schokolade dagegen zu arbeiten, mit dem Effekt, dass ich mit der Schokolade im Mund eingeschlafen bin und mit der Schokolade im Mund wieder aufgewacht, was eine sehr interessante Erfahrung war. Also Schokolade ist kein Mittel, um im Kino nicht einzuschlafen.

Man lernt nie aus. Ich danke Dir für dieses Gespräch. Viel Spass in Tokyo!


Johann Lurf
(*1982 in Wien) setzt sich in seinen investigativen Arbeiten vordergründig mit Fragen von Repräsentation, Herrschaftsverhältnissen und verborgenen Architekturen auseinander (Filme wie 12 Explosionen, Embargo, Endeavour). Gleichzeitig irritieren seine technisch versierten, formalistischen Anordnungen auf subtile Weise unser Verständnis von Raum und Zeit. Die Viennale widmete ihm einen Schwerpunkt, auch Wiener Institutionen wie Mumok und Secession oder Berlinale oder das International Film Festival Rotterdam zeigen seine Arbeiten.

Lurf hat an der Akademie der Bildenden Künste Wien studiert: bei Walter Obholzer Abstrakte Malerei, darauf hin besuchte er die Klassen von Erwin Bohatsch und Dorit Margreiter. Beim deutschen Essayfilmer Harun Farocki hat er schließlich sein Studium in Wien abgeschlossen.

Die vollständige Filmographie findet man auf:
www.johannlurf.net

Johann LURF: Reconnaissance (EXCERPT) auf Vimeo
Johann Lurf: 12 Explosionen auf Vimeo

Die Gelatins

Text: Antje Mayer-Salvi

Die vierköpfige Künstlergruppe Gelatin ist einer der wenigen internationalen Superstars der österreichischen Kunstszene. Tabuisiertem wie Nacktheit, menschlichen Exkrementen und Genitalien stellen sie sich mit geradezu kindlicher Neugier. Mit ihren sinnlichen, humorvollen, spektakulär poetischen Installationen und Performances loten sie nicht nur ihre eigenen Grenzen aus, sondern auch die des – fröhlich enthemmten bis verärgert verstörten – Publikums.