Die Food-Philosophinnen

Das Design von Essen

Warum hat die Semmel fünf Teile, und warum sind Spaghetti lang und dünn? Was hat der Espresso mit den Flüchtlingen in Traiskirchen zu tun und warum schmeckt – frei nach Filmemacher Peter Kubelka – „eine Handvoll Himbeeren besser als eine Himbeere“? Diese existentiellen und andere Fragen hat uns der Wiener Architekt Martin Hablesreiter beantwortet. Mit Sonja Stummerer erforscht er im Rahmen des Künstlerduos honey & bunny das Design von Essen – auf nichtakademisch-akademische Art.

„Eine Handvoll Himbeeren besser als eine Himbeere“

Antje Mayer-Salvi: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Food Design auseinanderzusetzen?

Martin Hablesreiter: Eigentlich sind wir ja Architekten und haben bei Hans Hollein studiert. Schon während des Studiums haben wir uns die existentielle Frage gestellt: „Warum hat die Semmel fünf Teile?“ Das ist nämlich ziemlich blöd ...
 

... weil man eine Semmel nicht in zwei Hälften brechen kann, was jedes Mal zu einem Wurstsemmel-Massaker beim Teilen führt!

Ja, genau, das ist der Klassiker (lacht). Wir sind bei unseren Semmelrecherchen vor gut 15 Jahren darauf gekommen, dass es keinerlei Publikationen über das Design von Essen gibt. Ausschlaggebend war ein Arbeitsaufenthalt in Japan, ein Traumland, wenn man sich mit dem Thema auseinandersetzt, weniger weil die Japaner so geile Sachen auf dem Teller liegen haben, sondern weil sie das Essen anders denken als in Europa.

Wie denken denn die Japanerinnen das Essen?

Ein klassisches Beispiel: In Japan bekommt man immer alles symmetrisch und in geraden Zahlen serviert: vier, sechs, acht Sushi, Sashimi, Maki. Bei uns in Europa ist es umgekehrt. Wir bevorzugen beim Essen ungerade Zahlen. Eine Hochzeitstorte – oder eben die Semmel – sind immer in drei, fünf, sieben Stück und so weiter eingeteilt.

Das hat mir auch meine Oma so beigebracht. Ein Blumenstrauß sollte immer mit einer ungeraden Zahl Blumen gebunden sein.

Unsere Theorie ist, dass in Europa Symmetrie hundertprozentig passen muss, sonst lieber gleich das Ganze asymmetrisch angehen. Dann ist es egal, wenn ein Blumenstrauß vermeintlich „schlampig“ ausschaut. Geschmack – also warum der Mensch bestimmte Dinge gut riechen, schmecken, sehen, hören kann – ist durch den kulturellen Hintergrund bestimmt und angelernt. Ich oute mich jetzt vielleicht als Kulturbanause, aber japanische Musik klingt in meinen Ohren einfach nicht schön, ich höre ehrlich gesagt lieber Bach.

Japanisches Essen ist immer so ästhetisch angerichtet.

Vielleicht mögen Sie das japanische Farbkonzept. In Europa ist man der festen Überzeugung, dass jeder instinktiv zu roten Lebensmitteln greift, da sie uns an frische und süße Früchte erinnern. Bei uns werden Speisen immer mit roten Komponenten serviert. Die Japaner sind der Meinung, dass die Menschheit instinktiv zu weißen Früchten greift, dort wird alles mit weißen Beilagen angerichtet.

„Bei uns in Europa werden Speisen immer mit roten Komponenten serviert.“

Ist das klimatisch bedingt?

Ich kann es nur erraten. Vielleicht steht man in Japan so auf Weiß, weil das die Farbe ihres „Ur-Überlebens-Lebensmittels“ ist: der Reis. Die machen dort ja einen wahnsinnigen Kult um den Reis.

Bei uns macht man ja einen wahnsinnigen Kult um das Brot!

