Corona-Verdacht in England? Valentina (29) ist Tochter einer Oberösterreicherin und eines Italieners. Sie bediente Reisende in einer stark frequentierten Champagner-Bar im Bahnhof St. Pancras in London. Täglich war sie in Kontakt mit hunderten Menschen aus aller Welt, dann entwickelte sie schwere Symptome einer COVID-19-Infektion. Getestet wurde sie bis heute nicht. Eine kleine, unspektakuläre Geschichte, die aufzeigen soll, was in Tagen wie diesen alles möglich wird und zum Problem werden kann.
Bei dir bestand Verdacht auf Corona? Erzähl davon!
Ich arbeite in einer belebten Champagner-Bar im Bahnhof von St. Pancras – überall Züge und Touristinnen. Vor zwei Wochen, nach einem kalten, langen Arbeitstag, hatte ich plötzlich hohes Fieber. Klassische Verkühlung, so meine erste Vermutung. Doch das Fieber ging nicht runter und dauerte zehn Tage lang an. Ich war echt schwach! Was mir wirklich Sorgen bereitete, war, dass ich kein Geschmackssinn mehr hatte! Ich habe sogar aufgehört, Kaffee zu trinken – und ich bin Italienerin (lacht)!
Du warst damit also eine Virenschleuder par excellence! Wie ging es dann weiter?
Ich meldete mich bei den Behörden, schilderte meine Symptome. Sie wollten wissen, ob ich in den vergangenen zwei Wochen in Italien oder in Kontakt mit erkrankten Personen war. Ich erklärte, dass ich zwar nicht in Italien war, aber mein Arbeitsplatz eine Bar sei, in der ich ständig mit Touristinnen aus der ganzen Welt in Kontakt komme. Sie sagten einfach nur: „Okay mach dir keine Sorgen, wenn es schlimmer wird, dann ruf uns wieder an.“ Aber es war ja schon schlimm! Das alles war sehr absurd und komisch ...
Santé! Die Champagner-Bar befindet sich im Bahnhof von St. Pancras mitten in London. Jeden Monat gibt es einen speziellen Champagner zu testen – soll der Belegschaft recht sein. Eine italienische Freundin verschaffte Valentina den Job.
Wieder ganz gut. Ich war die ganze Zeit zuhause und habe mich auskuriert. Ob es nun wirklich COVID-19 war, weiß ich bis heute nicht, aber es ist sehr, sehr wahrscheinlich. Eine Bekannte aus Bergamo hatte tagelang starke Symptome, dennoch dauerte es eine ganze Woche, bis sie endlich einen Test machen konnte! Es gab in dieser Region schlichtweg keine Tests mehr. Trotz Handschuhen und Masken haben sich innerhalb ihrer Familie alle angesteckt. Man darf dieses Virus nicht unterschätzen.
„Dieses Geschwafel von Herdenimmunität ist zynisch.“
England hat erst vor Kurzem bezüglich strikterer Maßnahmen eingelenkt – wie findest Du das?
Gott sei Dank! Boris Johnson ist meiner Meinung nach verrückt! Seine anfängliche Haltung zu dem Virus, das In-Kauf-nehmen von tausenden Toten und dieses Geschwafel von Herdenimmunität habe ich schrecklich gefunden. Das ist zynisch. Durch die Erzählungen meiner Freundinnen kannte ich ja die apokalyptischen Zustände in Italien ...
Gestern sprach ich mit einem Freund, der als Krankenpfleger in einem Londoner Krankenhaus arbeitet. Aufgrund der späten Maßnahmen der Regierung waren sie schlecht vorbereitet. Er ist sehr besorgt, alleine in London sind bereits über 600 Leute gestorben. Die große Angst ist, dass es nicht genug Betten geben wird.
Was sagen die Leute zu Boris Johnson Corona-Erkrankung?
Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für den Boulevard. Vor zwei Wochen war er noch in einem Spital und bedankte sich händeschüttelnd beim Personal! Jetzt ist er selbst in Quarantäne. Das ist schon absurd.
Ein wahres Klischee: In England steht man diszipliniert Schlange. Niemand drängelt vor, alle halten Abstand. Insofern sind die Maßnahmen vor dem Supermarkt mit britischer Leichtigkeit gut zu bewältigen.
Vor dem Supermarkt muss man jetzt anstehen, alles ist genau geregelt. Wenn du zum Beispiel Joghurt kaufst und dich nicht sofort entscheiden kannst, warten die Leute hinter dir geduldig. Die U-Bahn fährt grundsätzlich noch, bleibt jedoch nicht mehr überall stehen. Vierzig Stationen wurden geschlossen.
Auch der Busverkehr ist eingeschränkt. Die Straßen sind menschenleer, belebte Orte wie der Piccadilly Circus sehen aus wie Filmkulissen ohne Schauspielerinnen.
In meinem Viertel, ein typischer Londoner Arbeitervorort, wechselt man die Straßenseite, wenn man sich entgegenkommt. Kinder hängen Zeichnungen mit „Thank you“ auf Laternenmasten und Türen, um sich beim Gesundheitspersonal zu bedanken. Die Ernsthaftigkeit des Virus ist in der breiten Bevölkerung angekommen.
„Für uns Italienerinnen ist die Isolation eine besondere Qual.“
Aufgewachsen zwischen Olivenhainen und Tieren: Auf dem Anwesen ihrer Eltern in der Toskana lässt es sich gut aushalten, doch Jobs und Perspektiven für junge Menschen gibt es dort nicht wirklich.
