Der Schildkrötenmann

Die magischen Tiere

Manche sammeln Briefmarken, der österreichische Unfallchirurg Peter Valentin Schildkröten: Über 600 hält er in seinem Garten in Klosterneuburg bei Wien. Diese Tierart überlebte die Dinosaurier, die Neandertaler und Jesus Christus. Ihre Superkraft ist ihre Unauffälligkeit. Nun könnte den 220 Millionen Jahre alten Reptilien nur noch der Mensch zum Verhängnis werden. Ein Gespräch über eine große Leidenschaft und ein verrücktes Hobby.

Text: Lara Ritter; Fotos: Elodie Grethen

Bei einigen Schildkrötenarten sind die Männchen kleiner als die Weibchen.

„Am Ende des Sommers haben sie nicht mehr ins Aquarium gepasst.“

Lara Ritter: Wir stehen hier im „Garten“ Ihres Hauses. In diesen sechs Glashäusern züchten und halten Sie hunderte Schildkröten. Halten Ihre Nachbarinnen Sie für verrückt?

Peter Valentin: Ich nehme es an! Mein Interesse für Naturwissenschaften und die Sammelleidenschaft habe ich wohl von meinem Vater geerbt, der war begeisterter Astronom und hat Briefmarken gesammelt. Bei mir sind diese beiden Veranlagungen scheinbar ineinander verschmolzen. 

Briefmarken sind etwas pflegeleichter. Mit Hunden geht man spazieren, Katzen streichelt man. Was machen Sie mit Ihren „Haustieren“?

Beobachten und lernen. Viele denken, Schildkröten seien fad und langsam, aber das stimmt nicht! Sie sind verdammt schnell, wenn sie hungrig sind, und clever. Sie hören und sehen zwar schlecht, aber sie nehmen Erschütterungen wahr und erkennen mich sogar an meinem Schritt. Wenn ich komme, bleiben sie ruhig, stürmt jedoch mein Sohn mit anderen Kindern ins Gewächshaus, verstecken sie sich. Sie, Frau Ritter, strahlen eine positive Schildkrötenaura aus, denn die Tiere bleiben bei Ihnen unbeeindruckt auf ihrem Platz.

Das ehrt mich! Woran merken Sie, wie Ihre Schildkröten gelaunt sind?

Walter Sachsse, ein Schildkrötenforscher aus Deutschland, hat einmal gesagt: „Eine gesunde Schildkröte sieht man nicht.“ Sie kommt nur heraus zur Nahrungsaufnahme, zur Paarung und zum Eierlegen, sonst lebt sie versteckt, weil sie praktisch ständig ums Überleben kämpft. Wenn man sie nicht sieht, weiß man, dass es ihr gut geht. 

„Eine gesunde Schildkröte sieht man nicht.“

Erzählen Sie uns von Ihrer ersten Schildkröte!

Mein erstes Haustier war eine Rotwangen-Schmuckschildkröte, die mittlerweile in der EU verboten ist, damit sie sich hier nicht vermehrt. Unsere war einsam, also hat meine Familie eine zweite besorgt. Die beiden hießen wegen ihrer Panzer „Die Helle“ und „Die Dunkle“. Eines Tages kam eine dritte dazu, die tauften wir Gottfried, weil an diesem Tag Gottfried Namenstag hatte. Eine Zeit lang nannte ich jede neue Schildkröte nach dem Namenstag, an dem ich sie erhalten hatte.

Mit der Zeit kamen über 600 Schildkröten dazu. Gehen Ihnen langsam die Namen aus?

Nur ein paar prominente Tiere haben einen Namen, zum Beispiel meine Riesenschildkröte George, die lieben alle. Er ist neugierig, verschmust und liebt es, gestreichelt zu werden. Er ist circa 30 Jahre alt, also gerade in der Pubertät. Ich habe ihn bekommen, da war er ein Kleinkind. Meine Freunde haben mich damals gewarnt, dass er riesig werden würde – so war’s dann auch.

„George ist circa 30 Jahre alt, also gerade in der Pubertät.“


Kuscheln Sie mit Ihren Tieren?

Mit meinem George, weil er zutraulich ist, aber ansonsten gehört sich das nicht. Schildkröten lässt man in Ruhe, das sind Wildtiere, die man nicht domestizieren kann. Außerdem sind sie Eigenbrötler, nur ein- bis zweimal im Jahr treffen sie sich zur Paarung, das war’s. Die kleinen japanischen Erdschildkröten halten einen Respektabstand von annähernd 50 Metern zueinander.

Wie werden aus drei Schildkröten mehr als 600?

Wir lasen in einem Buch, dass die Tiere Sonne und Wärme brauchen, also kauften wir ein Kinderplanschbecken. Dort haben sie sich den ganzen Sommer über gesonnt. Am Ende waren sie so groß, dass sie nicht mehr ins Aquarium gepasst haben. Freunde der Familie brachten im Jahr darauf ihre Schildkröten zur Sommerfrische zu uns. Es ist das Gleiche passiert wie mit unseren Schildkröten ...

