Die Fress-Extremistinnen

Mampfen für Klicks

Es wird geschlürft, geschmatzt und weggeputzt – die Kamera steht auf „Record“. Der ursprünglich aus Korea stammende Trend  Mukbang findet immer mehr Anklang auf Plattformen wie YouTube, Instagram & Co. Das Prinzip ist einfach: riesige, kalorienreiche Berge von Essen vor der Kamera reinstopfen, während andere dabei zuschauen. Ein Interview mit der Wiener Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin Daniela Holzer über ein Social-Media-Phänomen.

Text: Antje Mayer-Salvi mit Lena Lojic, Ninon Marx, Sarah Perfler

„Das Überschreiten von Normen ist das, was fasziniert.“

Als Du das erste Mal Mukbangs angeschaut hast, was hat das bei Dir ausgelöst?

Daniela Holzer: Mich hat am Anfang Mukbang irritiert, dann ist mir aber aufgefallen, dass Binge-Eating auch sehr immersiv sein kann. Mukbang kennt eine Weiterführung, nämlich ASMR, dabei werden mit ganz sensiblen Mikrofonen Kaugeräusche oder zum Beispiel Pinselstriche aufgenommen. Es gibt Menschen, die sagen, dass es für sie entspannend ist, anderen beim Essen zuzusehen bzw. zuzuhören und sie dabei ein Kribbeln am ganzen Körper verspüren. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, muss ich ehrlich sagen. Bei mir stellt sich keine Relaxtheit ein, eher sind diese Geräusche störend und anstrengend für mich.

„Das hat viel mit Einsamkeit zu tun.“

Man sieht einen großen Unterschied zwischen koreanischen und westlichen Mubangs. Warum ist das so?

Ich glaube, dass in Asien die soziale Komponente im Vordergrund steht, also dass einem auf den Social-Media-Kanälen die Menschen beim Essen zusehen. Das hat viel mit dem Thema Vereinsamung und Einsamkeit zu tun, weil das Essen einen großen sozialen Stellenwert in diesen Kulturen besitzt. In Südkorea sind insbesondere in den Städten viele Menschen einsam. Mit Mukbang holen sie sich ein Stück Familie und Heimat in die eigenen vier Wände, so die gängige Meinung. Aber das Phänomen ist auch in Restaurants zu beobachten, und zwar, wenn die Menschen alleine vor dem Smartphone essen. Ich vermute, dass die Bekämpfung der Einsamkeit durch Mukbangs in den westlichen Ländern wie den USA eine geringere Rolle spielt und dort die Unterhaltung mehr im Vordergrund steht.

Gemeinschaft beim Essen spielt also eine Rolle?

Ja. Meiner Meinung nach sind daher diese Inszenierungen von Nahrungsaufnahme vor dem Bildschirm so erfolgreich – als würde man gemeinsam mit den Vloggerinnen essen.

„Als würde man gemeinsam mit den Vloggerinnen essen.“

Mukbangs werden meistens mit Fast Food und weniger mit gesundem Essen gemacht. Es werden unglaubliche Mengen von Nahrung verschlungen, je mehr, desto besser. Warum ist das so?

Das Überschreiten von Normen ist unter anderem das, was viele Leute an dem Format fasziniert. Dazu gehört offensichtlich auch, ungesundes Essen zu sich zu nehmen. Mukbang-Vloggerinnen, wie Veronica Wang und Stephanie Soo, spielen ganz bewusst mit dieser Grenzüberschreitung. In unzähligen Lifestyle-Blogs wird gesundes Essen propagiert – in Mukbangs wird genau das Gegenteil gemacht. Es gibt auch Challenges, wie besonders scharfe Speisen, etwa große Berge scharfer Nudeln, zu essen. Diese Mutproben erreichen sehr hohe Klickzahlen, weil es das ist, was die Community gern sieht.

„Mit einem Apfel könnte man so etwas nicht machen.“

Widerspricht das nicht gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, vor allem an Frauen?

Die Vloggerinnen machen genau das, was die Gesellschaft kritisiert, denn stereotypen Vorstellungen nach essen nur Männer vorwiegend große Portionen, beißen herzhafter zu und kauen kraftvoll. Die Mukbang-Vloggerinnen essen keine kleinen Portionen, sie essen keinen      Salat, sondern sie machen genau das Gegenteil.

Ist es nicht widersprüchlich, wenn junge Frauen, die ein Schönheitsideal vermitteln, große, ungesunde Mengen verspeisen?

Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Zum Beispiel genießt die Community die Völlerei der Darstellerinnen vor der Kamera, aber zugleich pocht das Publikum auf z. B. die Einhaltung der Manieren und die soziale Ordnung. Einige Kommentare verweisen aber auch auf eine Art Katharsis, angeblich essen Zuschauerinnen dann selbst weniger, weil sie quasi das Gefühl haben, dass stellvertretend für sie gegessen wird.

Meinst Du, dass Mukbangs eine Gegenbewegung sind zur heutigen Leistungsgesellschaft, die von Selbstdisziplin getrieben ist?

Es ist gar nicht so sehr eine Gegenbewegung. Die Vloggerin Stephanie Soo betreibt etwa einen zweiten Channel, auf dem sie sich mit Fitnesstipps und -übungen auseinandersetzt. Sie ist sehr diszipliniert, was ihren Körper angeht. Das, was sie vor der Kamera zeigt, gehört zu ihrer gesamten medialen Inszenierung.

„Das ist eine Inszenierung.“

Also alles nur Show?

Die gewählten Kameraeinstellungen sind spannend, denn sie gewähren Blicke in das Privatleben dieser Stars. Einerseits sieht es vor der Kamera so aus, als wäre die Umgebung schlampig, die Portionen riesengroß, jeder schlürft und mampft, aber andererseits sieht man im Hintergrund eine absolut saubere Küche, in der die Putzhandschuhe passend zum Geschirr hängen. Dabei lässt sich erkennen, welches ausgeprägtes Selbstmanagement mit Mukbangs verbunden ist.

Sich lieber der Norm beugen für Likes und Klicks?

Man kann schon sagen, dass ökonomische Gründe eine wichtige Rolle spielen, denn die Vloggerinnen verdienen ihr tägliches Brot mit diesen Fressorgien. Große Stars wie Stephanie Soo generieren sogar sehr viel Geld. Aber ebenso gibt Mukbang Aufschluss über, Essensnormen, geschlechterspezifische Erwartungen und soziale Beziehungen.

Danke für das Gespräch!

Daniela Holzer ist eine Wiener Theater- Film- und Medienwissenschaftlerin und – unter anderem – Expertin zum Thema Mukbang. Mit gesellschaftskritischem Blick nimmt sie soziologische Phänomene genauer unter die Lupe.
Die Top 5 Mukbang-Stars
Veronica Wang
Stephanie Soo
Nikocado Avocado
Zach Choi
Naomi MacRae
Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Kooperation mit der Meisterschule der Graphischen Wien. 

Die Food-Philosophinnen

Text: Antje Mayer-Salvi

Warum hat die Semmel fünf Teile, und warum sind Spaghetti lang und dünn? Was hat der Espresso mit den Flüchtlingen in Traiskirchen zu tun und warum schmeckt – frei nach Filmemacher Peter Kubelka – „eine Handvoll Himbeeren besser als eine Himbeere“? Diese existentiellen und andere Fragen hat uns der Wiener Architekt Martin Hablesreiter beantwortet. Mit Sonja Stummerer erforscht er im Rahmen des Künstlerduos honey & bunny das Design von Essen – auf nichtakademisch-akademische Art.

Der Zwang um's gesunde Essen

Text: Antje Mayer-Salvi mit Stefanie Schermann; Fotos: Mafalda Rakoš

Salat aus biologischem Anbau, laktosefreie Butter und Kekse ohne Gluten. Viele denken immer öfter über ihr Essen nach. Aber kann der Drang, sich gesund zu ernähren, zum Zwang werden? Wir sprachen mit der Wiener Psychologin und Psychotherapeutin Rahel Jahoda über Orthorexie, der ständigen und obsessiven Beschäftigung mit Essen. Die junge Wiener Künstlerin Mafalda Rakoš liefert die berührenden Fotos, unter anderem aus ihrem kürzlich erschienenen Bildband, dazu.

Mafalda Rakoš hat Thomas Houten fotografiert.

Der Elmayer

Text: A. Mayer-Salvi mit V. Häberle, E. Schreiber und A. Svestka

Im Laufe unseres Lebens nehmen wir im Schnitt über 80.000 Mahlzeiten zu uns und verbringen immerhin insgesamt sechs Jahre nur mit Essen. Sobald wir uns zu Tisch begeben, gehorchen wir – bewusst oder unbewusst – unzähligen Verhaltensvorschriften. Wir haben uns mit dem österreichischen Papst des guten Benehmens, Thomas Schäfer-Elmayer, getroffen und ihn zu einem ihm exotisch unbekannten Ort gelockt: Hermann’s Würstelstand 1070.