Unweit des grünen Praters treffen wir Julia, Kerstin, Damla, Dilan und Juan. Sie alle sind blind oder stark sehbeeinträchtigt. Wir sprechen mit ihnen über Vorurteile, Seegurken und die Schönheit von glatten Bildschirmen. Wir möchten erfahren, was der in unserer Kultur stark visuell konnotierte Begriff Schönheit für Menschen bedeutet, die nicht oder kaum sehen können.
Um die Ecke brausen zwei junge Rambos, kleine Stöpsel, kaum älter als zehn Jahre. Der eine mit schwarz verglaster Brille, der andere mit Langstock. Sie sind blind. Beide wirbeln um uns herum, und als sie hören, dass sie gerade auf jemanden mit Fotoapparat getroffen sind, werfen sie sich in Pose. Lässig eingehakt, den Stock mondän zur Seite gereckt, das Kinn herausfordernd gehoben: „Mach ein Foto von uns! Los!“
Wir sind im österreichischen Bundes-Bildungsinstitut - Schwerpunkt Sehen im 2. Wiener Bezirk in der Wittelsbachstraße, einen Steinwurf vom Grünen Prater entfernt. Seit 1898 widmet man sich in der weltweit zweitältesten Schule ihrer Art der Aus-, Fort- und Weiterbildung von blinden oder sehbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen, mit dem Ziel, ihnen ein Leben zu ermöglichen, das sie möglichst selbst bestimmen können.
„Über einen dünnen, glatten Bildschirm zu streichen – das finde ich schön.“ – Julia
Julia begrüßt uns knapp und kommt gleich zur Sache: „Welche elektronischen Geräte habt ihr mitgebracht? Windows oder Apple? iPhone 6 oder 7?“ Und schon verschwinden unsere Smartphones in ihren Fingern. Julia ist seit sechs Jahren am Blindeninstitut und mittlerweile annähernd vollblind. Unsere Fotosession wird ihr schnell zu langweilig: „Christian, willst Du mich noch hundert Jahre fotografieren, oder darf ich jetzt endlich Deine Geräte anfassen?“
Viktoria Kirner: Was ist für Dich schön?
Julia: Wenn mir die Stimme gefällt und auch der Charakter, dann ist mir egal, ob die Person auch wirklich schön aussieht. Aber wenn sie zusätzlich noch schön ist, dann ist das natürlich kein Problem. Für mich wäre zum Beispiel so ein Boxer-Haarschnitt schön. Links und rechts kurze Haare, oben länger. Ein bisschen Igel. Und breite Schultern. Bart mag ich manchmal auch.
Beschreibst Du mir gerade Deinen Traummann?
Ja!
Und woher weißt Du, dass ein Mann schön ist? Du kannst ihn ja nicht sehen.
Ich frage ihn einfach. Wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob er die Wahrheit sagt, versichere ich mich auch noch bei anderen Leuten.
Was ist für Dich ein schönes Kompliment?
Ich freue mich über jedes Kompliment, solange es ehrlich ist. Egal welches. Manchmal sagen mir Leute, dass ich hübsch bin. Das hört man schon gerne.
Was ist für Dich ein schöner Ort in der Stadt?
Ich finde Technikgeschäfte schön. Ich gehe gerne in so große Stores, MediaMarkt, Saturn, eventuell auch in einen Apple Store.
Welche Orte meidest Du lieber?
Die Oper oder Bibliotheken, ich kann ja alles auch digital machen. Und Museen. Meistens kann man dort nämlich nichts anfassen. Die Beschreibung von Sachen kann ich mir auch aus dem Internet holen.
Was ist Dein Lieblingsmaterial?
Glas oder Metall. Und ich fasse alle technischen Geräte gerne an. Ich mag es, wie sich die Tasten anfühlen. Über einen dünnen, glatten Bildschirm zu streichen, ein modernes Gehäuse zu fühlen – das finde ich sehr schön.
Was oder wer ist für Dich besonders schön?
Mein iPhone. Und ein Freund von mir ist sehr schön. Zumindest haben mir das andere Leute gesagt.
