Digitale Daten fließen durch Kabel wie Blut durch Adern. Posthumane Kreaturen erobern das Metaverse und verschmelzen mit unserer physischen Welt. Extended-Reality-Artist Christie Lau (they/them) designt diese und nimmt uns in die virtuelle Kunstwelt mit. Go digital with us!
Wie bringt man ein virtuelles Kleidungsstück dazu, sich zu bewegen? Christie erklärt, dass es eigentlich ein statisches Objekt sei, das manipuliert werden müsse. „Ich gebe dem Kleidungsstück ein Skelett, forme es an den Körper. Schritt für Schritt nähere ich mich dem Ende des 3D-Prozesses. Ich entwerfe nicht nur die Designs, sondern vermehrt auch die Posthumans, die gesamte Story von Beginn an.
Elisa Promitzer: Du trägst digitale fliegende Trenchcoats?
Christie Lau: Ja, für meine Social-Media-Posts schlüpfe ich in digitale Mode. Oder wenn ich meiner Oma über Zoom zeigen will, was ich eigentlich mache (lacht).
Hast Du als Kind mit Barbiepuppen oder am Computer gespielt?
Ich wuchs in Hongkong auf: Mein Papa ist Softwareentwickler und fragte mich immer: „Willst Du mit meinem Raspberry Pi spielen?“ Das ist ein Mini-Computer, wirklich sehr süß. Aber mehr Zeit verbrachte ich mit meinen Barbiepuppen, für die ich schon als Kind Outfits designte.
Ich experimentierte als Teenager auch mit diesem zehn mal 15 Zentimeter großen Computer! Ich zeigte leider deutlich weniger Talent als Du …
… das hat sich auch erst schleichend entwickelt. Diese Affinität für Technik drang unterbewusst in meinen Kopf ein und erkämpfte sich Jahre später seinen Platz innerhalb meiner Kreativität. Plötzlich dachte ich: Computer sind eigentlich sehr cool!
„Ein Kontinent mit dem Namen ‚Augmented Reality‘.“
Während der Londoner Modewoche präsentierte die ArtSect Gallery Arbeiten von neun verschiedenen Designerinnen und Künstlerinnen im Herzen des Londoner Kreativviertels Hackney Wick. Christies Installationsarbeit mit dem Titel „Cybernetic Skins“ besteht aus einer dreiseitigen Projektion auf einer lebensgroßen Leinwand.
Heute bist Du ein XR-Artist! Klingt cool, aber was ist das?
XR steht für Extended Reality – also ein Überbegriff für alle virtuell erweiterten Realitäten. Meine Reise in den digitalen Raum beinhaltete viele Zwischenstopps. Zu Beginn wagte ich mich noch nicht in die vollständige Welt, ich beschränkte mich auf einen Kontinent mit dem Namen „Augmented Reality“ (AR). Ich spielte mit AR-Filter, die man auf Instagram und Snapchat „anprobieren“ kann.
Wie ging die Reise weiter?
Mit der Zeit beschäftigte ich mich immer mehr mit Unreal Engine, Künstlicher Intelligenz und begann mit VR, also mit virtuellen Realitäten, meine eigenen Welten zu kreieren.
Du wirfst mit Tech-Begriffen um Dich, die für Außenstehende verwirrend klingen. Erkläre uns das mal alles!
Augmented Reality bedeutet, dass man etwas Digitales im realen physischen Raum sehen kann. Zum Beispiel über das Mobiltelefon, auf einem Bildschirm oder durch eine Brille. Es ist sozusagen eine Ebene, die über dem liegt, was ich sehe. Die Unreal Engine ist eine leistungsstarke Softwareplattform, die vom US-Spieleentwickler Epic Games entwickelt wurde. Sie hat sich hauptsächlich in der Entwicklung von Videospielen, im Bereich Filmproduktion, Bauen von virtuellen Realitäten (VR) und in der Architekturvisualisierung etabliert. Sie bietet eine Reihe von Werkzeugen, Bibliotheken und Funktionen, die Entwicklern helfen, Spiele effizienter und effektiver zu entwickeln.
„Die physische Welt wird um eine Ebene erweitert!“
Wie lange braucht man eigentlich für ein Kleidungsstück, das in der physischen Welt nicht existiert? Das ist sehr unterschiedlich und abhängig von der Komplexität eines jeden Designs. Wenn Christie eigene Welten erschafft, geht es nicht mehr nur um das Kleidungsstück. Es nimmt cinematographische Ausmaße an. Aktuell wird Christies 3D-Arbeit in Form von Videos gezeigt.
