Der Narbenforscher

Wundmatrix bildet Cicatrix

Wir alle tragen Narben – sie erzählen uns bewegende, tragische und inspirierende Geschichten. Wie sähe eine Welt ohne Narben aus? Wie wäre es, wenn wir bei einem Unfall eine Gliedmaße verlieren, die uns von selbst nachwachsen könnte? Wir sprechen mit dem Narbenforscher Yuval Rinkevich, Direktor des Instituts für Regenerative Biologie und Medizin am Helmholtz Zentrum München, über sein bahnbrechendes Projekt ScarLessWorld und eine Zukunft, in der wir Menschen uns vielleicht selbst heilen könnten. 

Text: Julia Bauereiß, Fotos: Hilde van Mas

Zellen die Narben generieren können bei einem Embryo unter dem Mikroskop

„Direkt unter meinem Kinn"

Julia Bauereiß: Haben Sie selbst eine Narbe?

Yuval Rinkevich: Tatsächlich habe ich eine direkt unter meinem Kinn. Ich glaube, viele Kinder haben genau an dieser Stelle eine Läsion. Meine entstand beim Spiel „Zwei Stühle“, ein „sehr intelligentes“ Vergnügen (lacht). Man stellt zwei Stühle nebeneinander und alle Mitspielerinnen versuchen, von einem zum anderen zu hüpfen. Mit jeder Runde werden sie weiter auseinandergestellt, um zu sehen, wer am weitesten springen kann. Sie können sich vorstellen, wie es bei mir endete! 

Mit einer Narbe!

Genau (lacht)!

Ihr Fachgebiet ist die regenerative Biologie. Gab es diesen einen Moment, in dem Sie sich dachten: „Ja, das ist mein Ding!“?

Fibrosen sind für 45 Prozent aller Tode in der westlichen Welt verantwortlich. Für mich als Wissenschaftler wurde bald klar, dass eine der wichtigsten Fragen in der Erforschung von Heilung menschlicher Krankheiten ist, wie Gewebe auf Verletzungen entweder durch Regeneration oder Narbenbildung reagiert. Unter einer Fibrose versteht man die krankhafte Manifestation von Narbenbildung und Gewebeverhärtung, die an unseren inneren Organen auftritt. Es entstehen narbige Veränderungen. 

Ob es einen Schlüsselmoment gab? Ich glaube, als ich verstanden hatte, dass Narbenbildung bis dato nur in einfacheren zellulären Versuchen erforscht wurde und das nicht ausreichen würde, um die Komplexität der Entstehung von Wundmalen bei menschlichem Gewebe zu verstehen. Die Regenerationsfähigkeiten von den Tierspezies zu untersuchen ist zwar echt cool und interessant, würde uns aber nicht ans Ziel bringen, wenn wir in Zukunft menschliche Organe reparieren wollen. Wenn wir begreifen wollen, wie dieses Yin und Yang zwischen Narbenbildung und Wiederherstellung genau funktioniert.

„Yin und Yang"

Erklären Sie bitte einer Laiin wie mir, was Sie als Wissenschaftler genau tun!

Mein Spezialgebiet der regenerativen Biologie und Medizin entstand vor 250 Jahren, nachdem Tierarten systematisch erforscht worden waren, die Körperteile komplett regenerieren können. Flossen, Beine, Arme oder auch innere Organe wachsen bei diesen Lebewesen nach einem Verlust wieder nach. Dazu zählen beispielsweise Salamander, die ihren Schwanz selbst ersetzen können, oder Seesterne, die ihre verlorenen Arme wieder nachbilden. Einige Spezies im Tierreich haben sogar die erstaunliche Fähigkeit, sich aus nur einem Blutgefäß wiederherzustellen, dazu gehören wirbellose Arten wie Manteltiere. (Erklärung durch Redaktion: Es handelt sich um sesshafte, auf dem Meeresgrund lebende Tiere, wie Seescheiden, oder freischwimmende planktonische Lebewesen.) Die Frage, die uns beschäftigt, ist: Warum heilen bei manchen Tieren Verletzungen mit der Bildung von Narben aus, während andere Wunden vollständig heilen oder Gewebe und Organe sogar ganz nachwachsen? 

Das ist geradezu magisch!

Dieses bemerkenswerte Phänomen bringt natürlich einige Vorteile im Tierreich mit sich, die auch für uns Menschen hilfreich wären. Mit der regenerativen Biologie und Medizin wollen wir verstehen, wie der menschliche Körper heilt und Narben bildet. Das Ziel des Forschungsfelds ist eine narbenfreie Wundheilung, wenn nicht sogar die gänzliche Regeneration von Haut und Organen, die in Mitleidenschaft gezogen wurden. 

Was ist eigentlich eine Narbe, was passiert mit unserem Körper?

Sie ist in ihrer Grundform eine Anhäufung von extrazellulärem Bindegewebe. Bei einer Verletzung bildet sie sich als Schutzreaktion vor äußeren Einflüssen. Wenn man es im architektonischen Jargon erklären würde, könnte man sagen: Narben sind wie Zement, der die Lücken und Löcher in einer Mauer füllt, um das gesamte Haus vor dem Einsturz zu schützen. Die reparierte Stelle wird dabei auf ewig signifikant anders sein, man wird sie sehen, aber das Haus wird stehen bleiben! 

