Ganze 1,8 Millionen Menschen gehen in Wien täglich zu Fuß. Während sich die Autofahrerinnen traditionell über eine starke Lobby freuen können und Radfahren populärer denn je ist, gab es bis vor fünf Jahren keinerlei Anlaufstellen in der Stadt für Fußgängerinnen. Bis Petra Jens, 2006 als Galionsfigur der Wiener Hundstrümmerlgegnerinnen bekannt geworden, ihren Job praktisch selbst neu erfunden hat: Sie sorgt als Wiener Fußgängerinnenbeauftragte dafür, dass Zufußgehen wieder eine attraktive Option der Fortbewegung wird. Schlau macht es übrigens auch.
„Zufußgehen ist der Kreativität förderlich und hilft beim Stressabbau.“
Die schmalste Gasse Wiens, versteckt im 3. Bezirk.
Wie gehen Sie am liebsten zu Fuß?
Barfuß oder mit Bergschuhen.
Sehr geerdet! In Stöckelschuhen sieht man Sie wohl selten, aber das passt auch eher zu Ihrem Job ... Sie sind sozusagen „amtliche“ Fußgängerin. Wie genau sieht Ihre Arbeit aus?
Stöckelschuhe sind tatsächlich nicht so mein Ding. Mein Job ist es, das Zufußgehen in Wien beliebter und wichtiger zu machen.
Sie sind also eine Art Anwältin für Fußgängerinnen?
Ich bin keine Anwältin, ich bin eine Ansprechperson. Zu mir kann jede und jeder kommen. Bei uns in der Mobilitätsagentur laufen Beschwerden und Beobachtungen ein, die wir dann an die entsprechenden Stellen der Stadt Wien weiterleiten: Ampeln, die zu kurz geschaltet sind, oder Gehsteige, die zugebaut werden. Telekommunikationsfirmen machen sich zunehmend mit ihren Kästen auf den Gehsteigen breit. Im Jahr bekommen wir zum Zufußgehen 500 bis 800 Anfragen, also doch zwei Anfragen pro Tag, etwas weniger als zum Thema Radfahren. Manche Bürgerinnen sind einfach nur wütend, weil ihnen irgendetwas widerfahren ist, manchmal sind es aber sehr knifflige Angelegenheiten. Wenn sich ein Thema häuft, versuchen wir, einen passenden Arbeitskreis ins Leben zu rufen.
Was reizt Sie persönlich am Spazierengehen?
Das Gespräch, das man dabei führen kann, und dass man die Stadt viel intensiver als beispielsweise beim „Radln“ erfahren kann, wo man doch immer wieder hintereinanderfahren und ausweichen muss.
„Das Gehen als Kulturtechnik ist in vielen Familien nicht mehr selbstverständlich.“
"Walk with me!" ist der Titel geführter Entdeckungs-Touren zu Fuß durch Wien, die die Mobilitätsagentur anbietet.
Zufußgehen soll ja schlau machen ...
Richtig. Ich habe einmal gelesen, dass das Gehen rechte und linke Gehirnhälfte miteinander verknüpft und vernetzt, der Kreativität förderlich ist und beim Stressabbau hilft.
Ein besonderes Anliegen ist Ihnen, dass Kinder mehr zu Fuß gehen, und Sie betonen immer wieder, wie wichtig es ist, dass diese von den Eltern nicht mit dem Auto zur Schule gefahren werden ...
Kinder leiden generell immer mehr an Bewegungsmangel. Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht nehmen stark zu. Der Schulweg ist eine Strecke, die Kinder täglich machen und die etwa ein Drittel des empfohlenen Bewegungsbedarfs abdecken kann, den die Weltgesundheitsorganisation für Kinder empfiehlt: eine Stunde Bewegung am Tag.
Nur eine Stunde?!
