Die Viennale-Leiterin

Expansion statt Reduktion

Vorhang auf, Lichter aus: Von 22. Oktober bis 1. November findet die Viennale statt. Wegen strikter Corona-Maßnahmen werden die Filme dieses Jahr öfter und in zehn statt nur fünf Wiener Kinos gezeigt. Eine Online-Ausgabe war für die Festivalleiterin Eva Sangiorgi keine Option. Wir haben sie zum Interview im Gartenbaukino getroffen, darüber geredet, was einen guten Film ausmacht, was sie am Kino liebt und die immer wiederkehrende Frage am Ticketschalter: vorne, Mitte oder hinten?

Text: Lara Ritter; Fotos: Anja Kundrat

Eva Sangiorgi, die künstlerische Leiterin der Viennale.

Lara Ritter: Welcher Film hat Sie zuletzt zu Tränen gerührt?

Eva Sangiorgi: „I am Greta“, eine Dokumentation über die Klimaaktivistin Greta Thunberg, bei der ich auf dem Filmfestival von Venedig an vielen Stellen weinen musste. Mich haben die Anstrengungen dieser jungen Frau berührt, es hat mich aber ebenso wütend gemacht, dass viele Politikerinnen  ihre dringenden Appelle nicht beachten.

An der Kinokasse bei der Sitzplatz-Frage: vorne, Mitte oder hinten?

Ich wähle immer einen Platz zwischen den vorderen und mittleren Reihen, sodass die Leinwand mein Sichtfeld ganz ausfüllt. Ich mag es nicht, den Screen wie ein gerahmtes Gemälde vor mir zu sehen, ich möchte in den Film eintauchen können.

„Für mich ergibt eine Online-Version keinen Sinn.“

Wie viele Stunden pro Tag haben Sie in den vergangenen Monaten Filme angesehen?

Während des finalen Auswahlprozesses mehr als zwölf Stunden täglich, auch beim Festival besuche ich immer vier bis fünf Filmvorführungen hintereinander. Ich sehe aber das ganze Jahr über unglaublich viele Filme, da wir nach Festivalende schon wieder damit anfangen, das Programm für das kommende Jahr zu kuratieren.

Da muss man viel Sitzfleisch haben! Kino ist ein gemeinschaftliches Erlebnis, das Gegenteil eines Netflix-Abends, den man alleine daheim verbringt. Aber mit Maske, Abstand und Angst vor Ansteckung ist es nicht dasselbe. Wieso haben Sie entschieden, die Viennale heuer dennoch „live“ zu veranstalten?

Das Festival will ja einen Beitrag zum Erhalt der Kinokultur leisten. Wir sind nicht auf Weltpremieren spezialisiert, wir stellen ein Programm an Filmen zusammen, die wir als die besten des Jahres erachten. Um diese große Filmauswahl zum Streaming zur Verfügung zu stellen, müssten wir uns nicht nur in ein Online Event, sondern geradezu in einen Online Channel verwandeln. Das wäre für mich die letzte Option, denn das geht gegen den Spirit des Festivals. 

Wie läuft die Viennale dieses Jahr ab?

Pro Vorführung dürfen wir nur die Hälfte des üblichen Ticketkontingents verkaufen. Damit trotzdem genügend Besucherinnen die Möglichkeit haben, die Filme zu sehen, werden sie nicht nur in unseren fünf Stammkinos, sondern auch in fünf weiteren gezeigt und mehrmals hintereinander vorgeführt. Es ist schön, dass die Reduktion des Festivals gleichzeitig zu einer Expansion in neue Bezirke geführt hat. 

„Es ist ein magisches Gefühl, wenn ein Film beginnt.“

Gibt es einen Plan B, falls die Corona-Bestimmungen verschärft werden?

Im Extremfall eines Lockdowns würden wir das Festival verschieben, es würde dann aber nicht mehr in demselben Format stattfinden. Wie genau, wissen wir ehrlich gesagt noch nicht.

Sie haben Kommunikationswissenschaften in Bologna und Kunstgeschichte in Mexiko studiert. Seit über 15 Jahren sind Sie nun als Kuratorin und Programmiererin bei internationalen Filmfestivals tätig. Was macht Ihnen an Ihrem Job Spaß?

Es kann eine verdammt einsame Arbeit sein. Ich verbringe so viel Zeit damit, alleine Filme anzusehen und über sie nachzudenken. Die Diskussionen und Gespräche mit meinem Team und ehemaligen Kolleginnen, die auf der ganzen Welt verstreut sind, sind aber ein genauso wichtiger Teil meines Jobs. Ich genieße den Austausch mit ihnen sehr. Was ich ebenfalls an meiner Arbeit liebe, sind die Rituale, die das Kinogehen in sich birgt. Es ist ein magisches Gefühl, wenn ein Film beginnt, die Vorfreude und die Erwartungen aller Gäste zu spüren sind. Ebenso wichtig wie der Anfang eines Films ist das Ende, wenn alle Gedanken in den anschließenden Gesprächen oder Fragerunden ein Echo und ihren Platz finden. 

