Sex und Macht, Tochter und Vater, Frau und Mann, die ewige Wiederkehr des Verdrängten. Josef Fritzl, Kampusch, Femizide, Missbrauchskandale in der katholischen Kirche, Neonazis. Der bekannte US-amerikanische Künstler Paul McCarthy und die gefeierte deutsche Schauspielerin Lilith Stangenberg zeigen in ihren Film-Theater-Performance NV / NIGHT VATER, dass das alles universell und Teil unserer menschlichen Psyche ist.
Text: Antje Mayer-Salvi, Art: Paul McCarthy, Lilith Stangenberg
Antje Mayer-Salvi: Das Böse ist stets näher als man denkt. Ich sitze gerade in meinem Elternhaus, nahe des niederbayrischen Provinzstädtchens Simbach, in der Eva Braun die Klosterhandelsschule besuchte. Gegenüber des Flußes Inn, im oberösterreichischen Braunau, wurde der 23 Jahre ältere Adolf Hitler geboren. Haben wir alle eine Eva Braun und einen Adolf Hitler ins uns?
Paul McCarthy: 2019 drehten wir erstmals NV / Night Vater, eine Abstraktion von Liliana Cavanis Film Night Porter von 1974, in dem es um die sadomasochistische Beziehung zwischen dem ehemaligen SS-Offizier Max und Lucia, einer ehemaligen KZ-Insassin geht. In NV werden die Charakter ausgetauscht. Ich spiele Max, einen gemeinen, zwielichtigen amerikanischen Filmproduzenten und Lilith eine deutsche Schauspielerin, die nach L.A. kommt, um bei Max vorzusprechen. Nach den Dreharbeiten begannen wir mit der Arbeit an A&E, eine Abkürzung für Adolf und Eva und/oder Adam und Eva. In beiden Projekten geht es um die Überschneidung und Verflechtung von Sex und Macht, Mann und Frau, Vater und Tochter, Mutter und Sohn und um Faschismus.
Apropos Vater: Die Realität ist zuweilen schlimmer als des Menschen Vorstellungskraft oder die künstlerische Überhöhung. Man denke etwa in jüngster Zeit an Josef Fritzl, der mitten in der niederösterreichischen Provinz, in Amstetten, seine Tochter 24 Jahre lang im Keller gefangen hielt, missbrauchte und mit ihr sieben Kinder zeugte.
Lilith Stangenberg: A&E, Adolf und Eva, sind für mich Archetypen von Mann und Frau in einer patriachalen Welt. Sie sind auch Vater und Tochter, Mutter und Sohn. Es geht um unsere Konditionierung und die Urbeziehung zwischen den Geschlechtern. Jeder hat eine kleine Eva Braun und einen kleinen Adolf Hitler in sich. Ich kann es nur jedem Deutschen empfehlen, immer wieder Eva Braun zu spielen. Diese Figuren müssen sich verbrauchen und abnutzen, damit sie nicht wiederkommen. Ich benutze sie. Die beiden Figuren sind für mich nur Spielzeuge. Pauls Adolf ist ein Clown, eine Komikfigur. Wenn man sich solchen düsteren Figuren nähert, ist Humor ein guter Schlüssel. Man denke an Charly Chaplins „The Great Dictator“. Es geht um Macht und wie sie in einem Verhältnis zirkuliert. Eva kann auch zur tyrannischen Mutter werden und Adolf zum kleinen Jungen.
In den Performances oszillieren die Figuren zwischen Kontrolle und Macht ...
P.: In A&E ist nicht klar, ob Eva tatsächlich die Tochter und Adolf der Vater ist. Manchmal wird Adolf als der Sohn bezeichnet und Eva als die Mutter. Die Übergänge sind fließend. Adolf wird als amerikanischer Adolf bezeichnet und Eva wird zu einer Version von Marilyn Monroe. In Night Vater ist Max ein älterer Produzent, ein Raubtier, dessen Beute junge, aufstrebende Schauspielerinnen sind. Die Schauspielerin Lucia will sich in einen psychologischen Abgrund stürzen.
L.: Er steht auf einem Stuhl und gebärdet sich wie ein Diktator. Da haben wir ihm ein Hitlerbärtchen geschnitten und so kamen Adolf und Eva als neue Figuren ins Spiel.