Ist das nicht spannend!? Ich muss Ihnen noch etwas erzählen. Sonja Stummer und ich haben gemeinsam im Architekturbüro Arata Isozaki & Associates in Tokyo gearbeitet. Es ist in Japan üblich, den Kollegen ein Mitbringsel von einer Geschäftsreise zu überreichen, ein typisches Lebensmittel oder alkoholisches Getränk, dass man bei der Rückkehr im Büro gemeinsam verzehrt. Sonja und ich brachten aus Wien einmal eine Sachertorte mit. Auf einmal verschwindet die Chefsekretärin mit unserem Kuchen, kommt zurück und serviert die Sachertorte in lauter kleine Würfel geschnitten mit einer Kiste Bier dazu. Das tat körperlich richtig weh.

Warum schneiden wir eine Torte in Keil- und nicht in Würfelformen?

Unsere Torten sind traditionell rund, Symbol für die Familie und die Gemeinschaft. Diese praktische Form erlaubt, dass jeder ein gleiches Stück bekommt, mit ähnlicher Fülle, das heißt gleich viel Kirsche, Creme und Schokolade und so weiter.

„Sachertorte in lauter kleine Würfel geschnitten mit einer Kiste Bier dazu. Das tat körperlich richtig weh.“

Warum hat die Semmel nun eigentlich fünf Teile?

Trotz fünfzehnjähriger intensivster Forschungsarbeit unsererseits haben wir die Lösung zugegebenermaßen noch nicht gefunden. Es gibt keine Quellen, die darüber Auskunft geben könnten. Wir haben immerhin eine Interpretation. Das lateinische Similar, das genau 15 Gramm schwere Weißgebäck, gab es schon zu römischen Zeiten, was etwa Inschriften in Pompeji belegen. Es war äußerst beliebt. Das Wort „Semmel“ taucht erstmals im 14. Jahrhundert auf.

Verraten Sie uns das Geschmacksgeheimnis der allseits beliebten Semmel, bitte!

Bei Backwaren ist das sensorische Spiel zwischen Kross und oft das große Ding. Je mehr Oberfläche man hat, desto krosser ist es, desto cooler fühlt es sich im Mund an. Die Hand- oder Kaisersemmel wird wie eine Pizza ausgewalzt und mit dem Daumen eingeschlagen. Dadurch ist sie hohl und hat nach dem Backen eine maximale knusprige Fläche. Ausgefuchst genial! Wenn man aber einfach nur den Teighaufen nimmt und oben maschinell den Stern reinpresst, dann ist das einfach nicht mehr das Gleiche. Eine schlecht schmeckende Semmelkopie einer eigentlich fantastischen Rezeptur.

Warum ist das Brot in den Hipster-Metropolen dieser Welt in den vergangenen Jahren geradezu zu einer Religion geworden?

Ich finde das ja geil, dass sich die Bürgerlichen im ersten Bezirk um ein Laib Brot anstellen als wären wir wieder in der DDR. Wunderbar. Aber man sollte nicht die Augen davor verschließen, dass die Masse sich von Backwaren aus Fertigteig ernährt: übersalzen, überzuckert, die nach zwei Tagen hart werden.

„Die Leute halten sich freiwillig eher an Tischmanieren als an die Straßenverkehrsordnung!“

Diese fast schon manische Beschäftigung einer gewissen Schicht mit Essen, woher rührt die? Kein Magazin, das nicht über Essen schreibt. Veganerinnen, Vegetarierinnen, Slow-Fooder, Allergikerinnen. Wenn es um die Ernährung von Kindern geht, kommt es unter Bobo-Eltern zu ideologischen Grabenkämpfen ...

Essen definiert unseren Alltag von jeher stärker, als wir glauben. Die Leute halten sich freiwillig eher an Tischmanieren als an die Straßenverkehrsordnung! Ich persönlich bin sehr froh, das Essen so sehr zum Thema geworden ist, zumindest wenn ich das aus den Augen eines Designers betrachte. Essen ist das (überlebens-)wichtigste, kulturell und religiös am meisten aufgeladene Designprodukt der Welt, das alle Menschen aller Schichten und Alters von Beginn ihres Lebens an beschäftigt.