Minimum. Die Kinder, die zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule kommen, sind viel aufnahmefähiger. Auch die soziale Komponente ist nicht zu unterschätzen. Das geht ja auch mir nicht anderes. Wenn ich zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs bin, treffe ich immer Leute. Wie viele wichtige Besprechungen haben sich schon en passant ergeben? Das machen Schulkinder genauso. Da wird viel ausverhandelt auf dem Schulweg ...
Wie war Ihr Schulweg in der Kindheit?
Sehr schön. Ich war im 20. Bezirk in der Volksschule und bin die ersten zwei Jahre gemeinsam mit einem Nachbarsburschen zur Schule gegangen. Im Gymnasium bin ich zehn Minuten am Donaukanal entlang zur Straßenbahn geschlendert. Den Weg habe ich geliebt. Ich hatte dort meinen Lieblingsbaum und im Winter habe ich immer die Möwen beobachtet. Diese Strecke war sehr wichtig für mich, nicht zuletzt auch, um den erlebten Schultag zu verarbeiten.
„Zufußgehen gilt im Verkehrswesen wirklich als das Letzte vom Letzten.“
Petra Jens inmitten ihres Projekts „Geh-Café“. Zum Ausklang jeder geführten Tour gibt es immer ein Pop-Up-Café.
Schnappschuss aus Wien (Quelle: Facebook)
Man hört, viele Kinder können gar nicht mehr gut gehen. Können Sie das bestätigen?
Ja, absolut. Sie sind das nicht gewohnt. Die Vorstellung, zu Fuß zu gehen, ist für viele Kinder so ungewöhnlich, so fern, so absurd, dass sie dann auch schwer zu motivieren sind. Das Gehen als Kulturtechnik ist in vielen Familien nicht mehr selbstverständlich. Das sind alles Gründe, weshalb es so wichtig ist, dass man mit den Kleinen im Alltag viel zu Fuß gehen sollte: zum Kindergarten, zum Einkaufen, zur Oma, zum Spielplatz. Das ist wirklich wichtig!
Was gefällt Ihnen besonders gut an Ihrem Beruf?
Dass er zu Beginn – als ich vor über fünf Jahren begonnen habe – einzigartig war. Ich musste mich quasi selbst erfinden. Es gab keinen, den ich fragen konnte. Ich bekomme immer wieder Anrufe von anderen Städten, die überlegen, auch die Stelle einer Fußgängerinnenbeauftragten einzuführen, etwa in Köln oder Danzig.
In keiner anderen Stadt in Europa gibt es den Job, den Sie besetzen?
Nein, nirgendwo. Zufußgehen gilt im Verkehrswesen wirklich als das Letzte vom Letzten. Eine der Ersten zu sein, die das Potenzial des Zufußgehens erkannt hat und in mainstreamtaugliche Botschaften und Formate übersetzt, ist etwas, was mich fasziniert. Genauso wie das Gefühl, einen Veränderungsprozess zu begleiten. Es gibt natürlich auch vieles an diesem Job, was frustrierend ist.
Was frustriert Sie denn an Ihrem Job?
Am Anfang war ich sehr oft verzweifelt, weil es so schwierig ist, durchzudringen und Verständnis herzustellen. Jedem neuen Kontakt erst einmal erklären zu müssen, wer man ist, was man macht, und warum das überhaupt notwendig ist, ist mühsam. Im Unterschied zu allen anderen Verkehrsarten gibt es für das Zufußgehen kein eigenes Budget und deshalb auch keine spezifischen Gremien. Es gibt keine zentrale Stelle, die über Fußverkehrsangelegenheiten entscheidet.
„Jeder geht irgendwann zu Fuß, mindestens kurz zum Auto. Trotzdem gibt es keine Abteilung für Fußverkehr.“
Das ist doch verrückt, wenn man sich überlegt, wie viele Personen in Wien pro Tag zu Fuß unterwegs sind ...