„Narben sind wie Zement."

Wie entstehen Narben?

Bisher sind Forschende davon ausgegangen, dass Narben aus einer speziellen Zellpopulation, den Fibroblasten, entstehen. Dafür würden diese direkt an der Wundstelle extrazelluläres Bindegewebe synthetisieren und absondern, um Narben zu formen. Unsere neuen Erkenntnisse deuten aber darauf hin, dass diese Theorie nur eine Teilantwort liefert. Wir haben rausgefunden, dass Narben aus viel tiefer liegendem Bindegewebe entstehen, den Faszien. 

Warum sind Faszien für die Narbenbildung relevant?

Wir können uns Faszien als geleeartiges Gewebe vorstellen, das all unsere Organe und unser ganzes Körper-System umschließt, durchdringt und miteinander verbindet. In der Haut liegen Faszien viel tiefer im Gewebe, was auch erklärt, weshalb sich Narben erst bei stärkeren Verletzungen bilden. Ist die Wunde so tief, dass auch das Faszien-Netz verletzt wird, konnten wir feststellen, dass das Material des Fasziengewebes sich selbst zur Wundoberfläche transportieren kann. Damit liefern die Faszien zusammen mit den Fibroblasten die Grundbausteine, um Narben zu bilden. Diese neuen Erkenntnisse unsererseits verändern das Wissen, das Denken und den zukünftigen Forschungsprozess in diesem Gebiet radikal. In der Physiotherapie, Akupunktur, im Yoga oder in der alternativen Medizin arbeitet man sehr viel mit dem faszialen Bindegewebe. Unsere Erkenntnisse werden wohl auch die Arbeit in diesen Bereichen unterstützen können. 

Was ist der Unterschied zwischen einer Organ-Narbe und einer Haut-Narbe?

Beide Narbenarten sind eine Schutzreaktion des Körpers auf eine Verletzung. Das Entscheidende dabei ist eher, wo sich die Narbe genau bildet. Das ist bei inneren Organen gefährlicher als auf der Haut. Ich habe da ein Beispiel für Sie: Wenn eine Narbe am vorderen Unterarm entsteht, dann sieht das vielleicht nicht so schön aus, beeinträchtigt Sie aber nicht großartig. Wenn sich eine große Narbe an der Armbeuge entwickelt, dann beeinträchtigt das Ihre Bewegung erheblich. Narben sind ja viel härter und steifer als das umliegende Gewebe. Wenn sich jetzt Narben an inneren Organen bilden, dann wird auch die Funktion des Organs beeinträchtigt. Das Herz pumpt viele Male in der Minute und die Lunge weitet und verengt sich. Vernarben diese Organe nun, haben sie Probleme damit, Blut und Sauerstoff durch den Körper zu pumpen. Diese starke innere Narbenbildung nennt sich Fibrose und kann bis zum Organversagen führen und eine Transplantation erfordern. 

„Schutzreaktion des Körpers"

Was ist der Unterschied zwischen einer Narbe, einer chronischen Wunde und einer Fibrose?

Eine Narbe ist eine veränderte Form des Bindegewebes, meist verdichteter und steifer als gesundes Gewebe. Narben sind Reaktionen auf akute Verletzungen. Von einer Fibrose spricht man eher bei einer Narbenbildung an den inneren Organen. Die Ursache ist eine Krankheit, selten eine akute Verletzung. Eine chronische Wunde ist das Gegenteil einer Narbe, da regeneriert eben nichts und es bildet sich keine Narbe. Das passiert meistens bei älteren Menschen, deren Zellen nicht mehr schnell genug reagieren, um eine Wunde zu schließen. Das ist noch problematischer als eine schlechte Narbenbildung, da eine chronische Wunde den Gesundheitszustand eines Menschen wirklich sehr negativ beeinflussen kann und große Risiken in sich birgt.

Was haben Salamander und Embryos in Bezug auf Narbenbildung gemeinsam?

Beide können tatsächlich Wunden regenerieren, ohne Narben zu bilden. Bei Salamandern ist dieses Phänomen etwas ausgeprägter, denn sie können ja bekanntlich ganze Gliedmaßen nachwachsen lassen. Bei menschlichen Embryos wurden erstaunlicherweise ähnliche Regenerationsprozesse wie bei Salamandern festgestellt. Embryos oder Neugeborene haben ebenfalls die Fähigkeit, Gewebe und sogar Organe regenerieren zu lassen. Es gibt beispielsweise Fälle, da mussten die Fingerkuppen von Neugeborenen amputiert werden, und sie konnten die distalen Spitzen narbenfrei regenerieren, das ist faszinierend! 

Da gibt es offensichtlich ein Übergangsstadium, wo wir noch tierische Fähigkeiten der Regeneration besitzen, die wir dann später als Mensch verlieren ...

