Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener dichtet die schönsten Lieder für seine Band Element of Crime und schreibt Bestseller wie Herr Lehmann, die die tragische Komik
oder die komische Tragik unseres Lebens beschreiben. Kürzlich brachte die Band ihr neues Album Morgens um vier heraus. Wir trafen Regener in Wien – zum Frühstück um zehn.
Text: Antje Mayer-Salvi, Fotos: Charlotte Goltermann, Maša Stanić
„Still ist die Stadt / Die Straßen sind leer / Müde und wach / Morgens um vier.“ – Im Herbst ist Element of Crime auf Tour in Österreich. Die Band gastiert am 20.9. in Linz, am 21.9. in Wien und am 24.9. in Salzburg.
Antje Mayer-Salvi: Guten Morgen! Euer kürzlich publiziertes Album heißt „Morgens um vier“. Zu dieser Tageszeit beginnt auch Dein berühmtes Buch und der gleichnamige Film „Herr Lehmann“. Der Protagonist torkelt im Morgengrauen von der Kneipe nach Hause, was in einer skurrilen Begegnung mit einem Hund mündet. Diesem Moment des Übergangs von Nacht zu Tag wohnt etwas Magisches inne!
Sven Regener: Er kann auch als bedrohlich empfunden werden, weil man in dieser Zeit manche Gedanken nicht loswerden kann, um vier Uhr morgens will schließlich kein Mensch aufstehen. Die Erde scheint stillzustehen, sogar in den großen Städten ist niemand unterwegs. Alles ist ruhig. Da kann man schon mal so richtig allein sein.
Dieses Motiv kommt immer wieder in Euren Liedern vor!
Es ist ein gutes Thema für Songs, weil man in dieser Zeit in einen
Schwebezustand gerät. Nicht nur, wenn man auf dem Heimweg ist, sondern
auch, wenn man um vier Uhr aufwacht und nicht mehr einschlafen kann. Da
denkt man an anderes als am Nachmittag.
Hat der Titel auch etwas damit zu tun, dass man sich mit sechzig Jahren in einer ähnlichen Dazwischen-Lebensphase befindet – noch nicht alt, aber nicht mehr jung?
Ich hatte noch nie ein Alter, bei dem ich dachte, dass ich jetzt in
einem soziokulturellen Biotop angekommen sei, in dem ich richtig dazugehöre. Für unsere Songs ist das gut. 1989 haben wir ein Stück
herausgebracht, das „Waiting For The Morning Train“ heißt. Darin geht es
um die erste U-Bahn, die erst um halb fünf morgens kommt. Ein anderes
Lied aus dem Jahr 1996 handelt von dem ersten Morgengrauen, bevor die
erste Straßenbahn fährt.
Dieses Lied ist ein Must-Play für die Fans auf Konzerten von Element of Crime: „Sag nicht, dass das gar nicht nötig wär / Denn schmerzhaft wird es erst hinterher / Wenn wieder hochkommt, was früher mal war / Dann lieber so rein und so dumm sein / Wie weißes Papier.“ – Auszug aus dem Lied „Weißes Papier“ vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 1993, mit dem ihre erste Chart-Platzierung gelang.
In einem Eurer Lieder singst Du „Ich werd' nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier“. Bist Du heute weise?
So etwas über sich selbst zu sagen, wäre entweder Eigenlob oder
Koketterie. Es geht auch gar nicht um Weisheit, sondern um Erfahrung
versus Naivität. Was wir erleben, macht uns nur bedingt klüger. Wenn man
jung ist, hat man eine ganz bestimmte Vorstellung von der Welt.
Irgendwann stellt man fest, wie kompliziert und komplex das Leben ist.
Durch mehr Erfahrung kann man auch ratlos werden.
Ich habe den Eindruck, dass Ihr mit Eurer Musik und der Band immer noch ziemlich viel Spaß habt. Stimmt das?
Ja, dass es Spaß macht, ist das Entscheidende. Dafür nimmt man die
Herumfahrerei auf Tournee in Kauf. Man ist mal zwei Tage in Wien, dann
fährt man in einem Bus weiter nach München. Alles wird neu aufgebaut,
man macht den Soundcheck, geht ins Hotel. Das ist langweilig. Auf Tour
ist jeder Tag wie ein Tunnel und am Abend kommt das Licht – das Konzert.
Das ist alles, was mich interessiert. Ich mache auch kein
Sightseeing, wenn wir touren.
Weil Du dafür keine Kraft mehr hast?
Ich muss mich auf das Konzert am Abend konzentrieren, für etwas anderes habe ich keinen Kopf.
Was ist der Zauber, der Euch als Band schon so lange zusammenhält?