Was sind die gängigsten Tore zu Deiner virtuellen Welt?
Zum Beispiel das Headset. Die Technologie entwickelt sich stetig und sehr schnell weiter. Mittlerweile gibt es Mixed-Reality-Headsets, wie die Apple Watch Pro oder Meta Quest Pro, die diese Grenze aufbrechen.
Inwiefern?
Man sieht durch das Kamera-Headset immer noch die physische Welt, aber diese wird um eine vierte Ebene erweitert, zum Beispiel eine Infoebene, auf der man zusätzliche Informationen zu dem eingeblendet bekommt, was man sieht. Das gibt es ja schon in den Heckscheiben von Autos, in den etwa die Geschwindigkeit angezeigt wird.
Im Rahmen der Fashion Innovation Week des London College of Creative Art brachte Christie Modestudentinnen ihre digitale Praxis im Zuge eines Schnupper-Workshops bei. Christie eignete sich das Erschaffen von digitalen Welten selbst an. „Ich brachte mir diese neue Denkweise selbst bei, schaute viele YouTube-Tutorials. Mein Glück war, dass die Ressourcen an der Uni vor Ort waren. Computer mit ordentlichen Grafikkarten für 3D-Programme und Photogrammetrie. Quasi Learning by Doing – die Luxus-Edition.“
Wie haben Du und der Computer sich angefreundet?
Corona und der Lockdown haben diese Liaison befeuert und die Welt veränderte sich um mich herum. Am Ende verbrachte ich sehr viel Zeit am Computer, spielte mich mit 3D-Scannen, probierte mich durch alle Softwares, wie CLO3D und Blender, alles innerhalb von Gratis-Testmonaten – Monat für Monat erfand ich dafür eine neue E-Mail-Adresse (lacht). Es machte einfach Fun und das war der Einstieg in meine 3D-Praxis.
Ich absolvierte vergangenes Jahr auch einen Workshop mit dem 3D-Programm Blender, war schrecklich überfordert und scheiterte kläglich. Warst Du am Anfang auch so frustriert?
Das Programm fasziniert mich und kann viel. Man kann von dem Workflow für Mode lernen: Man beginnt mit Skizzen, dann werden Muster drapiert und geschnitten. Das ist ein sehr körperlicher Prozess. Dieses Wissen konnte ich auf eine 3D-Ebene bringen. Mein Praktikum bei GN3RA, eine Plattform für digitale Mode, spielte dabei eine große Rolle. Es entwickelte sich bereits alles in Richtung Augmented Reality, mit virtuellen Anproben über Snapchat. Man kann ein digitales Kleidungsstück anprobieren, wie den Hasenohr-Filter auf Snapchat. Dieser direkte Kontaktpunkt zog mich schlussendlich in die virtuelle Welt.
„Eine in der Luft schwebende Hose? Kein Problem!“
Auf DressX, dem ersten Online-Retailer für digitale Mode, kann man Designs von Christie ab 25 Euro virtuell erwerben. Mit Filter kann man schwebende Schuhe, fliegende Trenchcoats und mehr anprobieren.
Warum hast Du Dich für digitale Mode entschieden? Nachhaltigkeit? Neugier? Ästhetik?
Der Gedanke, ein Kleidungsstück zu entwerfen, das im wirklichen Leben so nicht existieren kann – es folgt nicht den Regeln der Physik – machte mich neugierig. Mit der Zeit begeisterten mich vor allem die sogenannten „Umgebungseinstellungen“ im Programm. Du möchtest eine schwebende Hose? Kein Problem! Dann dreht man den Parameter Schwerkraft einfach auf null.
Deine Graduate-Show war Dein Digital-Fashion-Debüt. Drei Models waren in lebensgroße QR-Codes gekleidet und liefen über den Laufsteg! Eine lustige Melange aus analog und digital!
Im Grunde war es Mittel zum Zweck. Ich musste etwas Physisches auf den Körpern der Laufstegmodels bringen, sonst wäre mir die Teilnahme an meiner Graduate-Show verwehrt geblieben. Also hieß es kreativ werden. Irgendwann kam es mir einfach in den Sinn: Ich erstelle riesige QR-Codes. Die Menschen im Publikum scannten diese mit ihrer Kamera und wurden mit einem Handy-Klick in eine meiner drei digitalen Welten entführt, dort präsentierten drei Metahumans meine Outfits. Ich möchte Fashion vom physischen Körper entkoppeln – ich kreiere radikal anti-physische Mode.
