Die Sehenden

Alle Augen auf mich gerichtet

Unweit des grünen Praters treffen wir Julia, Kerstin, Damla, Dilan und Juan. Sie alle sind blind oder stark sehbeeinträchtigt. Wir sprechen mit ihnen über VorurteileSeegurken und die Schönheit von glatten Bildschirmen. Wir möchten erfahren, was der in unserer Kultur stark visuell konnotierte Begriff  Schönheit für Menschen bedeutet, die nicht oder kaum sehen können. 

Text: Viktoria Kirner, Fotos: Christian Benesch

Um die Ecke brausen zwei junge Rambos, kleine Stöpsel, kaum älter als zehn Jahre. Der eine mit schwarz verglaster Brille, der andere mit Langstock. Sie sind blind. Beide wirbeln um uns herum, und als sie hören, dass sie gerade auf jemanden mit Fotoapparat getroffen sind, werfen sie sich in Pose. Lässig eingehakt, den Stock mondän zur Seite gereckt, das Kinn herausfordernd gehoben: „Mach ein Foto von uns! Los!“ 
 

Wir sind im österreichischen Bundes-Bildungsinstitut - Schwerpunkt Sehen im 2. Wiener Bezirk in der Wittelsbachstraße, einen Steinwurf vom Grünen Prater entfernt. Seit 1898 widmet man sich in der weltweit zweitältesten Schule ihrer Art der Aus-, Fort- und Weiterbildung von blinden oder sehbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen, mit dem Ziel, ihnen ein Leben zu ermöglichen, das sie möglichst selbst bestimmen können. 
 

„Über einen dünnen, glatten Bildschirm zu streichen – das finde ich schön.“ – Julia

Viktoria Kirner: Was ist für Dich schön?

Julia: Wenn mir die Stimme gefällt und auch der Charakter, dann ist mir egal, ob die Person auch wirklich schön aussieht. Aber wenn sie zusätzlich noch schön ist, dann ist das natürlich kein Problem. Für mich wäre zum Beispiel so ein Boxer-Haarschnitt schön. Links und rechts kurze Haare, oben länger. Ein bisschen Igel. Und breite Schultern. Bart mag ich manchmal auch.

Beschreibst Du mir gerade Deinen Traummann?

Ja!

Und woher weißt Du, dass ein Mann schön ist? Du kannst ihn ja nicht sehen.

Ich frage ihn einfach. Wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob er die Wahrheit sagt, versichere ich mich auch noch bei anderen Leuten. 

Was ist für Dich ein schönes Kompliment?

Ich freue mich über jedes Kompliment, solange es ehrlich ist. Egal welches. Manchmal sagen mir Leute, dass ich hübsch bin. Das hört man schon gerne. 

Was ist für Dich ein schöner Ort in der Stadt?

Ich finde Technikgeschäfte schön. Ich gehe gerne in so große Stores, MediaMarkt, Saturn, eventuell auch in einen Apple Store. 

Welche Orte meidest Du lieber?

Die Oper oder Bibliotheken, ich kann ja alles auch digital machen. Und Museen. Meistens kann man dort nämlich nichts anfassen. Die Beschreibung von Sachen kann ich mir auch aus dem Internet holen. 

Was ist Dein Lieblingsmaterial?

Glas oder Metall. Und ich fasse alle technischen Geräte gerne an. Ich mag es, wie sich die Tasten anfühlen. Über einen dünnen, glatten Bildschirm zu streichen, ein modernes Gehäuse zu fühlen – das finde ich sehr schön.  

Was oder wer ist für Dich besonders schön?

Mein iPhone. Und ein Freund von mir ist sehr schön. Zumindest haben mir das andere Leute gesagt.

„Ich erkenne die Schönheit einer Person an der Stimme.“ – Kerstin

„Katzen! Ich liebe Katzen!“ – Damla

„Besonders schön ist für mich die Sonne.“ – Dilan

„Vermutlich sieht ein Elefant eh okay aus!“ – Juan

Viktoria Kirner: Wovor ekelst Du Dich, was ist für Dich hässlich?

Juan: Ich hatte mal eine furchtbare Erfahrung in Thailand. Ich habe einen Elefanten berührt und habe sofort Mitleid für dieses Riesentier empfunden. Haarig, rau, porös – so eine Haut gespannt auf einem riesigen Körper, diese Kreatur muss schrecklich aussehen. Aber vermutlich sieht ein Elefant eh okay aus!  

Ich denke, er sieht ziemlich okay aus! Was ist Schönheit?

Es gibt so viel Schönheit in der Welt! Ich glaube, es liegt sehr viel Schönes in Dingen, die Menschen schaffen und designen. Vor allem immer dann, wenn sich viele kreative Geister – Ingenieure, Designer, Künstler – zusammentun, um etwas zu bauen und Perfektion zu schaffen. Ganz allgemein glaube ich, dass Perfektion, besser noch Präzision, ein Indikator für Schönheit ist. Wenn es um Personen geht, da gibt es immer diese sozialen Standards: muskulös, eher symmetrische Gesichtszüge, auch hier: Präzision und Perfektion. 