P.: Ich bin eine tragische Figur. Die totale Dekonstruktion einer
männlichen Psyche. Eva die Tochter, Adolf der Vater, Eva die Mutter,
Adolf der Sohn. Eine Aneinanderreihung von Versionen des
Ödipus-Komplexes. Die Schichten werden fürwahr kompliziert. Aber ich
bin überzeugt, dass die Abstraktion der Wahrheit näherkommt.
Es gibt eine Szene, wo Sie als Adolf Hitler und Eva Braun in der Natur interagieren, einem Waldstück oder einer klischeehaften Alpenlandschaft. Haben Sie das in Berchtesgarden gedreht?
P.: Wir haben A&E, Adolf und Eva, das erste Mal im Sommer 2021 in der Sierra Nevada in Kalifornien gedreht und performt. Adolf und Eva agieren sozusagen in einer amerikanischen Westernfilmlandschaft. Ich denke, dass dieser Locationwechsel das Thema Faschismus von einem rein deutschen Thema zu einen allgemein menschlichen Thema macht: Gewalt, Unterwerfung oder das Böse, sie sind Teil der menschlichen Psyche, in allen Kulturen.
Wie haben Sie ihre Figuren entwickelt, gibt es ein Skript oder improvisieren Sie?
P.: Es existiert ein Skript, es ist so eine Art Gerüst für das, was passieren kann. Es gibt Kapitel, und innerhalb dieser wiederum Schlüsselszenen, zu denen wir uns hinbewegen können. Die Improvisation ist das eigentliche Gewebe, das sich hinter die Handlung spannt. Ich denke, in der Improvisation liegt oft die größere Wahrheit. Lilith schickt mir vom Zeit zu Zeit Absätze und Szenen. Ich bin überzeugt, dass das Drehbuch und die Zeichnungen das eigentliche Gesamtwerk darstellen. Wir verwenden sie, um das Setting zu gestalten.
L: Ja! Ich glaube, es existiert eine gewisse Intelligenz im kreativen Tun, die über der Sache steht. Einen Raum, wo es kein Richtig oder Falsch mehr gibt, das ist ein sehr trunkener und berauschter Zustand, wenn man ihn erreicht. Es hat mit Hingabe an die Sache zu tun, denke ich, wenn man sich dem Momentum anvertraut. Das habe ich in der Arbeit mit Paul zuweilen erfahren.
P: Am besten funktioniert das von Dir Beschriebene, wenn ich mit anderen und mit Dir, Lilith, interagiere.
L.: Yeah, it takes two to tango! Je unterschiedlicher die Menschen und
ihre Standpunkte dabei sind, desto interessanter und potenter. Die
unmöglichsten Konstellationen führen zu den surrealsten Ergebnissen
Lilith, Sie leben in der Großstadt Berlin und sind dort auch geboren. Wie ist denn Ihr Verhältnis zur Provinz, Brutstätte des Verdrängens und verherrender Machtgefüge?
L: Berlin ist sehr provinziell und wird immer kleingeistiger. Dazu kommt, dass jeder Quadratmeter bespielt und kuratiert ist, es gibt nichts mehr zu erobern. Jeder Baum hat eine Nummer. Da kann man sich manchmal wie lebendig begraben fühlen, dem Sein wird – wie in der Enge der Provinz – kaum Interpretationsspielraum gelassen. Berlin ist ein Kaugummi ohne Geschmack.
Paul, Sie sind in der Mormonenstadt Salt Lake City aufgewachsen. Hat das Ihre Kunst beeinflusst?
P.: Ich lebe seit 1970 in Los Angeles. Aufgewachsen bin ich am Rande von Salt Lake City, Utah, in der Nähe der Berge. Ich glaube, beide Städte haben eine Rolle in meiner Arbeit gespielt. Sie haben beide ihre eigene Form des Hässlichen. Salt Lake City liegt in einem Tal, das von Bergen umgeben ist. Die Stadt war und ist bis zu einem gewissen Grad immer noch ein von Menschen kontrollierter Raum, ähnlich wie Disneyland, das von einem künstlichen Hügel mit einer Eisenbahn umgeben ist.
Dieses Interview ist in der Printausgabe 5/2022 „The Provinz Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.
Die deutsche Theater- und Filmschauspielerin Lilith Stangenberg (*1988) arbeitet seit 2015 mit dem US-amerikanischen Künstler Paul McCarthy (*1945) zusammen.
Die Performance NV / NIGHT VATER / VIENNA von Paul McCarthy und Lilith Stangenberg findet im Volkstheater Wien statt, kuratiert von Henning Nass in englischer Sprache. Ab 18 Jahre!