Gleichgeschlechtliche Liebe, Transvestismus und intersexuelle Menschen gab es schon immer – auch in der Kunst. Benjamin aka Drag Queen Tiefe Kümmernis führt durch das Kunsthistorische Museum in Wien und gibt einen queeren Blick auf Meisterwerke von Raphael über Correggio bis Tizian. Gender bending art galore! Wir haben Ben an einem der feierlichsten Orte Wiens getroffen und eine Führung bekommen. Ohne Make-up, Perücke und schmerzende High Heels.
"Unterm Strich ist die Drag Queen Tiefe Kümmernin eine strahlendere Version von mir selbst."
Eva Holzinger: Bist Du vor Deinen Führungen im Kunsthistorischen Museum nervös?
Benjamin: Immer. Aber kurz bevor es losgeht – egal ob Führung, Party oder Performance – fühle ich mich stark. Ich benutze die Tatsache, dass mich die Besucherinnen anstarren, um mit ihrer Aufmerksamkeit zu spielen und sie so zu manipulieren, wie ich sie gerade haben möchte. Dann entspanne ich mich und fühle mich von dem Outfit der Tiefen Kümmernis ermächtigt.
Wie reagieren die Besucherinnen auf Deine Führungen?
Mit einem Lächeln und ernsthaftem Interesse. Mein Gefühl ist, dass mir mein Publikum wirklich an den Lippen hängt. Immer wieder höre ich: „Das war ein ganz besonderes Erlebnis.“ Manchmal kann ich das annehmen, aber manchmal kommen auch die Zweifel in mir hoch. Ist doch bloß Drag plus Museumsführung? Oder ist das wirklich etwas Besonderes?
Kunstgeschichte kann ziemlich angestaubt sein und voller Sexismus. Denke ich an einen Kunsthistoriker, dann habe ich einen weißen, heterosexuellen Mann im Kopf. Genau das durchbrichst Du und machst es mit Deinen Führungen zu etwas Besonderem.
Das ist mein großes Anliegen. Eine Professorin in meinem Kunstgeschichtsstudiums wusste nicht mal, was LGBT – Lesbian Gay Bisexual Transgender – heißt, und wollte es auch gar nicht wissen. Ich will diese alte Denke umkrempeln. Drag ist meine Waffe gegen den vorherrschenden heteronormativen Blick in der Kunstgeschichte. Die queere Perspektive hat es schon immer gegeben, sie braucht nur einfach ein Sprachrohr – und das versuche ich zu sein.
„Das Kunsthistorische ist prunkvoll und protzig, besitzt aber relativ wenig Selbstironie.“
"Für das Museum ist das nicht nur ein wohltätiger Akt, mit dem sie mir oder der queeren Community einen Gefallen tut, sondern es profitiert davon."
Ist das Kunsthistorische Museum als Institution nicht furchtbar angestaubt und dafür überhaupt der richtige Ort?
Das Kunsthistorische ist prunkvoll und protzig, besitzt aber relativ wenig Selbstironie und hat es lange verfehlt, sich selbst zu hinterfragen. So geht es fast allen Museen. Zum 125-jährigen Jubiläum gab es die Sonderausstellung „Feste feiern“, es ging dabei unter anderem um den Ausbruch aus dem Alltag, Kostümierung und Rollenspiel. Ich ergriff die Chance und schlug vor, eine Führung in Drag zu machen. Wir haben es ausprobiert, und es hat so gut funktioniert, so gut, dass es fortgesetzt wurde.
Gab es Bedenken, eine Drag Queen durch die heiligen Hallen führen zu lassen?
Kaum. Für das Museum ist das ja nicht nur ein wohltätiger Akt, mit dem sie mir oder der queeren Community einen Gefallen tut, sondern es profitiert auch davon: Die mediale Aufmerksamkeit ist groß, die Besucherinnenzahlen hoch. Und ich habe zusätzlich zu meinem Job als Kunstvermittler die Chance, Menschen Begrifflichkeiten wie Transsexualität und Transvestismus zu erklären – und das ist in rückwärtsgewandten Zeiten wie heute extrem wichtig.