... sie sind zu groß für das Aquarium geworden?

Genau. Da wir ein Aquarium hatten, das gerade unbewohnt war, haben wir sie bei uns aufgenommen. Ab da ist die Zahl unserer Schildkröten zu einer epischen, schon fast nicht verdaulichen Zahl von über zehn herangewachsen ...

„Schildkröten sind Eigenbrötler!"

... nicht so episch wie 600!

Bei zehn Tieren ist es lange geblieben. Ende der 90er-Jahre machte ich dann einige Reisen nach Südostasien und importierte damals schon seltene Schildkröten über einen Tierhändler in Hongkong. Mittlerweile sind viele dieser Arten in freier Wildbahn ausgerottet und leben nur mehr in Gefangenschaft bei Verrückten wie mir. Heute sind die meisten meiner Schildkröten eigene Nachzuchten.

Ein Aquarium reichte wohl bald nicht mehr aus?

Sobald in meinem Zimmer kein Platz mehr war, okkupierte ich den Dachboden und den Garten meiner Eltern. Als ich dann berufsbedingt nach Gmunden im Salzkammergut zog, mietete ich eine Wohnung und flutete den dazugehörigen Keller, um meine Wasserschildkröten dort unterzubringen. Ein Zimmer richtete ich für meine Landschildkröten her. 

„Ich habe den Keller für die Wasserschildkröten geflutet.“

Sie sind selbstständiger Kniespezialist mit einer eigenen Praxis. Wie passt dieses „normale Leben“ zu Ihrer überdurchschnittlich großen Leidenschaft für Schildkröten?

Eine Freundin, die Chefin eines Instituts für Meeresbiologie in Bangkok ist, hat mich einmal gebeten, eine Meeresschildkröte zu operieren, die sie zur Pflege hatte. Die Schildkröte konnte einen Arm nicht bewegen, und meine Freundin meinte: „Du bist Unfallchirurg, mach das.“ Ich lehnte erst vehement ab, ich bin ja kein Tierarzt. Sie überredete mich dann doch und narkotisierte die Schildkröte. Ich renkte ihre Schulter wieder ein, danach war sie einige Monate in Physiotherapie. Am Ende hat sie sich gut erholt, und meine Freunde haben mir ein Video geschickt, als sie sie wieder im Meer ausgesetzt haben. 

Schildkröten spielen eine große Rolle in der Mythologie – wird ihnen das zum Verhängnis?

Sie werden vor allem in der traditionellen chinesischen Medizin als Medikament betrachtet. Das ist der Dreistreifen-Schanierschildkröte zum Verhängnis geworden, denn ihr wird nachgesagt, dass sie in Form von Suppe Krebs heilt. Etliche wissenschaftliche Arbeiten haben das bereits widerlegt, aber die Mythologie besagt das immer noch. Deswegen werden sie in China zu abertausenden auf Farmen gezüchtet und erzielen utopische Preise. Sie gehört dort zu jedem größeren Firmenessen, zu jeder Hochzeits- und Familienfeier. Wenn der Onkel ein Krebsleiden hat, bekommt er zwei Schildkröten in die Suppe. 

„Wenn der Onkel ein Krebsleiden hat, bekommt er zwei Schildkröten in die Suppe.“

Was muss passieren, damit die Schildkröten in Zukunft nicht aussterben?

Wir müssen die Urwälder erhalten, anstatt alles zuzubetonieren und zu landwirtschaftlicher Nutzfläche zu machen. Und was alles im Meer landet, weiß jede. 

Expertinnen sehen den Handel mit Schildkröten als einen Teil des Problems an. Sehen Sie sich da in der Mitschuld?

Definitv nicht. Die wahren Probleme sind die Rodungen der Wälder in Südostasien, die illegale Wilderei und der Verkauf der Schildkröten auf chinesischen Wildtiermärkten. Außerdem ist der Handel mit Schildkröten mittlerweile stark reglementiert, und die Tiere, die noch importiert werden, sind selten der Wildnis entnommen, sondern meist gezüchtete Tiere. Zudem wird bei diesen Vorwürfen außer Acht gelassen, dass Schildkrötenhalterinnen mittlerweile mehr wissenschaftliche Arbeiten über die Haltung, Biologie und Nachzucht der Tiere publizieren als Zoos und Museen. 

Gibt Ihnen die Beschäftigung mit diesen magischen Tieren Kraft?

Auf jeden Fall. Oft kommen Patientinnen zu mir, die verzweifelt sind. Da hilft es, nicht nur gescheit daherzureden, sondern da überträgt sich auch ein Kraftfluss von mir auf sie. Diese Energie hole ich mir unter anderem von den hunderte Millionen Jahre alten Schildkröten.