Ein iPhone hat – wie es scheint – mittlerweile ähnlichen Status.

Ich garantiere Ihnen, es verschwindet, das Brot bleibt.

Apple, im übrigen nach einem Lebensmittel benannt, dem Apfel, wird mit aller Macht dafür sorgen, dass es nicht sobald verschwindet.

Auch in der Lebensmittelindustrie gibt es ein paar wenige große Firmen, die stellen achtzig bis neunzig Prozent unseres täglichen Bedarfs an Lebensmittel weltweit her. Die produzieren hinter verschlossenen Türen. Es ist uns völlig egal, was in deren Research- und Food Developing-Labors passiert. Das ist total untransparent für den Endverbraucher. Diese Konzerne bestimmen, was wir essen und wir nehmen nicht teil. Das fuchst mich schon sehr.

„Das Brot bleibt!"

Ja, genau, wir sollten nicht nur über unsere Produktionsmittel wieder bestimmen können, sondern auch über unsere Ernährung!

Man ist, was man isst. In Kindergärten und Schulen wird am Ende der Vorwoche das Essen für die ganze nächste Woche geliefert. In öffentlichen Bildungseinrichtungen darf aus hygienischen Gründen nicht selbst gekocht werden oder eher deswegen, weil jemand damit ziemlich gut verdient? Es gibt einen einzigen Groß-Caterer, der einen Großteil der österreichischen Spitäler beliefert. Dann wundert es einem nicht, dass die Backhendl in Thailand paniert und tiefgefroren im Container nach Österreich verschifft werden. Da habe ich persönlich ein Problem damit: ein arbeitsrechtliches, ein ökologisches und ein tierschutzrechtliches!

Wir hören in den Medien über Hungersnöte und Flüchtlingsdramen und wir reden hier über Food Design. Ist das nicht dekadent?

Viele fragen mich: Hast Du keine anderen Probleme? Aber es IST die Lösung vieler großen Probleme! Essen ist Politik, da geht es um unsere Freiheit, Arbeitsrecht, Tierschutz, Ökologie. Für den Kaffee, der vor Dir steht, müssen 140 Liter Wasser in Afrika oder irgendwo in Südamerika verbraucht werden. In diesen Ländern gibt es teilweise massiven Ackerlandraub, die Menschen verdursten und verhungern. Das sind unter anderem die Gründe, warum die Flüchtlinge über das Mittelmeer kommen und zu Tausenden ersaufen. Der Handel mit Wasser und Nahrungsmitteln ist ein Riesenmarkt.

Jeder Mensch macht aus dem Essen, wenn er nicht gerade völlig am Verhungern ist, ein Ritual. Jeder gestaltet das Essen irgendwie. Warum?

Essen ist ein Akt, der alle Lebewesen vereint. Der Akt des Nahrungsmittelveränderns unterscheidet uns von den Tieren. Die Gestaltung von Nahrung ist die älteste Art von Kunst. Wir versuchen die Nahrungsmittel, die wir vorfinden, sensorisch zu verbessern, das Lusterlebnis zu steigern. Da gibt es den berühmten Satz von Peter Kubelka, „eine Handvoll Himbeere schmeckt besser als eine Himbeere“.

Muss ein Nahrungsmittel nicht auch funktionieren, zu Marmelade verkochte Himbeeren lassen sich eher auf das Brot streichen als die rohe Früchte.

Es gäbe keine Städte, wenn der Mensch nicht in der Lage gewesen wäre, Lebensmittel aus der ländlichen Region zu transportieren, konservieren und zu verteilen. Im Hafen Roms gab es eine riesige Bäckerei, fast schon industriell. Das Korn kam mit den Galeeren aus Ägypten und wurde sofort verbacken. Ägypten wurde nicht wegen der schönen Kleopatra erobert, sondern wegen des Korns. Die Römer waren überhaupt Meister, sich auf ihren Eroberungszügen zu versorgen, während die Kreuzritter regelmäßig verhungerten und dauernd irgendwelche Dörfer ausrauben mussten. Brot ist ja ein geniales Ding. Der relativ schlecht verdauliche Weizen wird auf einmal essbar. Es ist haltbar, man kann es in die Tasche stecken und damit über den Berg gehen. Auch Spaghetti sind genial. Sie schmecken gut, sind ewig haltbar und sind überaus nahrhaft.