„Ich kreiere radikal anti-physische Mode!“
Christie beschreibt auf ihrem Instagram-Account die Abschluss-Kollektion mit folgenden Worten: „It’s a digital, absurdist take on the everyday context. I think that digital fashion is becoming omnipresent in the fashion industry, yet it hasn’t been properly integrated within a runway show format!“
Dein dritter Look „To the shops“ zeigt eine Metahuman-Oma, die einen Subway-Puffer, einen Antigravity-Hoodie und schwebende Jeans in einem Supermarkt-Zug trägt. Du überwindest die Gesetze der Natur!
Ich möchte, dass sich meine Designs nicht wie Kleidung verhalten. Zum Beispiel gestaltete ich einen Trenchcoat, der die Beziehung zwischen Mensch und Kleidungsstück umdreht: Der Trenchcoat trug die Person, und nicht die Person den Mantel. Diesen Gedanken führe ich immer weiter – ich designe Muster und Prints, die sich auf dem Körper bewegen, sich verändern und entwickeln. Ich schuf ein unmögliches Textil. Meine Arbeit ist surreal.
Du hast einen Screenshot vom Online-Versandhandel Asos gepostet, der Deine QR-Code-Idee kopiert hatte! Was ist passiert? Wie kann man sich als Designerin schützen?
Es amüsierte mich. „I just wanted to poke the bear.“
Deine Designs entfernen sich von der klassischen Definition von Mode. Du betrittst den Raum der Kunst!
Meine Arbeit ist sehr vielschichtig, ich kreiere nicht nur digitale Mode, sondern auch meine eigenen Charaktere und Avatare, eigene posthumane Realitäten. Alles, was ich mache, ist sehr nischig und das ist der Garant dafür, mein geistiges Eigentum zu schützen, das kann mir keine Firma wegnehmen.
„Meine Arbeit ist surreal!“
Christie beschreibt die Arbeit als „weltbauend, surreal & fantastisch!“ Was fasziniert Dich am meisten an Deiner Arbeit? „Der Gedanke, meine digitalen Projekte in einem physischen Kontext zu sehen. Zum Beispiel in Form von Hologrammen, Projektionen oder Visuals für eine Musikveranstaltung.“
Man kann Deine Outfits im dem Digitalshop Dress-X kaufen, wo man digitale Outfits ab circa 40 Euro erstehen kann: Zum Beispiel eine mottenzerfressene Hose, die von einem Mottenbefall in Deiner Küche inspiriert wurde. Die Motten gibt es inklusive dazu, sie schweben um die Hose. Wie trägt man das?
Mit der Dress-X-App kann man meine Designs mit einem Filter anprobieren, wie auf Snapchat. Man sieht die Bewegung. Diesen interaktiven Aspekt genieße ich am meisten. Digitales fühlt sich für einen Moment real an. Wenn man die Kleidung kauft, muss man ein Foto von sich einsenden, auf welches das erworbene Design gephotoshopt wird. Perfekt für Social Media.
Deine Arbeit und generell digitale Mode hat diesen „unreal“ Look! Absicht?
Virtuelle Mode bietet sich für diesen gamifizierten Look an. Ich persönlich denke: Warum sollte ich etwas kreieren, das echt aussieht? Es sei denn, die Kundin verlangt es. Für mich geht es darum, posthumane Narrative zu kreieren. Ich stellte mir die Frage: Wenn Du Dich so kleiden kannst, wie Du willst (im 3D-Space), wenn der Himmel das Limit ist, wofür würdest Du Dich entscheiden. Bis zu welchem Grad kannst Du aus Deinem Körper entfernt werden? Brauchen wir einen Avatar mit menschlichem Aussehen? In welchem Ausmaß können und sollen wir uns mit einem digitalen Avatar identifizieren? Das ist der Grund, warum ich Posthuman-Avatare kreiere.
Diese findet man auch in Deinem digitalen Kurzfilm „Cybernetic Skins“, …
… welcher nicht nur ein digitaler Modefilm ist. Nicht die virtuelle Mode steht im Vordergrund, sondern die Charaktere, die in einer „Cybernetic-Höhle" existieren.