„Jetzt sind wir quitt.“

Was können Schildkröten besonders gut, was Sie auch gerne können würden?

Ich sollte mir von ihnen die Ruhe, Gelassenheit und den Winterschlaf abschauen.Von Anfang November bis Mitte März ruhen – das würde mir gefallen! 

Nerven Ihre Tiere auch zuweilen?

Ich erlebe oft Überraschungen, seien es Ausbrüche, Verwüstungen im Gehege, oder wenn eine Schildkröte zur anderen rüberklettert und sich mit ihr streitet. Da kann es zu schlimmen Verletzungen kommen. 

Schildkröten haben ein gutes Gedächtnis – sind sie nachtragend?

Einem meiner asiatischen Schildkrötenweibchen ist einmal der Oberkiefer zu lang gewachsen, und ich musste einen Teil der Hornplatte abschneiden. Das hat ihr nicht getaugt, da war sie echt grantig. Am nächsten Tag bin ich im Gehege gestanden, habe die Schildkröten gefüttert und auf einmal einen wahnsinnigen Schmerz in der Achillessehne gespürt. Da hat mich die Schildkröte doch einfach in die Wade gebissen! Ich hatte das Gefühl, dass sie mich auslacht und angrinst, nach dem Motto: „Jetzt sind wir quitt“. Das war ihre Rache, seitdem hat sie das nie wieder gemacht. 

Riesenschildkröten werden 200 Jahre alt – was passiert, wenn sie Sie überleben?

Darüber müssen sich meine Erben den Kopf zerbrechen (lacht). Die Schildkröten werden hoffentlich weiterhin ihren Spaß haben und ein gutes Zuhause finden. Der Idealfall für einen Schildkrötenzüchter wie mich ist natürlich, wenn die Kinder genauso verrückt sind wie die Eltern. 

Wir danken für das Gespräch!

Dieses Interview ist in der Printausgabe 4/2021 „The Wasted Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.

Peter Valentin ist Facharzt für Unfallchirurgie und lebt mit seiner Frau, seinem Sohn, seinen zwei Hunden und über 600 Schildkröten in Klosterneuburg bei Wien.

Der Kitsch

Text: Paula Pankarter, Artwork: Ernst Miesgang   

Wer sich mit dem Schönen befasst, stolpert schon mal schnell in die Kitsch-Ecke. So auch der österreichische Künstler Ernst Miesgang, der sich des Themas mit „kreativ-ironischer Aggression“ annimmt. Beim Anblick von Nippes packt ihn die Zerstörungswut. Für seine Serie „Shattered“ hat der Künstler kitschige Keramik und Porzellanfiguren zerschmettert und die Scherben zu eigenständigen Plastiken neu zusammengesetzt. Aber was ist das überhaupt – Kitsch? Und wofür brauchen wir ihn?  

Verschwendet Euch!

Text: Lara Ritter, Antje Mayer-Salvi, Fotos: Rafaela Pröll, Make-Up: Nico Pessl-Jaritz, Stylist: Simon Winkelmüller

In Ischgl feiern Ski-Touristinnen Corona-Partys vor der ruinierten Berglandschaft, die Meere gehen über die Ufer, das Virus über die Welt, alle isoliert und Greta weint. In einer Welt, in der alles im Überfluss vorhanden ist, in der ausufernder Konsum Natur und Gesundheit zerstört, ist die Verschwendung in Verruf geraten: Marie Kondōs Aufräumarmee, Minimalismus, Selbstoptimierung und ein neuer Moralismus haben ihr den Kampf angesagt. Aber brauchen wir Menschen nicht die Verausgabung zum Glück, das Miteinander im Fest und den rituellen Exzess? Wir haben sechs beeindruckende Persönlichkeiten danach gefragt, welchen Platz die Verschwendung in ihrem Leben einnimmt. 

Der Herr Eidinger

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Lars Eidinger ist? Der wohl beliebteste Bösewicht des deutschen Fernsehens, Schauspieler, Fotograf, DJ – zusammengenommen die omnipräsente Hingabe. Wir sprechen über Fledermäuse, das Böse, die Selbstzerstörung und über Eidinger.

Der Fleischer

Text: Antje Mayer-Salvi mit Lisa Lugerbauer, Fotos: Christian Anwander

Heute ist Leopold Hödl schon um halb zwei Uhr morgens aufgestanden, um „seine Viecher“, aus denen er später Wurst, Steak und Schnitzel fabriziert, persönlich auszusuchen. Er führt die letzte Metzgerei in Wien, die noch selbst schlachtet. Der Geruch nach Blut und Tiere zu töten, macht ihm nichts aus. Massentierhaltung und grenzenloser Fleischkonsum ist ihm allerdings zuwider. Schon als kleiner Bub ging er seinen Eltern Leopold und Leopoldine zur Hand. Seine größten Leidenschaften sind sein Beruf und seine Frau.