Die Berg

Frühstücksfernsehen und artifizielle Intelligenz

Als „Autorin, Dramatikerin, Weltretterin – auch Mensch geblieben. Stück weit.“ So beschreibt sich Sibylle Berg auf ihrem Instagram-Profil. Wir erreichen die scharfsinnige Wahl-Schweizerin in Zürich und sprechen über die Lugner-City in Wien, warum Konsum geil und die Prognose für die Zukunft wie immer ist: trüb. 

Text: David Meran

Sibylle Berg

„Das Lugner-Einkaufszentrum – Alter, das ist unfassbar.“

David Meran: Beginnen wir mit einem lockeren, netten Einstieg: Als Wiener Magazin interessiert uns natürlich: Was mögen Sie an Wien und was nicht?

Sibylle Berg: Ach Wien! Ich mache jetzt Werbung, als bekäme ich es bezahlt, okay? Also ich mag mein Zimmer mit Terrasse im Le Méridien und das vietnamesische Restaurant Ecke Gumpendorfer. Ich mag das chinesische Restaurant am Naschmarkt, die Architektur vieler Genossenschaftsbauten, das Rabenhoftheater – die Gebäude da in der Umgebung, Irrsinn auch –, Voodoo Jürgens, Kreisky, Stermann und Grissemann, Soap&Skin, Frau Sargnagel und die Hysteria-Frauen, den Park-Modeladen, das Viertel drumherum, von dem ich nicht weiß, wie es heißt. 

Ich mag die Theaterbesucherinnen, Jelinek, wie es riecht in der Stadt, die Donau – an der ich noch nie war –, die Straßenbahnen, Seidl, dass es noch vergammelte Ecken gibt, das Lugner-Einkaufszentrum – Alter, das ist unfassbar. Das mag ich alles. Und nicht mag ich die endlosen, breiten Strassen, dass es so wenige Bäume gibt, all dieses K.-u.-K.-Zeugs, die Nazis, den Opernball, die Würste und die Touristinnen – zu denen ich natürlich nicht gehöre.

In Ihrem Buch „GRM. Brainfuck“, erinnere ich mich, versucht einer der Hauptcharaktere Viren zu züchten, die Auswirkungen auf die Potenz von Männern haben sollen. Somit liegt klarerweise die Vermutung nahe, dass Sie selbst am Corona-Virus mitgebastelt haben. Was ist eigentlich Ihre Lieblingsverschwörungstheorie?

Nein, das war ich nicht! Ich war gerade mit dem Mossad unterwegs, um die Achsenaufhängung der Erdplatte neu zu zentrieren, damit die Scheibe kippt und alle Vollidioten, die ich vorher bestimmt habe, ins All gleiten wie nassen Luchse.

„Flüchtige sind durch, jetzt sind also ältere Menschen dran, die geile Tipps für ihre Patientinnenverfügungen bekommen.“

Ich persönlich kann die Quarantäne nicht mehr ertragen: Überall das gleiche elende Bild von klugen Menschen vor Bücherwänden, Skype-Verbindungsproblemen, Virologinnen in Podcasts und Tipps zur Selbstoptimierung von Bloggerinnen. Was kotzt Sie derzeit am meisten an?

Ernsthaft kotzt mich die Begeisterung an, mit der gerade in deutschen und Schweizer Medien wie auch im Netz Euthanasie gefeaturt wird, wie fast jeden Tag irgendein Schwachkopf die Triage, also fucking Selektion, verteidigt und von „abgeschlossenen Leben“, „Vorerkrankungen“ und „dem Opfer für die Gesellschaft“ schwafelt. 

Ich hatte nicht geglaubt, dass wir schon so weit sind. Ich dachte, es braucht noch ein wenig, bis die in den Kapitalismus verliebte Gesellschaft sich gegen eine neue Bevölkerungsgruppe wendet. Flüchtige sind durch, jetzt sind also ältere Menschen dran, die geile Tipps für ihre Patientinnenverfügungen bekommen und die wohltuende Aussicht auf Sterbebegleitung. Das macht mich so unendlich wütend. Nur ein wenig langweilig finde ich all die Leute im Videostream vor Bücherregalen – vermutlich nur zusammengeklebte Buchrücken –, die sagen, dass sie die Auszeit total begrüßen, weil sie endlich … egal!

Um schön negativ zu bleiben: Die Menschheit geht sowieso gerade den Bach runter: Epidemien, Klimawandel, Finanzkrisen und die AfD. Worüber können Sie trotzdem immer noch lachen?