„Transsexualität und Transvestismus zu erklären, ist in rückwärtsgewandten Zeiten wie heute umso wichtiger!“
Kümmernis oder Wilgefortis abgeleitet von lat. „virgo fortis“ heißt so viel wie starke Jungfrau, erklärte uns Ben in der Mitarbeiterinnen-Lounge.
Deine Führungen finden immer mit einem gewissen Augenzwinkern statt. Banalisiert man die Kunst, in dem man sie wie Du zugänglich macht?
Es ist mir wichtig, meine eigene Rolle nicht überzubewerten. Interpretationen können einem materiellen Ding, das nicht über Sprache funktioniert, immer nur unzulänglich gerecht werden. Gleichzeitig ist eine Mystifizierung und künstliche Erhöhung der Kunst unnötig, finde ich. Ja, es liegen hunderte Jahre zwischen dem Entstehen der Werke und den Betrachtenden hier im Museum, aber das heißt noch lange nicht, dass die Bilder nichts mit unserer heutigen Gesellschaft zu tun haben.
Beweise es uns anhand von dem wunderbaren Gemälde „Hermaphroditus und die Nymphe Salmacis“!
Das Bild „Hermaphroditus und die Nymphe Salmacis“ ist Teil meiner Führung: Die Nymphe Salmacis verliebt sich in den jungen Mann Hermaphroditus und zieht ihn in ihrer Quelle unter Wasser. Sie betet zu den Göttern, dass die beiden nie wieder getrennt werden mögen. Die Götter erfüllen den Wunsch, indem sie beide Körper zu einem verschmelzen. Nach der Sage von Ovid entsteht so der erste Hermaphrodit. Hermaphroditen sind zwar mythologische Wesen, aber immer schon wurden auch intergeschlechtlichen Menschen (mit „uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen“) geboren. Hier durchdringen sich Mythos und Alltagserfahrung. Der Maler zeigt in diesem Fall aber, ganz dem damaligen Zeitgeist entsprechend, den Moment vor der Verschmelzung: der klassische weibliche Akt statt dem intergeschlechtlichen Körper.
Du zur einen Hälfte amerikanischer, zur anderen deutscher Herkunft. Wie bist Du letztlich im Kunsthistorischen Museum in Wien gelandet?
Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe in Nürnberg Kunstgeschichte studiert. Wien hat einen ganz besonderen Reiz auf mich ausgeübt, weil Kolleginnen in den 90er-Jahren progressive Vermittlungsarbeit in Museen geleistet haben. Es wurde hier mit performativen Elementen und mit Dialog statt Monolog gearbeitet. Wien war sozusagen die Geburtsstätte der modernen musealen Kunstvermittlung. Mit einem Praktikum im Essl Museum hat alles für mich begonnen. Seit 2016 bin ich im Kunsthistorischen Museum.
Fühlst Du Dich in Wien zu Hause?
Auf alle Fälle. Neben der ausdifferenzierten Museumsszene liegt es aber auch an der queeren Nischenszene, dass ich mich hier so wohlfühle: Sie ist alternativ, ein bisschen schmuddelig und nicht perfekt. Wie ich!
„Wiens queere Szene ist alternativ, ein bisschen schmuddelig und nicht perfekt. Wie ich!“
Fixpunkt der Führung ist Bartholomäus Sprangers Gemälde „Hermaphroditus und die Nymphe Salmacis“ von 1581/1582.
Warum bist Du Drag Queen?
Ich bin nicht daran interessiert, mein Gesicht oder meine Drag Performance für eine riesige kommerzielle Party oder für ein kommerzielles Unternehmen herzugeben. Ich suche in Drag weder ein zweites Standbein noch den Ausweg aus meinem langweiligen Beruf als Kunstvermittler (lacht). Vielmehr kann ich meine queer-feministischen und antikommerziellen Ideale bei kleinen, aber großartigen Partys und Performance-Formaten verwirklichen.
Woraus bestehen diese queer-feministischen Ideale? Was bedeutet Drag für Dich?