Wie „siehst“ Du, ob jemand schön ist? Fragst Du andere Leute?

Früher hätte ich vielleicht andere Leute gefragt, ob eine Person schön ist. Als ich ein Teenager war zum Beispiel: „Hey Buddy, how does this Chick look?“ Aber das mache ich schon lange nicht mehr (lacht)! 

„Viele Sachen, die sich schön anfühlen, sehen wirklich scheiße aus.“

Du kannst Dich ja im Spiegel selbst nicht sehen, wie weißt Du dann, wie Du aussiehst?

Wenn es eine Sache gibt, die ich in meinem Leben gelernt habe, dann das: Egal, was passiert, alle Augen sind auf mich gerichtet. Immer! Das Erste, was passiert, wenn ich aus dem Zug steige, in eine Menge trete: Alle schauen, weil ich den magischen Stock habe. Deshalb versuche ich, mich wenigstens vorzeigbar zu kleiden. Und vorzeigbar gekleidet bin ich meistens deshalb, weil da zum Glück meine Frau ein Wörtchen mitzureden hat. Für mich muss sich Kleidung immer perfekt anfühlen. Viele Sachen, die sich schön anfühlen, sehen aber leider wirklich scheiße aus. Darauf weist mich meine Frau häufig hin. 

Du unterrichtest Blinde, die sich mit Hilfe von Klick- und Schnalzlauten orientieren wollen. Wie funktioniert das?

Man nennt das Klicksonar*. Viele blinde Personen haben wenig Verständnis von Räumlichkeit, der Beschaffenheit von Dingen und dem öffentlichen Raum. Sie können sich etwa nicht vorstellen, wie eine Zugstation oder eine Kreuzung aussieht. Eine blinde Person muss rausgehen und ihre Umwelt und ihr Umfeld aktiv – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen, um diese verstehen zu können. Klicksonar kann den Bewegungsspielraum erweitern. Wie weit eine Tür von der Ecke eines Raumes entfernt ist, weiß man dann bereits aus vier Metern Distanz, ohne an der Wand herumfummeln zu müssen, sondern allein durch das Echo der selbst erzeugten Klick- und Schnalzgeräusche. Der Radius reicht viel weiter als die Ein-Meter-Länge eines Langstocks! 

Ganz spontan: Was oder wer ist für Dich besonders schön?

Meine Frau hat gesagt, die Antwort muss sie sein!  

Dieses Interview ist in der Printausgabe #2 „The Beauty Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.

Das Bundes-Blindenerziehungsinstitut (BBI) in Wien ist eine spezialisierte Bildungseinrichtung für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Es bietet umfassende pädagogische, therapeutische und rehabilitative Unterstützung.

Die Schönheit des Bösen

Text: Lisa Peres, Antje Salvi Fotos: Heide-Marie Mayer, Lisa Peres, Sammlung: Wolfgang Mayer

Fliegerdruckanzug

Kriege sind hässlich. Solange es sie gibt, werden Menschen töten, sterben, flüchten, hungern und leiden. Lebensräume, Kulturen, Flora und Fauna werden zerstört. Gesellschaften über Generationen hinweg traumatisiert. Die Rüstungsindustrie entwickelt die ausgeklügeltsten Techniken, um zu vernichten, und die kreativsten, um zu überleben. Das Design des Krieges ist verführerisch schön und verströmt gleichzeitig seinen ganzen Schrecken.

Der Astronaut

Text: Eva Holzinger

Der 59-jährige Kanadier Chris Austin Hadfield ist wohl einer der bekanntesten Astronauten. Wer, wenn nicht er, dachten wir uns, kann über das Schöne sprechen? Seine Tweets aus dem All – ja, dort gibt es Twitter – machten ihn berühmt: Wenn er nicht gerade mit der Queen chattet oder David Bowies „Space Oddity“ in der Schwerelosigkeit interpretiert, erzählt er auf YouTube und Co. über das Leben und Arbeiten im All. Er ruft uns für das Interview via Facetime an. Drei Flüge ins All, zwei Spacewalks, ein Spaceship unter seiner Führung und exakt 30 Minuten Zeit, um über das Schöne, die Zeit und Angst im All zu sprechen. 

Der Fetz’n-Müller

Text: Eva Holzinger

Der Fetz´n-Müller_CO Vienna Magazine

Kritzendorf, die Donau hinauf, knapp 30 Autominuten von Wien. Dort regierte der Fetz’n-Müller, der österreichische Stoffkaiser, sein Reich. Das legendäre Textilgeschäft ist eine Institution, eine Pilgerstätte für Modedesignerinnen, Wiener Kunststudierende und Mekka der Do-it-yourself-Anhängerschaft. Aufräum-Ikone Marie Kondō hat hier Hausverbot: Wir trafen den Gründer Franz Müller, der leider 2022 verstorben ist, und seinen Nachfolger, den gebürtigen Bosnier Adnan „Adi“ Beslagić. In ihrem Büro hängt ein Schild mit einer Ziege an der Tür: „Hier gibt’s nichts zu meckern.“ Stimmt.