Über die Begeisterung der Menschen am eigenen Aussterben! Ich empfinde auch ein wenig Schadenfreude darüber, wie hilflos alle Angeber der Welt gerade sind. Die mit den wichtigen Gesichtern und Aktenkoffern hocken auf einmal, ohne jede Bedeutung, auf ihren hässlichen Sofas zuhause rum.

„Ich sage ja zum Konsum.“

Unsere nächste Printausgabe vom „C/O Vienna Magazine“, die im Herbst erscheint, beschäftigt sich mit den Themen „Verschwendung und Exzess“. Warum nochmal ist Konsum geil?

Ach, der Konsum ist schon gut, wenn man den Begriff richtig untersucht. Wir konsumieren ja auch Städtereisen, Kultur, Kunst, oder sagen wir so: Allein die scheinbare Verfügbarkeit von Angeboten und Möglichkeiten gibt einer in ihrer albernen Existenz ein gutes Gefühl.

Der Herr Dramatiker René Pollesch sagte: „Die besten Momente meines Lebens waren gekauft.“ Ich stimme ihm zu. Die schönsten Momente fanden bei mir am Meer statt oder in Städten, in Hotels, in Cafés. Selbst am Lido, einem meiner Lieblingsorte, muss man seine Liege „konsumieren“. Die Abwesenheit von Konsum hat man nur, wenn man auf den Berg zieht und seine Ziegen streichelt oder arm ist. Da ich beide Situationen kenne, sage ich ja zum Konsum.

Was sollte man unbedingt verschwenden – im Guten wie im Schlechten?

Vermutlich alles oder nichts, es ist relativ egal. Unser Leben hat keinen Sinn, also sollte man schauen, was einer gut tut und es durchziehen.

Was in Ihrem Leben empfinden Sie als materiellen, was als immateriellen Luxus?

Immaterieller Luxus ist sicher, dass ich leben kann, wo ich will, mit wem ich will und wovon ich will. Materieller Luxus ist die Großartigkeit, dass ich genug Schotter habe, um ein Jahr überleben zu können – ohne zu arbeiten.

„Sucht euch coole, sehr alte Freundinnen und hört auf sie!“

Alle haben ein Problem: Sie arbeiten, bemühen sich redlich, dies auch gerne zu tun, und verpassen dabei ihr Leben. Wie gelingt aus Ihrer Sicht ein besseres Leben?

Ich habe viele sehr weise Freundinnen, kluge, tolle, etwas ältere Freundinnen. Die alle erzählen davon, wie die Zeit rast, wie sie nicht merkten, dass sie plötzlich alt wurden, sich aber auch gar nicht so fühlen. Das hat mir sehr geholfen zu erkennen, dass ich bald verschwunden sein werde. Das weiß man ja theoretisch, aber wenn man es immer wieder von klugen Leuten hört, rutscht es ins Unterbewusste und man entspannt sich. Es macht Bemühungen und Verkrampfungen albern, Karrieregeilheit und Gier dito. Also mein Rat: Sucht euch coole, sehr alte Freundinnen und hört auf sie!

„Fuck the System! Und Mitgefühl hilft auch sehr.“

Wir leben im Kapitalismus – so weit, so bekannt. Viele promoten derzeit das bedingungslose Grundeinkommen. Stellen wir uns vor, Sie wären Chefin: Wie würde die Welt dann aussehen? Alle sind höflich und lächeln sich an und halten dabei immer brav den Mindestabstand? Ihre Prognose für die Zukunft?

Ich würde als Erstes zugeben, dass ich absolut zu blöd bin, um die Welt in all ihren Bereichen zu begreifen. Ich würde eine zentrale Weltregierung bilden, die ausschließlich aus Wissenschaftlerinnen bestehen würde, die von einem anderen Wissenschaftlerinnen-Team kontrolliert würde. Für alle Bereiche nur die besten Fachleute! Parteien werden abgeschafft. Grenzen dito.

Ich würde die Welt und alle Länder in einem Zusammenhang sehen und gütig regieren. Grundeinkommen ist keine Diskussion. Erbschaften werden mit fünfzig Prozent besteuert, denn die Spacken haben ja nichts geleistet. Vermutlich betrüge generell der Steuersatz fünfzig Prozent, dafür wären die öffentlichen Transportmittel, Bildung, das Gesundheitswesen, die Kinderbetreuung, Wasser, Strom und so weiter frei. Gemeinden könnten lokale Angelegenheiten autonom regeln mittels Bürgerinnen-Komitees. Tier- und Menschenrechte wären gleich. Für die Details wenden sie sich bitte an meine Fachregierungsdepartements.