Die Band gibt es seit 1985, aber nicht weil wir einen speziellen Zauber
haben. Privat machen wir nicht viel miteinander. Was zählt, ist, dass es
mit der Musik läuft. Wir schaffen es noch immer, gemeinsam neue Songs zu
schreiben und Platten aufzunehmen. Wenn die Kunst lebendig ist, gibt es
keinen Grund, das aufzugeben. Man hat nur eine richtige Band im Leben.
„Narzissen und Kakteen“ heißt der Podcast, in dem die Band, die 1985 gegründet wurde, aus ihrem langen Bandleben erzählt. Die Zeit zwischen der Nacht und dem Morgen ist auch Thema anderer Songs: „Waiting for the morning train / Night is dying, sun will come up soon / Come over here just for a moment / Have a last long look at the summer's last full moon.“ Auszug aus dem Lied: „Waiting For The Morning Train“ aus dem Album: „The Ballad of Jimmy & Johnny“ (1989)
Hattet Ihr nie einen Tiefpunkt?
Neulich haben wir unseren Podcast „Narzissen und Kakteen“ rausgebracht,
in dem es um die Geschichte der Band geht. Während der Arbeit daran habe
ich gemerkt, wie oft es schon auf der Kippe stand und dass es durchaus
Tiefpunkte gab, bei denen ich kurz davor war, die Band zu verlassen.
Lag das an persönlichen oder künstlerischen Gründen?
Das kann ich nicht trennen. Junge Bands kämpfen um ihren Stil, das birgt
wahnsinnig viele Konfliktpunkte. Dann geht es einerseits um die
Kulturindustrie, auf die man angewiesen ist, und andererseits um die
Beziehung zum Publikum. Richtig schwierig war es bei uns 2001, als wir das Album „Romantik“ aufgenommen haben. Komischerweise merkt man der Musik nichts
davon an.
Die Welt ist gerade so dystopisch!
Das macht mich unglücklich. Der Klimawandel ist ein ernsthaftes Problem,
aber es gibt keinen Willen, etwas dagegen zu tun. Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug – die Dringlichkeit der
Probleme wird erst dann erkannt, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Ob die Welt jedoch untergeht, weiß ich nicht.
Wirkt sich dieses dystopische Grundgefühl auf Eure Musik aus?
Das kann man nie ausschließen. Gerade tobt der Krieg in der Ukraine, als
wir in den Neunzigern im Studio waren, hat der Jugoslawien-Krieg
stattgefunden. Die Welt ist ein Scheißort. Man kann sich das nicht alles
schön trinken.
Liebeslieder sind das „Brot und Butter des Rock ‘n‘ Roll“, so Sven Regener, der besonders schöne zu dichten vermag: „Dein Bild dringt bis an meine Netzhaut vor / Ich wünschte, ich könnt' es nicht seh'n / Dein Lachen kitzelt mein Innenohr / Und ich würd' so gern mit dir geh'n / Wann kommt der Wind, der uns weitertreibt / Irgendwohin, wo keine Erinnerung bleibt.“ – Auszug aus dem Lied „Wann kommt der Wind“ aus dem Album „Romantik“ (2001)
Was glaubst Du, in welcher Welt Deine zwei Kinder später leben werden?
Ich kann diese Kaffeesatzleserei für leichtfertige Zukunftsprognosen
nicht aushalten. Das ist mediale Beschäftigungstherapie. Wenn keine
neuen Nachrichten kommen, dann überlegt man eben, was als Nächstes
passieren könnte. Am Abend vor dem Fall der Berliner Mauer hätten wir
auch niemals gedacht, dass das überhaupt möglich wäre.
Du hast mal in einem Interview gesagt, dass Du „norddeutsch-cool“ auf den Mauerfall reagiert hättest. Das glaube ich Dir nicht!
Berliner sind keine überschwänglichen Menschen. Das heißt nicht, dass
mich das nicht bewegt hat, aber ich habe es mir nicht so anmerken
lassen. Der Fall der Mauer war ein Ereignis, das man kaum glauben
konnte. Das ist auch ein Grund für diese unterkühlte Reaktion. Wenn man
es geglaubt und es dann doch nicht gestimmt hätte, wäre das wie
eine extrem kalte Dusche gewesen.
Macht Ihr keine politischen Songs, weil Ihr Distanz zur Politik wahren wollt?
Einmal haben wir so ein Lied gemacht, das heißt „Unter Brüdern“. Darin
geht es um Rechtsradikale. Ich weiß aber nichts mit dem Lied
anzufangen. Das will doch keiner hören! Die Leute kommen zu unseren
Konzerten, um einen guten Abend zu haben. Wenn ich mich politisch
engagieren will, dann trete ich in eine Partei ein. Warum sollte ich das
singend machen? Daran ist nichts erhellend oder aufklärend. Ich möchte
auch nicht, dass im Deutschen Bundestag gesungen wird.