Drag bedeutet für mich die spielerische Dekonstruktion von Geschlechterrollen und die Eröffnung von neuen Handlungsspielräumen. Ich will als Mann, der gerne Kunst macht, sensibel und ein kleines bisschen eitel ist, keine Randerscheinung darstellen, sondern eine normale Facette von Männlichkeit. Ich suche in Drag nicht nur weibliche Anteile an mir, sondern auch eine Art Kameraderie zwischen mir und Frauen. Frau zu sein ist doch eigentlich unmöglich: Man sollte attraktiv, aber nicht zu aufreizend sein. Sensibel, aber keine Heulsuse. Mit etwas Durchsetzungsvermögen, aber bloß nicht zu viel! Mit Drag kann man dieses Gefüge hinterfragen und öffnen.
Wie lange dauert die Verwandlung in die Tiefe Kümmernis? Und wer ist sie?
Der Verwandlungsprozess beginnt äußerlich beim Rasieren, dann geht es weiter mit Kleben, Primer, Foundation, Make-up und so weiter; das kann bis zu vier Stunden dauern, alles genau aufzuzählen im Übrigen auch (lacht). Die Tiefe Kümmernis selbst unterscheidet sich gar nicht so stark von Benjamin. Ich habe sie ja nicht am Reißbrett entworfen. Sie ist eine Mischung aus Mut und Humor und eine selbstbestimmte Person. Unterm Strich ist sie eine strahlendere Version von mir selbst. Eines mag ich noch anmerken: Drag Queen zu sein ist teuer …
„Räume den Geschirrspüler in High Heels aus!“
… und schmerzhaft, oder?
... und ob. Bei einem mehrstündigen Shooting oder anderen Aktionen kann es schon passieren, dass ich sehr viel Schmerzmittel nehmen muss, um es zu ertragen. Meine Füße waren schon mal voller Blutblasen. Es hat Tage gedauert, bis ich mich wieder erhole habe.
Ein Tipp, bitte: Wie lernt man, in High Heels zu gehen?
Zieh sie zu Hause an. Arbeite am Computer, iss damit. Schritt zwei: Haushaltsaktivitäten. Räume den Geschirrspüler in High Heels aus! So gewöhnst du dich Schritt für Schritt an die High Heels, und sie werden zu einer Selbstverständlichkeit. Die Kür: Asphalt und Kopfsteinpflaster. Darauf kann dich einfach nichts und niemand vorbereiten.
„Conchita war nicht die erste Frau mit Bart in der Geschichte!“
Der Name „Tiefe Kümmernis“ ist sehr ungewöhnlich für eine Drag Queen. Gewohnt sind wir eher schrille oder lustige Namen à la Lady Bunny oder Pussy Tourette!
Das liegt daran, dass der Name seine Wurzeln dort hat, wo man ihn wohl am wenigsten mit einer Drag Queen in Verbindung bringt: im katholischen Volksglauben des Mittelalters. Die Legende erzählt die Geschichte einer Frau mit Bart. Conchita war also nicht die Erste! Ein König will seine Tochter verheiraten. Diese sträubt sich dagegen und bittet Gott im Gebet darum, sie so zu verändern, dass kein Mann mehr Interesse an ihr habe. Daraufhin wächst ihr über Nacht ein Bart. Der König ist erzürnt und lässt sie zur Strafe kreuzigen.
Der Bart funktioniert in der Geschichte wie ein Schutzschild, um die Jungfräulichkeit der Prinzessin und damit ihre sexuelle Selbstbestimmung zu bewahren. „Die Tiefe Kümmernis“ ist meine persönliche Abwandlung davon.
Warum gibt es eigentlich so wenige Drag Kings?
Weiblich zu sein – das bedeutet in unserer Gesellschaft schön zu sein, sich künstlich zurechtzumachen, und hat fast schon etwas Theatralisches. Männlichkeit hingegen meint vermeintlich etwas Bodenständiges, Unauffälliges, Natürliches. Das macht Männlichkeit schwerer hinterfragbar, weil sie vorgibt, authentisch zu sein. Dabei ist sie genauso ein Code, eine Konvention von Verhaltensweisen und Aussehen. Das führt aber dazu, dass man Weiblichkeit viel leichter übersteigern und dabei immer noch referenzieren kann.