Hand aufs Herz und gerne kitschig: Worauf kommt es im Leben an, Frau Berg?

Der momentane Erkenntnisstand ist, unbedingt ein paar Menschen zu haben, die man lieb hat und andersrum. Der Versuch, Geld in einer würdigen Art zu verdienen, mit etwas, was einer nicht komplett wesensfremd ist. Und der Versuch, sich von gesellschaftlichen Normen zu befreien, die festlegen wollen, wie man lebt, wen man liebt, wie man aussieht. Fuck the System! Und Mitgefühl hilft auch sehr. Die anderen sehen und mit ihnen fühlen, erleichtert alles ungemein. So, mehr weiß ich auch nicht.

„Das Verausgaben ist nicht so meine Kernkompetenz.“

Als scharfsinniger Redakteur ist mir natürlich durch Instagram aufgefallen, dass Sie morgens gerne deutsches Frühstücksfernsehen konsumieren. Erzählen Sie doch Ihren Fans von Frau Bergs Morgenroutine.

Gegen sechs Uhr aufstehen, haufenweise dünnen Kaffee trinken – ich hasse starken Kaffee –, Haferflocken essen, Frühstücksfernsehen schauen. Das machte ich übrigens in jedem Land, in dem ich mich früher aufhielt, dann an den Schreibtisch. Fertig.

Was ist für Sie reinste Zeitverschwendung?

Mich in Situationen zu begeben, von denen ich weiß, dass ich mich in ihnen unwohlfühle. Dazu muss man vorher sehr genau rausgefunden haben, welche das sind.

Wobei verausgaben Sie sich?

Eventuell beim Mucki-Training! Aber auch nicht zu sehr, Verausgaben ist nicht so meine Kernkompetenz.

Nach all den intensiven Gesprächen und der Recherchearbeit, die Sie für Ihr aktuelles Buch „Nerds retten die Welt“ geführt haben: Sind Sie nun eine hochgelehrte Autorin? Was wissen Sie jetzt, was Sie zuvor nicht wussten?

Meine Liebe zu Dingen, die ich nicht verstehe, war schon immer vorhanden. In der Kindheit habe ich mich in Mikrobiologie verbissen, später immer wieder in neue Gebiete, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich liebe Sachen, die ich nicht kapiere. 
 

Ich weiß gar nicht, was jetzt durch das Buch neu dazu gekommen ist. Ich habe sehr viel Wissen, das ich für das Buch „GRM. Brainfuck“ davor  in mich reingeladen habe, schon wieder vergessen. Ich hatte wirklich von der Virenzucht bis zu Peer-to-Peer-Netzwerken und Brainfuck-Code alles verstanden! Vielleicht ist das Überwältigendste, was ich begriffen habe, der Unterschied von einer negativen und prinzipiell positiven Sicht auf die Welt. 

„Also alles wie immer.“

Sie wollten immer Wissenschaftlerin oder Autorin werden, um in Ihrer Nerdhaftigkeit weitgehend „ohne andere Menschen in einem geschlossenen System arbeiten zu können“. In welcher wissenschaftlichen Disziplin würden Sie denn arbeiten, wenn Sie keine Autorin geworden wären?

Vermutlich würde ich heute im Bereich „Neuronale Netzwerke“ arbeiten: coden, hacken, AI bauen, sowas.

Weg von der Ratio: Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden, was ist ein optimales Leben für Sie? Wie sieht das Paradies für Sie aus?

Wenn wir irgendwann diesen Pandemie-Horror hinter uns haben, kommt mein Leben dem Optimum schon sehr nahe. Die Störgeräusche kommen nun einmal von Zeit zu Zeit aus der Welt in mein Leben, die kann eine nur ausschalten, wenn sie vollkommen stumpf wäre oder verblödet.

Ich befürchte, dieser Schock, den wir gerade alle erfahren, wird sehr schnell vergessen sein und der ganze Mist mit der Klimakatastrophe, der durch Gier hervorgerufen wurde und auf globaler Ungerechtigkeit basiert, wird weitergehen. Faschisten werden wieder aus ihren Kellern kriechen, Menschenhass und all das Unangenehme, was in Menschen wohnt, wird wieder sichtbar werden und versuchen, die Erde zu einem unangenehmen Ort zu machen. Also alles wie immer.