Ich finde Eure Liebeslieder am schönsten!
Die sind das Brot und Butter des Rock ‘n‘ Roll. Mit Liebesliedern kann man alles erzählen, dabei geht es um das ganze Leben.
Schreibt man bessere Songs über Liebe, wenn man älter wird?
Zumindest keine schlechteren. Das Thema Alter inspiriert mich aber
nicht, mir ist das egal. Ich habe auch keine Zeit, mich damit zu
beschäftigen.
Du hast mal gesagt, die einzige Stadt, in der Du leben möchtest, sei Berlin. Der einzig andere Ort, den Du Dir vorstellen könntest, sei Wien. Warum?
Wien ist außer Berlin die einzig richtig große Stadt im
deutschsprachigen Raum, die mir gefällt. Als Hauptstadt eines ehemaligen
Imperiums ist alles völlig überdimensioniert, und weil Wien eine
Einwandererstadt ist, kann jede und jeder mitmischen. Das macht sie interessant.
Für Kunst ist Wien sowieso das bessere Pflaster, weil die Österreicher
die Kunst lieben. Das tun die Deutschen nicht.
„Für Kunst ist Wien sowieso das bessere Pflaster, weil die Österreicher die Kunst lieben. Das tun die Deutschen nicht.“
Ist das so?
Natürlich gibt es Deutsche, die kunstbegeistert sind. Aber vor allem ist
es ein Volk der Ingenieure. Kunst soll immer noch für etwas anderes gut
sein: für die Politik, Bildung oder Aufklärungsarbeit. Dabei braucht
Musik keine Legitimation, besonders weil es eine geheimnisvolle,
abstrakte Kunst ist. Sie wird immer zweideutig, unheimlich oder seltsam
und vielleicht sogar verletzend sein. Heile-Welt-Kunst ist fad.
Ist es leichter, auf Deutsch oder Englisch zu singen?
Deutsch geht mir leichter von der Zunge. Wenn ich auf Englisch texte,
entsteht dabei eine Distanz zum Inhalt. „I love you“ zu singen ist für
mich etwas anderes als „Ich liebe dich“. In jedem Falle gilt aber: Kunst
ist nichts für ängstliche Menschen.
Gibt es Lieder, die Du nicht gerne singst?
Manche Songs bestehen den „Test of time“ nicht, weil sie ein oder
zwei Ebenen zu wenig haben. Wenn etwas zu sehr eins zu eins auf den
Punkt zielt, dann hält es nicht. Aber das ist mir schon lange nicht
mehr passiert.
„Heile-Welt-Kunst ist fad. Kunst wird immer zweideutig, unheimlich oder seltsam und vielleicht sogar verletzend sein.“
Was macht Dich glücklich?
Diese Frage ist mir zu privat.
Ich weiß, dass ich Dir keine privaten Fragen stellen darf. Ich meine, was macht Dich künstlerisch glücklich?
Musik oder wenn es beim Romanschreiben läuft. Was beides verbindet, ist
der Wille, etwas Neues in die Welt zu bringen, was vorher nicht da war.
Kaufst Du noch Platten?
Die Wahrheit ist, dass ich vor allem über Streaming-Dienste Musik höre.
Manchmal entdecke ich dabei etwas und denke: Wie kommen die oder der mit dem
Scheiß durch? Meistens bin ich aber sehr begeisterungsfähig. Es gibt für
mich nichts Größeres als Menschen, die die Entscheidung treffen, sich
für die Kunst hinzugeben. Rock ‘n‘ Roll ist mein Leben. Alles andere ist
Pipifax.
Hast Du manchmal Angst, irgendwann leer zu sein?
Das fände ich nicht so schlimm. Wenn es nicht mehr geht, muss man sich etwas anderes suchen. Aber bis dahin mache ich weiter.
Der gebürtige Bremer, Musiker, Schriftsteller und Drehbuchautor Sven Regener
(*1961) lebt in Berlin und gründete 1985 die Band Element of Crime,
für die er die Texte schreibt, singt, Gitarre, Trompete und Klavier
spielt. Seine Roman-Serie um den Protagonisten Herr Lehmann und der
gleichnamige Film sind Bestseller. Ein weiteres bis heute in der Band
aktives Gründungsmitglied ist der Gitarrist Jakob Friderichs (alias
Jakob Ilja).
Der Bandname stammt von dem gleichnamigen Film von Lars von
Trier. Erste Popularität erlangte die Band 1987 mit dem Album Try to
be Mensch, das von John Cale (Velvet Underground) produziert wurde. Die
erste Chart-Platzierung erreichten sie 1993 mit ihrem Album Weißes
Papier. Seit der Gründung hat die Musikgruppe 15 Studioalben
herausgebracht.