„Gute Literatur ist genauso wie gute Filme: seltsam, ungewöhnlich und zur selben Zeit perfekt.“

Sie saßen 2018 in der Jury der Filmfestspiele von Cannes, im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Venedig. Was macht für Sie einen guten Film aus?

Das Kriterium, nach dem ich Filme auswähle, ist vor allem Authentizität. Das bedeutet nicht, dass ein Film die Wahrheit erzählen oder Antworten liefern muss, sondern ich halte Ausschau nach Arbeiten, die eine eigene, persönliche Perspektive zeigen. Ich mag Filme, die Stringenz aufweisen und eine zeitgenössische Sprache haben, wobei ich natürlich auch klassischen Erzählformen nicht abgeneigt bin. Letztendlich hat aber jeder gute Film sein eigenes Geheimnis.  

Der Film Ihres Lebens?

Es gibt Tausende, aber im ersten Moment fallen mir die Arbeiten des französischen Regisseurs Jean Luc-Godard ein. „À bout de souffle“ und „Vivre sa vie“ gehören zu meinen Lieblingsfilmen. Den Film „Opening Night“ des amerikanischen Regisseurs John Cassavetes schätze ich ebenfalls sehr. Diese Filme sind einzigartig und so stimmig, wie es das Leben nie sein könnte, gleichzeitig spiegeln sie es exakt wider. Gute Literatur ist genauso wie gute Filme: seltsam, ungewöhnlich und zur selben Zeit perfekt. 

Was sind die Trends im jungen Film?

Themen, die immer wiederkehren, sind Liebe, Beziehungen, Kommunikation, Technologie, Gender und Umwelt. Wir bei der Viennale sind sehr darauf bedacht, junge Positionen zu featuren. Als Kuratorin habe ich das Gefühl, durch diese Arbeiten auf dem neuesten Stand zu bleiben. Dieses Jahr haben wir etwa der jungen französischen Filmemacherin Isabelle Pagliai eine Monografie gewidmet, in deren Rahmen wir drei ihrer Kurzfilme zeigen. Sie hat bisher keinen Langfilm gedreht, aber ihre Arbeiten zeichnen sich bereits durch eine klare Sprache und einen sehr spezifischen Blickwinkel aus. 

„Die Branche ist besorgt.“

Der Lockdown war ein Desaster für die heimische Filmbranche, Produktionen wurden eingestellt, Kinos mussten schließen, Filmbudgets gingen verloren. Wie geht es der Filmbranche jetzt?

Die Branche ist besorgt und in Schwierigkeiten. Zum Glück sind die Kinos wieder offen, aber ein Teil des Business ist auch die Vorführung neuer Filme – deren Produktion befindet sich gerade in der Warteschleife. Das Festival möchte Anlass für die Branche sein zusammenzukommen, daher haben wir die Grazer Diagonale mit einer Carte Blanche dazu eingeladen, sechs Filme und ein aus acht Kurzfilmen bestehendes Programm in den Festivalkinos der Viennale zu präsentieren. Wir hoffen, dass trotz der derzeitigen Umstände genügend Menschen motiviert sind, ins Kino zu gehen. 

Ihr Lieblingskino in Wien ist das Gartenbaukino. Wie sehr beeinflusst die Architektur eines Kinos das Filmerlebnis?

Sie ist wahnsinnig wichtig, Architektur beeinflusst unser Verhalten immer und überall. Hin und wieder besuche ich auch Multiplex-Kinos, und jedes Mal, wenn ich durch die unpersönlichen Gänge in den Saal gehe, ärgere ich mich. Das Gartenbaukino ist wunderschön und voll von Geschichte, ich bin immer mit großer Freude hier, sogar wenn ich auf die Toilette gehe. Auch der Eintrittsbereich, der Gang – all diese Orte gehören zum Ritual „Kino“ dazu. 

Popcorn im Kino: Muss oder No-Go?

Ich bin kein Fan von Popcorn, wahrscheinlich weil ich zu dem Part des Publikums gehöre, der sich voll und ganz auf den Film konzentrieren möchte. Ein noch größeres Problem habe ich aber mit Nachos mit Käsesoße (lacht).

Danke für das Gespräch!

Eva Sangiorgi (geb. 1978) ist seit vergangenem Jahr die künstlerische Leiterin des Wiener Filmfestivals Viennale. Sie wuchs in Italien auf und studierte Kommunikationswissenschaften an der Universität Bologna, das Studium der Kunstgeschichte schloss sie 2017 in Mexico ab. Sangiorgi ist seit 2003 als Kuratorin und Programmiererin bei internationalen Festivals in Mexiko und Europa tätig, 2010 gründete sie das internationale Filmfestival FICUNAM (Festival Internacional de Cine UNAM) der Universidad Nacional Autónoma de México, dessen künstlerische und kaufmännische Leitung sie bis März 2018 innehatte. Seit 2012 ist sie Jurorin bei internationalen Filmfestivals, 2018 wurde sie als Jurymitglied der Sektion „Semaine internationale de la critique“ der Filmfestspiele von Cannes berufen, 2019 als Jurymitglied der Sektion „Orizzonti“ der Filmfestspiele von Venedig.