Mit wem hältst Du Kontakt?
Ich spreche natürlich viel mit meinen Eltern, die sind Mitte sechzig und leben in einem alten Haus in der Toskana mit vielen Tieren, großem Garten und Olivenhainen. Meine Mutter ist Österreicherin, mein Vater Italiener. Sie leben ein einfaches, fast autarkes Leben auf dem Land und haben es vergleichsweise gut erwischt. Für viele Freundinnen in Bologna ist es aber wirklich schlimm: Neben der Angst vor dem Virus nagt die Isolation an ihren Gemütern. Bei uns findet das Leben auf der Straße statt – für uns Italienerinnen ist die Isolation eine besondere Qual.
Drängen Deine Eltern darauf, dass Du nachhause kommst?
Ja, das wollen sie, da niemand weiß, wie lange es noch dauern wird. Ich darf nicht arbeiten, mir fehlt mein Einkommen, das stresst auch meine Eltern. Ich kann als Italienerin derzeit nur mit einem staatlich organisierten Flug zurück nach Rom. Der einfache Flug würde 200 Pfund kosten – sonst fliegt man von London nach Rom und zurück für 50 Euro. Von Rom müsste ich mit dem Zug quer durch ganz Italien reisen und dann für zwei Wochen in Isolation, ohne Kontakt zu meinen Eltern. Es fühlt sich derzeit falsch an zu reisen, vielleicht habe ich das Virus immer noch in mir und stecke andere Leute an. Ich sitze die Situation jetzt in London einfach aus.
Am Flughafen in Rom werden die Leute ja noch immer nicht getestet! Das erzeugt schon auch Kritik. Der Bürgermeister von Messina in Sizilien etwa hat sich öffentlich wütend geäußert, dass er seine Stadt nicht schützen oder kontrollieren könne, wenn die Rückkehrerinnen nicht getestet würden.
„Die Leute am Flughafen in Rom werden noch immer nicht getestet!“
London ist ein sehr teures Pflaster! Hast Du existenzielle Sorgen?
Die Mieten in London sind hoch, wir sind zu viert in einer WG und zahlen jeweils 650 Pfund monatlich. Es gibt staatliche Bestrebungen, die Mieten in London für eine Zeit auszusetzen. Die britische Regierung entwickelt gerade finanzielle Hilfsmaßnahmen, damit Angestellte zumindest achtzig Prozent ihres Gehalts bekommen. Wenn das wirklich klappt, hätte ich wenigstens genug Geld für Essen und Medikamente. Ohne staatliche Unterstützung schaffe ich es finanziell bis Ende Mai.
„In solch dramatischen Situationen zu singen bringt Hoffnung!“
Auf Social Media waren Musikkonzerte auf den italienischen Balkonen und Terrassen zu sehen. Berühren Dich solche Szenen?
Ich bin eigentlich kein Fan von Italien, darum lebe ich auch nicht dort – viele sind so engstirnig und haben Matteo Salvini gewählt! Das schmerzt mich schon sehr. Wenn ich aber meine Landsleute in diesen Videos singen und rufen höre – so sind wir einfach –, dann freut mich das sehr. Da spüre ich das Italien, das ich liebe. In solch dramatischen Situationen zu singen bringt Hoffnung!
Bekannte Blickwinkel: Jeden Tag zuhause zu verbringen nagt am Nervenkostüm. Doch bei Valentina ist die Kreativität explodiert, sie schreibt an einem Buch.
Aber warum trifft es gerade das schöne Italien so hart?
In Italien herrscht Chaos wie immer, wir sind und waren einfach nicht bereit für so eine Epidemie. In den vergangenen Jahren wurde in andere Dinge investiert, wie Fußballstadien, aber nicht in Bildung oder das Gesundheitswesen. In den Spitälern ist zudem noch so viel Gesundheitspersonal erkrankt: 300 zusätzliche Ärztinnen wurden benötigt, also startete man einen Aufruf. Innerhalb kürzester Zeit meldeten sich über 7.000 Ärztinnen, darunter Studierende und sogar pensionierte Medizinerinnen. Das ist nicht nur schön, das macht mich als Italienerin auch stolz.
„Endlich Zeit zum Denken!“
Wie gestaltest Du Deinen Quarantänealltag?
Ich stehe zwischen neun und zehn Uhr morgens auf, wobei ich erst gegen drei Uhr morgens ins Bett gehe. Mache in der Wohnung Sport, dusche, frühstücke. Danach setze ich mich an den Computer, schreibe und lese viel. Eigentlich lebe ich gerne alleine und zurückgezogen mit meinen Büchern. Ich habe die letzten zehn Jahre gekellnert, das ist megastressig, du sprichst ständig mit Leuten und hast eigentlich nie wirklich eine Pause. Seit ich nur zuhause bin, ist meine Kreativität explodiert. Endlich Zeit zum Denken! Ich habe begonnen, ein Buch zu schreiben.
Worum geht es in Deinem Buch?
Ich schreibe an einer komischen, dunklen Geschichte. Es geht um eine junge Frau in England, die zurück in ihre toskanische Heimat reist. Dort trifft sie ihren eigenen Geist.
Fulfilling Prophecy! Ich danke Dir für das Gespräch!