„Brot ist ja ein geniales Ding.“

Warum sind sie so lang und dünn?

Man hängte sie in Sizilien in den trockenen Wind. Die langen Schnüre boten das maximale Volumen und eine minimale Gefahr von der Leine weggeweht zu werden.

Essen ist aber nicht nur funktional designt, oder?

Ja, klar. Das Kipferl kam durch die Türkenbelagerung nach Wien, es war eigentlich ein Opfer an die Mondgöttin Selene. Der Striezel ist eine Abwandlung eines Menschenopfers. In Bayern hat man früher seiner Angebeteten ein Striezel geschenkt. Das hieß: „Ich will ein Baby von Dir!“ Nicht das Baby, sondern das vorher (lacht).

Apropos: Wie halten sie es mit den Tischmanieren Ihrer Kinder?

Uns ist wichtiger, was sie essen, als wie sie essen. Aber wir verraten ihnen nicht, wie gerne wir als „honey & bunny“ mit Essen spielen.

Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten Architektur bei Hans Hollein an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, in Barcelona und in London. Danach arbeiteten sie ein Jahr im Atelier von Arata Isozaki in Tokio, ehe sie 2003 das interdisziplinäre Kunst- und Designatelier honey & bunny gründeten. Sie publizierten und illustrierten Bücher zum Thema u.a. „Food Design – von der Funktion zum Genuss“ (Springer 2005), „food design XL“ (Springer 2009) und „eat design“ (Metro Verlag 2013), drehten gemeinsam mit Geyrhalterfilm den ORF ARTE Dokumentarfilm „food design". Sie inszenieren international Eat-Art-Performances und unterrichten an der New Design University St. Pölten und an den Universitäten Salzburg und Linz. Die Installation „eat design“ wurde im MAK, Wiener Museums für Angewandte Kunst, gezeigt. 

Der Zwang um's gesunde Essen

Text: Antje Mayer-Salvi mit Stefanie Schermann; Fotos: Mafalda Rakoš

Mafalda Rakoš hat Thomas Houten fotografiert.

Salat aus biologischem Anbau, laktosefreie Butter und Kekse ohne Gluten. Viele denken immer öfter über ihr Essen nach. Aber kann der Drang, sich gesund zu ernähren, zum Zwang werden? Wir sprachen mit der Wiener Psychologin und Psychotherapeutin Rahel Jahoda über Orthorexie, der ständigen und obsessiven Beschäftigung mit Essen. Die junge Wiener Künstlerin Mafalda Rakoš liefert die berührenden Fotos, unter anderem aus ihrem kürzlich erschienenen Bildband, dazu.

Der Elmayer

Text: A. Mayer-Salvi mit V. Häberle, E. Schreiber und A. Svestka

Im Laufe unseres Lebens nehmen wir im Schnitt über 80.000 Mahlzeiten zu uns und verbringen immerhin insgesamt sechs Jahre nur mit Essen. Sobald wir uns zu Tisch begeben, gehorchen wir – bewusst oder unbewusst – unzähligen Verhaltensvorschriften. Wir haben uns mit dem österreichischen Papst des guten Benehmens, Thomas Schäfer-Elmayer, getroffen und ihn zu einem ihm exotisch unbekannten Ort gelockt: Hermann’s Würstelstand 1070.

Der Jeganer

Text: Antje Mayer-Salvi mit Lukas Perend

Tierleid, die Zerstörung der Umwelt, Überdüngung von Böden und Verlust von Artenvielfalt sind der Preis für Fleisch aus Massentierhaltung. Bietet die Jagd eine Alternative? Wir haben uns mit Christopher Stoll unterhalten, einem Jeganer, der nur Selbsterlegtes isst und abseits davon auf tierische Produkte verzichtet.