1,8 Millionen Menschen. Jeder geht irgendwann zu Fuß, mindestens kurz zum Auto. Trotzdem gibt es keine Abteilung für Fußverkehr und auch keine Task-Force. Zufußgehen ist ein additives Thema, das nur manchmal mit behandelt wird. Bisher wurden beispielsweise Klimaaktivförderungen nur für Maßnahmen gewährt, die CO2-Äquivalente einsparen. Das heißt, alles, was hohe Kilometerleistungen hatte, wurde höher bewertet. Zu Fuß macht man nicht viele Kilometer, deshalb wurden Fußverkehrsinfrastrukturmaßnahmen kaum gefördert. Das sind alles Strukturen, die sehr unfair sind.
Was nervt Sie beim Zufußgehen in Wien?
Mich persönlich ärgern Autos und Fahrräder auf Gehwegen oder auch total sinnlose Hindernisse, wie temporäre Halteverbotsschilder bei Baustellen. Das empfinde ich einfach als Respektlosigkeit. Es ist völlig absurd, dass die am Gehsteig stehen, weil es schließlich ein Zeichen ist, das sich an den Autoverkehr richtet. Wir haben kürzlich eine Gesetzesänderung bewirkt, die festlegt, dass die auch in der Parkspur stehen können. Auch die neuen Elektroladestellen hätten eigentlich in die Parkspur gehört und nicht auf die Gehsteige. Das ist sehr unbefriedigend und nicht im Sinne des Fußverkehrs.
Und was stört die Fußgängerinnen am meisten?
Bei der letzten Fußgängerbefragung wurde am häufigsten der Hundekot genannt.
Das ist ja Ihr Thema. Sie sind sozusagen der Hundekotbekämpfungs-Star. Sie haben es 2006 zur Galionsfigur der Wiener Hundstrümmerlgegnerinnen gebracht, indem Sie ca. 157.000 Anti-Kot-Unterschriften gesammelt und die Stadt so unter Druck gesetzt haben. Eine Folge davon war die groß angelegte „Nimm ein Sackerl für dein Gackerl“-Kampagne.
Hundekot ist etwas, was die Leute heutzutage überhaupt nicht mehr akzeptieren. Früher wurde das sozusagen als gottgegeben hingenommen, nach dem Motto: „Das ist halt so.“
„Das Anmelden bei Ampeln ist eine Degradierung der Fußgängerinnen.“
Funktioniert es in Ihren Augen?
Es ist eine ganz normale Kulturtechnik geworden, dass Hundekot aufgehoben wird. Das war früher überhaupt nicht üblich. Dieses Beispiel hat mir gezeigt, dass es Kraft der Kommunikation und auch der Politik möglich ist, eine Kultur zu verändern. Und das ist auch im Verkehrsverhalten möglich.
Was ist den Fußgängerinnen in Wien wichtig?
Sauberkeit ist ein ganz großes Thema beim Zufußgehen. Dann fühlen sich die Leute sicher. Was sich die Leute wünschen, sind Sitzgelegenheiten. Was sie stört, sind Ampelregelungen, die nicht fußgängerfreundlich sind: Ewiges Warten. Das Anmelden bei Ampeln ist eine Degradierung der Fußgängerinnen.
Wer bestimmt eigentlich die Länge einer Ampelperiode?
Das ist in einer Vorschrift festgelegt. Die Ampel muss so geschaltet sein, dass man mit 1,2 Sekunden pro Meter über die Straße kommen kann.
Aber da muss man doch auch genau dann starten, wenn es grün wird?
Wenn ich mit dem Grün starte, habe ich sehr viel Zeit, um die Fahrbahn zu queren. Wenn es grün blinkt – übrigens ein Unikum in Wien –, kann ich auch noch starten, muss aber zügig gehen. Auf das Grünblinken folgt die sogenannte Räumzeit, die ist eigentlich schon rot, gehört aber noch den Fußgängerinnen. Das ist der Grund, warum sich viele Fußgängerinnen gestresst fühlen, weil ihnen nicht bewusst ist, dass das Rot danach auch noch ihnen gehört. Das Problem ist, dass das auch viele Autofahrerinnen nicht wissen und den Fußgängerinnen Stress machen. Das ist eine Angelegenheit, bei der viel zu wenig kommuniziert wird.