„Ich erkenne die Schönheit einer Person an der Stimme.“ – Kerstin
Kerstin strahlt, als sie uns in ihrem Büro empfängt. Sie ist ehemalige Schülerin und heute Bibliothekarin der Braille-Bibliothek* des Blindeninstituts. Bevor sie ihr Weg wieder zurückführte, arbeitete sie fünf Jahre lang als einzige blinde Telefonistin bei der Bundespolizei. „Ich wollte Erfahrung sammeln, eine leichte Zeit war das dort jedoch nicht. Ich musste kämpfen und lernen, mich durchzusetzen. Das hat mich stark gemacht. „Für mich ist ein Mensch schön, wenn er eine angenehme Stimme hat. Ich glaube, ich wirke auf Leute mutig oder stark. Ich habe mittlerweile ein sehr selbstsicheres und offenes Auftreten, früher war ich definitiv schüchterner. Erst kürzlich hat jemand zu mir gesagt: ,Heute strahlst Du aber sehr von innen!‘ – Das ist für mich ein wirklich schönes Kompliment.“
Damla, Schülerin am Blindeninstitut. Als wir sie fragen, wie sie sehen kann, ob jemand geschminkt ist, formt sich auf ihrem Gesicht ein riesiges Fragezeichen. Was soll das für eine Frage sein? Damla ist auf dem rechten Auge blind, mit ihrem linken kann sie aber noch etliche Dinge erkennen. „Was andere schön finden? Ich glaube, den meisten Leuten gefallen schöne Haare. Insbesondere Frauen gefällt das – und Schminke und schöne Kleidung sind wichtig. Was ich besonders gerne angreife? Katzen! Ich liebe Katzen!“
Dilan ist die jüngste Interviewpartnerin. Darauf angesprochen entgegnet sie uns bestimmt: „Im Inneren ist man immer jung! Was für mich besonders schön ist? Die Sonne. Ich bin automatisch gut gelaunt, wenn ich die warmen Strahlen auf meinem Gesicht spüre. Wenn die Sonne scheint, dann ist mein Tag einfach schon mal automatisch besser. Ich mag keine Clubs. Ich meide generell zu enge Orte, auch öffentliche Plätze mit zu vielen Leuten. Manche drängen sich dann an einen ran und kleben richtig an dir – ich hasse das!“
„Vermutlich sieht ein Elefant eh okay aus!“ – Juan
Juan ist seit 2015 Lehrer am Wiener Blindeninstitut und von Geburt an blind. Wir treffen ihn in seinem Büro im Dachgeschoss. Es ist hell, sehr geräumig und karg möbliert. „Wisst Ihr, was die Leute gesagt haben, die mir das Büro zugewiesen haben? In diesem Büro habe man den schönsten Ausblick auf die Stadt. Tja, schade, dass sie diese Aussicht ausgerechnet an jemanden wie mich verschwendet haben!“ Der gebürtige Kalifornier unterrichtete bisher in 27 verschiedenen Ländern Klicksonar, Orientierung- und Mobilität. Nicht etwa die Schönheit Wiens hat den Weitgereisten eingefangen, sondern die Liebe. Seit drei Jahren ist er mit einer Kollegin verheiratet.
Viktoria Kirner: Wovor ekelst Du Dich, was ist für Dich hässlich?
Juan: Ich hatte mal eine furchtbare Erfahrung in Thailand. Ich habe einen Elefanten berührt und habe sofort Mitleid für dieses Riesentier empfunden. Haarig, rau, porös – so eine Haut gespannt auf einem riesigen Körper, diese Kreatur muss schrecklich aussehen. Aber vermutlich sieht ein Elefant eh okay aus!
Ich denke, er sieht ziemlich okay aus! Was ist Schönheit?
Es gibt so viel Schönheit in der Welt! Ich glaube, es liegt sehr viel Schönes in Dingen, die Menschen schaffen und designen. Vor allem immer dann, wenn sich viele kreative Geister – Ingenieure, Designer, Künstler – zusammentun, um etwas zu bauen und Perfektion zu schaffen. Ganz allgemein glaube ich, dass Perfektion, besser noch Präzision, ein Indikator für Schönheit ist. Wenn es um Personen geht, da gibt es immer diese sozialen Standards: muskulös, eher symmetrische Gesichtszüge, auch hier: Präzision und Perfektion.
Wie „siehst“ Du, ob jemand schön ist? Fragst Du andere Leute?
Früher hätte ich vielleicht andere Leute gefragt, ob eine Person schön ist. Als ich ein Teenager war zum Beispiel: „Hey Buddy, how does this Chick look?“ Aber das mache ich schon lange nicht mehr (lacht)!
„Viele Sachen, die sich schön anfühlen, sehen wirklich scheiße aus.“
Du kannst Dich ja im Spiegel selbst nicht sehen, wie weißt Du dann, wie Du aussiehst?
Wenn es eine Sache gibt, die ich in meinem Leben gelernt habe, dann das: Egal, was passiert, alle Augen sind auf mich gerichtet. Immer! Das Erste, was passiert, wenn ich aus dem Zug steige, in eine Menge trete: Alle schauen, weil ich den magischen Stock habe. Deshalb versuche ich, mich wenigstens vorzeigbar zu kleiden. Und vorzeigbar gekleidet bin ich meistens deshalb, weil da zum Glück meine Frau ein Wörtchen mitzureden hat. Für mich muss sich Kleidung immer perfekt anfühlen. Viele Sachen, die sich schön anfühlen, sehen aber leider wirklich scheiße aus. Darauf weist mich meine Frau häufig hin.
Du unterrichtest Blinde, die sich mit Hilfe von Klick- und Schnalzlauten orientieren wollen. Wie funktioniert das?
Man nennt das Klicksonar*. Viele blinde Personen haben wenig Verständnis von Räumlichkeit, der Beschaffenheit von Dingen und dem öffentlichen Raum. Sie können sich etwa nicht vorstellen, wie eine Zugstation oder eine Kreuzung aussieht. Eine blinde Person muss rausgehen und ihre Umwelt und ihr Umfeld aktiv – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen, um diese verstehen zu können. Klicksonar kann den Bewegungsspielraum erweitern. Wie weit eine Tür von der Ecke eines Raumes entfernt ist, weiß man dann bereits aus vier Metern Distanz, ohne an der Wand herumfummeln zu müssen, sondern allein durch das Echo der selbst erzeugten Klick- und Schnalzgeräusche. Der Radius reicht viel weiter als die Ein-Meter-Länge eines Langstocks!
Ganz spontan: Was oder wer ist für Dich besonders schön?
Dieses Interview ist in der Printausgabe #2 „The Beauty Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.
Das Bundes-Blindenerziehungsinstitut (BBI) in Wien ist eine spezialisierte Bildungseinrichtung für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Es bietet umfassende pädagogische, therapeutische und rehabilitative Unterstützung.