Genau, je mehr anatomische Komplexität wir erreichen, desto mehr werden wir zu Menschen. Die regenerativen Fähigkeiten sind dann kaum mehr vorhanden. Vom fetalen zum erwachsenen Leben machen wir eine phänotypische Veränderung durch, das passiert circa im letzten Drittel der Schwangerschaft. Dieser Wandel vollzieht sich sowohl am Äußeren als auch an den inneren Organen. Das passiert nicht plötzlich, sondern jedes Organ hat einen anderen Zeitpunkt, wann die Regenerationsfähigkeit stoppt und die Narbenbildung einsetzt. 

„Bauchnabel-Piercing führt oft zu Narben."

Vernarben alle Körperbereiche gleich stark?

Je nach Körperregion und Alter heilen Wunden besser – oder schlechter. In der Mundhöhle oder dem Genitalbereich können bei Verletzungen selbst bei Erwachsenen keine Narben entstehen. Dafür haben wir auch eine Erklärung gefunden: Die Fibroblasten sind nicht nur ein einziger Zell-Typus, sondern viele verschiedene. Manche dieser Fibroblasten-Zellen haben die Fähigkeit, sich zu regenerieren, und andere nicht. Erstere sind verstärkt bei Embryos und jungen Menschen zu finden, bei Erwachsenen sind es eher die narbenbildenden Zell-Typen. 

Könnten Sie die Regenerationsfähigkeit von Embryos nicht auch auf erwachsene Körper übertragen?

Das könnte vielleicht mit zukünftigen Forschungen möglich sein, aber bei uns sind solche Experimente an Menschen und Embryos nicht erlaubt. Wir können nur an Modellorganismen forschen, die menschlicher Haut ähneln und bestimmte Erkrankungen nachahmen, da machen wir jedoch schon große Fortschritte. Bis wir Ergebnisse wirklich auf Patienten übertragen können, wird es wohl noch dauern.

Wieso beeinflusst uns der Bauchnabel als physiologische Narbe nicht negativ?

Es ist ja auch nur ein kleiner Bereich, der nicht sonderlich relevant für bestimmte Körperfunktionen ist. Außerdem ist die Entstehung des Bauchnabels ja ein Prozess, während der embryonalen Entwicklung. Der Körper sieht ihn also als gesundes Gewebe an und nicht als erkrankte Körperstelle. Das Bauchnabel-Piercing führt allerdings häufig zu Narben.

„ScarLessWorld“

Wie könnten Ihre Forschungsergebnisse die Zukunft der Medizin verändern, was könnte alles möglich sein?

Ich denke, das ist die nächste Stufe der Medizin: echte Regeneration, echte Heilung und echte Erneuerung von menschlichem Gewebe. Nicht nur wir mit dem Forschungsprojekt „ScarLessWorld“, sondern auch viele andere Labore arbeiten hart daran, dass diese Idee hoffentlich bald Wirklichkeit wird. Die regenerative Biologie und Medizin verspricht nämlich die Heilung so vieler Krankheiten, zum Beispiel der Lungenfibrose, bei der die Lunge vernarbt und dies nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Es würde einen alles verändernden Durchbruch für die Medizin, ihre Denkweisen und Möglichkeiten bedeuten. 

Das wäre wirklich bahnbrechend! Könnte es sein, dass Menschen in Zukunft nicht nur Haut, sondern auch Knochen oder ganze Gliedmaßen regenerieren können?

Das klingt zwar noch sehr utopisch, aber wir forschen tatsächlich nicht nur an der Haut, sondern untersuchen das Phänomen der Narbenbildung und Regeneration am ganzen Körper. In der Hautforschung – an unseren Modellorganismen – haben wir die meisten Erfolge erzielt. Wir konnten Narbenbildung schon gänzlich stoppen, das Auftreten von Fibrosen vermeiden und das Gewebe sogar zum normalen und gesunden Zustand zurückführen. Das ist schon ein guter Indikator dafür, was medizinisch in Zukunft möglich sein könnte: Also auf jeden Fall die Regeneration von Haut innerhalb und außerhalb des Körpers, alles weitere wird sich zeigen. Wir sind mit unserer Forschung auf dem richtigen Weg.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview und diese Bilder erschienen im C/O Vienna Books „PS: Narben“, das in unserem SHOP für 28.- Euro erhältlich ist. Die Fotostrecke "Einschnitte – Wenn das Leben Kerben in den Körper schlägt" wurde von Hilde van Mas und Bernardo Vortisch konzipiert, von Hilde van Mas fotografiert und von Bernardo Vortisch und Jules Bauereiß aufgeschrieben.
Yuval Rinkevich ist seit 2021 Direktor des Instituts für Regenerative Biologie und Medizin am Helmholtz Zentrum München. Er spezialisierte sich schon als Postdoktorand in Stanford auf den Bereich der Zellregeneration und Gewebeheilung. Mit seinem Forschungsprojekt „ScarLessWorld“ ist er dem Prozess der Narbenbildung seit 2019 genauer auf der Spur. Bis zum Ende des Projekts im März 2024 wird man mehr wissen, wie menschliche Wunden ohne Narbenbildung heilen können. 

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