Liebe Frau Berg, ich danke Ihnen für das Gespräch. Viele Grüße nach Zürich.

GRM. Brainfuck
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2019

Gebunden, 640 Seiten
25.– Euro

Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2020
Gebunden, 336 Seiten
22.– Euro
 

Sibylle Berg ist in Weimar geboren, wuchs in einer Pflegefamilie in Konstanza auf, hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Vor ihrem Studium in Deutschland war sie unter anderem Kampftaucherin. Heute ist sie eine der bekanntesten zeitgenössischen Dramatikerinnen/Autorinnen im deutschsprachigen Raum. Sie lebt als Schweizerin in Zürich und ihr Werk umfasst 25 Stücke, 15 Romane und wurde in rund 34 Sprachen übersetzt. Für ihren aktuellen Roman „GRM. Brainfuck“ wurde Sibylle Berg mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie für ihr Werk den Grand Prix Literatur, die höchste Auszeichnung, die in der Schweiz für literarisches Schaffen vergeben wird.

Die Daten-Virologin

Text: Viktoria Kirner

Martina Lindorfer eingekleidet von Ferrari Zöchling

Apps, die unbemerkt Screenshots von Chatverläufen machen, Passwörter die geleakt werden, und Daten, die man an Dritte verkauft: Die Wiener Sicherheitsforscherin Martina Lindorfer beschäftigt sich mit solchen – für Laiinnen nur schwer nachweisbaren – Angriffen auf unsere Privatsphäre. Für ihre Arbeit im Bereich der Erkennung und Abwehr von Schadprogrammen auf mobilen Geräten erhielt die ehemalige Hackerin den Hedy Lamarr Preis der Stadt Wien. Wir trafen sie zum konspirativen Gespräch nebst Selbstversuch, eingekleidet in Mode von Ferrari Zöchling und abgelichtet von der Fotografin Anna Breit.

Die Spannagel

Text: Lara Ritter

Bei Mercedes Spannagel (* 1995) ist Feuer am Dach. Die junge Wiener Autorin und Maschinenbau-Studentin hat kürzlich ihren Debütroman Das Palais muss brennen veröffentlicht. Abgründig, rasant und mit bitterbösem Sprachwitz erzählt sie darin von der korrupten rechten Elite, die von ihrer rebellischen Brut zu Fall gebracht wird. Beim Österreichischen Buchpreis holte sie mit ihrer Nominierung in der Kategorie Bestes Debüt quasi den zweiten Platz, wir finden, der gehört genauso gefeiert wie der erste, und trafen die junge Autorin im Wiener Café Korb, wo wir mit ihr über das Polarisierungspotenzial von Möpsen, das Revolutionsvermögen pubertärer Trotzphasen und das Leben als Tochter von Donald Trump sprachen. 

Die Autorin Mercedes Spannagel.

Die Lyrikerin

Text: Maja Goertz

Sirka Elspaß

Sirka Elspaß' Wimpern sind ungeschminkt, als wir sie zum Interview im Café Sperl treffen. Auch ungeföhnt? Seit ihrem 2022 erschienen Lyrikdebüt „ich föhne mir meine wimpern“ hat man unweigerlich solche Gedanken. Während die junge deutsche Autorin (*1995) und Wahlwienerin Melange trinkt, spricht sie mit uns über ihren Hass aufs Internet, das Schreiben unter Drogen und ihren erfolgreichen Instagram-Kanal-Slogan: „wer da nicht schmunzelt, ist selbst schuld.“

Der Figaro

Text: Bernardo Vortisch, Fotos: Xenia Snapiro

Er gehört zu Wien wie das „Meidlinger L“ und Ex-Bürgermeister Michael Häupl, den er wie kein Zweiter imitieren kann. Der Wiener Kultfriseur Erich Joham ist nun in Pension und nicht weniger schillernd. Er scharte Ende der 80er-Jahre in seinem Salon im ersten Wiener Gemeindebezirk eine wilde Bande von Außenseiterinnen und Größen der österreichischen Kulturszene um sich, von Arnulf Rainer, André Heller bis zur Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die sich bei einer Kardinalschnitte eine Dauerwelle legen ließ. Mit uns hat er über seinen Freund Falco, Politikerinnen-Frisuren und sein Geheimrezept für Networking getratscht.