Wir stehen hier vor einem wunderschönen Tizian! Das berühmte Portät der Isabella d’Este, was kannst Du uns darüber verraten?
Isabella d’Este war eine der wichtigsten Personen in der Kultur und Politik der italienischen Renaissance. Dieses Porträt hat sie anfertigen lassen, als sie bereits fünfzig Jahre alt war, auf dem Bild sieht sie aber kaum älter als zwanzig aus. Das liegt daran, dass sie dem Maler ein Bild aus ihrer Jugend geschickt hat, gemeinsam mit einer perfekt ausgeschmückten Beschreibung ihres Aussehens und Charakters. Es ist also mehr ein Idealbild, kein Porträt. Isabella war eine weise, sehr beliebte Herrscherin, bekannt für ihre Willensstärke und ihre Förderung der Künste und Wissenschaften. Eine Art Proto-Feministin vor 500 Jahren. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Beispiel von Eitelkeit, Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, dem Wunsch nach Idealisierung. Diesen Widerspruch mag ich ganz gerne. Und die Frage, die immer bleiben wird: Wie sah sie wirklich aus?
Aber machen wir es Isabella d’Este nicht nach, wenn wir Selfies auf Instagram posten, darüber Filter über Filter legen, uns selbst perfektionieren und verbergen, wer wirklich hinter den Fotos steckt?
Das stimmt. Ich empfinde diese Möglichkeit, sich selbst entwerfen zu können, als eine extrem spannende und teilweise auch großartige Sache. Ich kann steuern, wie ich wahrgenommen werde. Immer wieder empfinde ich aber auch Abneigung gegenüber Social Media: alles Fake! Auch Drag kommt mir dann absurd vor, weil es ja Selbstdarstellung par excellence ist und noch dazu eine total konsumbehaftete Praxis. Ständig muss man neue Outfits kaufen. Das passt eigentlich gar nicht zu mir. Andere Aspekte an Drag gefallen mir aber dann doch so sehr, dass ich immer weitermache.
„Der Adler leckt das Handgelenk des jungen Mannes: ein Hinweis auf homosexuelle Liebe und Anziehung.“
Correggios berühmtes Bild „Entführung des Ganymed“ (um 1530)
Wir beenden unser Interview vor Correggios berühmten Bild „Entführung des Ganymed“. Was für ein geniales Bild!
Ganymed ist in der griechischen Mythologie der Schönste aller Sterblichen und wurde von Zeus geliebt und entführt. Das ist das Paradethema männlicher Homoerotik in der Mythologie. Correggio hat es mit Sinnlichkeit und positiven Gefühlen aufgeladen. Dass der Adler (der verwandelte Zeus) das Handgelenk des jungen Mannes leckt, ist eine der ersten konkreten Hinweise in der Renaissancekunst auf eine echte homosexuelle Liebe und Anziehung.
Die Entführung vom Ganymed findet hier in beidseitigem Einvernehmen statt. Andere Künstler haben es brutaler dargestellt. Aber sollte ein Gemälde als queeres Vorbild gelesen werden, wenn es um sexuelle Gewalt geht, um Entführung oder gar Pädophilie? Es kommt auf die Interpretation an, darauf, ob man es als einen gewalttätigen Akt versteht oder nicht. Das Alter des sexuellen Konsenses ist eine gesellschaftlich verhandelte Komponente und wurde damals anders bewertet. Es ist sehr schwer, es auf die heutige Zeit zu übertragen und ein endgültiges Urteil zu finden. Aber um solche unauflösbaren Widersprüche geht es in meinen Führungen.
Es sei aber noch erwähnt: Das Bild ist eines meiner Liebsten, es ist wunderschön komponiert. Kunst muss ja nicht immer intellektuell, politisch oder sozial sein gelesen werden: Sie darf manchmal auch einfach nur schön sein.
Wir danken Dir für den wunderbaren Nachmittag und das Gespräch!