Und wie ist das mit den Gehsteigen?
Ein Gehsteig sollte nicht schmäler als zwei Meter sein. Das wurde im Masterplan für Verkehr im Jahr 2003 so festgelegt, hat aber keine gesetzliche Verbindlichkeit. Dabei orientiert man sich daran, wie breit ein Gehsteig sein sollte, damit zwei Personen, die vielleicht Einkaufstaschen tragen oder einen Kinderwagen schieben, entspannt aneinander vorbeikommen. An einer Straße mit mehr Frequenz muss der Gehsteig dementsprechend breiter sein.
Gab es schon immer Gehsteige in Wien?
Gehsteige sind eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Davor sind die Straßen einfach von allen genutzt worden.
„Der Wiener geht davon aus, wenn etwas nicht explizit erlaubt ist, dann ist es verboten.“
Was die Lebendigkeit vieler Städte ausmacht, ist, dass viel am Gehsteig passiert. Das ist doch das Urbane schlechthin: eine Bank, Leute, die reden, gemeinsam rauchen, trinken. Würde Sie das stören?
Das stört mich überhaupt nicht, weil alles, was den öffentlichen Raum belebt, auch das Zufußgehen attraktiver macht. Die Frage ist nur, ob dann noch Platz zum Durchgehen bleibt. In Berlin und New York gibt es sehr breite Gehsteige, wo das leichter möglich ist. In Wien haben wir nicht diese Kultur, dass man einfach etwas macht. Es ist alles reglementiert. Der Wiener geht davon aus, wenn etwas nicht explizit erlaubt ist, dann ist es verboten.
Haben Sie eine Vision für Wien als die Stadt der Fußgängerinnen?
Ich hoffe, dass wir es schaffen, eine Kultur zu etablieren, in der die Menschen sich für den öffentlichen Raum selbst engagieren und ihnen die Behörden dabei entgegenkommen. Das ist ein gegenseitiger Lernprozess, der gerade stattfindet. Da verändert sich momentan viel.
Was tut sich?
Gerade arbeiten wir am Pilotprojekt „Schulstraße“. Das ist ein temporäres Fahrverbot vor Volksschulen vor Schulbeginn von einer halben Stunde. Das testen wir gerade. Und es wird gut angenommen. Auch die sogenannten Parklets sind beliebt. Das ist eine kleine Sitzecke, Grünoase, ein Mikrofreiraum in einer Parkspur, den man beantragen kann. Die Wohnstraße ist ein an und für sich tolles Konzept, das aber leider nicht gelebt wird. Von Autofahrerinnen wird sie nicht respektiert. Sie fahren dort viel zu schnell durch. Bei der Umgestaltung der Mariahilfer Straße in eine Fußgängerinnen- und Begegnungszone konnte sich anfangs auch niemand etwas darunter vorstellen. Viele meinten: „Was ist das für eine bescheuerte Idee? In der Mitte wird doch keiner gehen, da sind doch keine Geschäfte, da sieht man doch nichts!“ Natürlich wird heute auch die Mitte der Straße zum Zufußgehen genutzt. Es war in den Köpfen so verankert, dass wir Fußgängerinnen an den Rand gehören, tun wir aber nicht.
Lehrerinnen und Schülerinnen der Volksschule Vereinsgasse machen Autofahrerinnen auf die Sperre aufmerksam.
Die Fußgängerinnenkarte kann man kostenlos bestellen. Sie informiert unter anderem über Stadtwanderwege mit Tipps für die schönsten Spaziergänge durch Wien. Eingezeichnet sind Trinkbrunnen, öffentliche WC-Anlagen und öffentliche Durchgänge.