Dieses technische Know-how und hilfreiche Tricks teilt Christie in Videos auf Social Media. Transparent, inspirierend, unterstützend. Das Gegenteil von der oft als selbstzentriert beschriebenen Modebranche. „Ich bin hier, wo ich heute bin, dank Tutorials anderer Menschen. Also ja, ich denke es verändert sich auf jeden Fall. Wenn ich ein digitales Problem löse, ist mein erster Gedanke: Ich will das mit anderen teilen. Ich glaube nicht an Gatekeeping. Indem man seinen Prozess transparent zeigt, bildet man eine Community. Eine Win-win-Situation.“
Genau, meine digitale Mode entpuppt sich als Storytelling-Tool: Als Digital-Artist bin ich überall von Kabeln umgeben. In diesem Film agieren diese als Katalysator für die Existenz digitaler Identitäten. Sie sind das Pendant zu menschlichen Venen. Digitale Daten sind das Blut. Es geht um die Verschmelzung von Fleisch und Kabel. Letzte schließen in meinem Film die posthumanen Kreaturen an die Matrix an.
Hältst Du Ideen und Inspirationen auch mit Stift und Papier fest, oder hast Du Dich gänzlich der digitalen Welt verschrieben?
Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch und vor mir liegt eine Checkliste, die ich random mit einem fetten Marker auf mein Notizbuch kritzelte (lacht). Ich versuche, die in meinem Kopf umherschwirrenden Ideen analog einzufangen. Die ästhetische Feinarbeit passiert digital!
Was inspiriert Dich?
Ich habe viele Referenzen aus Filmen. Zum Beispiel findet man Anlehnungen an den Science-Fiction-Anime-Film „Ghost in the Shell“. Kabel, Partikel und emittierende glühende Elemente, wohin das Auge reicht.
Du hast für die Show AMPHITRITE des Designers Jack Irving einen digitalen Avatar designt, …
… der es auch auf den physischen Laufsteg schaffte. Künstliche Intelligenz und menschliche Kreativität verschmelzen miteinander. Zuerst kreierten wir zusammen KI-Bilder. Dann kreierte ich einen digitalen Charakter, der ein virtuelles Kleidungsstück trägt und in der Form eines Videos zum Leben erwacht. In dem Fall endete es nicht hier, sondern wanderte weiter in die Hände des Designers …
„Digitale Daten sind unser Blut.“
Christie arbeitete nach dem Abschluss mit namhaften Brands zusammen, unter anderem mit Meta für das Projekt „Queen of the Metaverse“. Christie designte das virtuelle Outfit „Superverse Supersuit“ für Dragking Adam All.
All das klingt nach viel Zeit vor dem Computer! Was machst Du, um keine viereckigen Augen zu bekommen?
Essen ist eine meiner Leidenschaften. Ich datete eine Zeit lang jemanden aus Österreich und ich kochte sogar einmal Kaiserschmarren für uns. Sehr lecker!
Kochst Du auch Comfort-Food aus Deiner Kindheit?
Ich kombiniere gerne westliche und östliche kulinarische Einflüsse. Neulich machte ich Kimchi-Hummus. Das war köstlich.
Dein experimentelles Denken scheinst Du nie ganz ablegen zu können. Du bist das Echo der jungen Generation: Die Zukunft von Mode …
… ist ein interaktives Geschichten-Erzählen. Es braucht Storys, die die Kleidung in Kontext setzen. Es geht nicht nur um das Aussehen eines Individuums. Nicht um einen selbst. Es geht um eine vollständige Geschichte! Es ist kein neues Konzept, aber digitale Entwicklungen bringen diese Idee auf eine neue Ebene. Wir müssen sie nutzen und konkretisieren. Die Technologie ist da!
Geboren in Hongkong, heute in London lebend: Christie Lau (they/them) ist ein XR-Artist. Nach dem Abschluss des Studiums Fashion Print am Central Saint Martins College of Art and Design in London im Jahr 2022 arbeitete Christie mit namhaften Kunden wie z. B. Meta oder UK-Designer Jack Irving zusammen. Bekannt wurde Christie mit ihrer Graduate-Show, die von renommierten Publikationen wie i-D, Dazed und dem Evening Standard veröffentlicht wurden. Außerdem wurde Christie vom Institute of Digital Fashion auf der Top-100-Innovator’s-Liste von 2023 genannt.
Hier können Sie die virtuellen Welten von Christie Lau erforschen!