Nur wenige wissen, wer hinter dem Künstlernamen ZEITFANG steckt, doch hinter den Kulissen vernetzt der Fotograf die deutschsprachige zeitgenössische Musikszene wie kaum ein anderer. Vor seiner Linse stehen Stars wie die Band Tokio Hotel, die Sängerin Paula Hartmann oder der Komiker Otto Waalkes. Viele seiner Aufnahmen entstehen ganz nebenbei – bei einem gemeinsamen Kaffee oder im Trubel eines Musikfestivals.
Wir treffen Jonas, der sich hinter Zeitfang verbirgt, auf einen Käsekuchen in Berlin-Schöneberg. Am Tisch sitzt ein junger Mann, der das Rampenlicht meidet und die Kunst sowie Musik vor Ruhm und Eitelkeit stellt. Wir sprechen über Authentizität, eine ADHS-Diagnose und die Schönheit von Analog-Fotografie.
Im Alter von sechs Jahren sang Jonas im Knabenchor. „Ich wurde tatsächlich einmal entdeckt, weil ich eine besondere Stimmlage hatte.“ Ein Vorsingen in London hätte ihn beinahe auf den Weg einer klassischen Gesangskarriere gebracht. Dank seines Gespürs für Musik hat er die Stars von morgen oft schon gestern fotografiert.
Rahel Schneider: Erinnerst Du Dich noch an Dein erstes Album?
Zeitfang: Gute Frage! Eines meiner ersten war auf jeden Fall das „Teenage Dream“-Album von Katy Perry.
Oh, ich hatte eine BRAVO-Hits-CD, da war auch „Teenage Dream“ drauf! Das Lied habe ich damals vor lauter Begeisterung auswendig gelernt.
Tolles Album. Die CD hat sich mir so krass eingeprägt, sie hat nach Zuckerwatte gerochen. Wahrscheinlich hat man sie eingesprüht, den Geruch habe ich direkt wieder in der Nase.
Musik und Fotografie scheinen für Dich Hand in Hand zu gehen …
Ich liebe es, Konzerte zu besuchen. Mit meiner Arbeit will ich das Festivalleben spürbar machen, dieses Gefühl, wenn alles ein bisschen verschwommen ist, man komplett aus der Welt fällt, für ein Wochenende runterkommt – oder eben auch nicht. Fotografie hat für mich einen ganz besonderen Charakter. Du hast die Möglichkeit, Geschichten und Erlebnisse für immer zu konservieren. Ich habe von Anfang an sehr viel Fokus darauf gelegt, dass ich echte Momente einfange, die mir niemand mehr nehmen kann.
Jonas' Einstieg in die Musikszene war kein Zufall. 2018 schrieb er die Musikfestivals MS Dockville und SPEKTRUM an: „Braucht Ihr Fotos?“ Die Antwort: „Komm rum!“ Anfang 2020 fotografierte er das Bremer Rap-Kollektiv „Erotik Toy Records“. Trotz eines verpatzten Shootings („Meine Kamera hatte einen Fehler mit dem Spiegel – alle Bilder waren unscharf. Wirklich alle.“) begleitete er die Musiker in ihr Studio, neben ihm saßen $oho Bani und Longus Mongus von der deutschen Hip-Hop-Gruppe „BHZ“.
„Auf einmal war ich drin.“ Es folgten mehr Festivals, mehr Konzerte und mehr Shootings mit Bands wie Tokio Hotel (Mitte) und dem Rapper makko (unten).
Du bist für die Authentizität Deiner Bilder bekannt. Wie machst Du das?
Ich begegne Menschen genau so, wie ich bin. Dadurch kann ich schnell einen guten Draht zu den Artists aufbauen. Zu einigen habe ich eine besondere Vertrauensbasis, weil ich sie von Anfang an begleitet habe. Ich hatte schon immer ein gutes Gespür dafür, wer Potenzial hat. Die Musikerin Nina Chuba habe ich kennengelernt, bevor sie begann, auf Deutsch zu singen. Auch mit Sänger Berq hatte ich früh Kontakt – noch bevor er bekannt wurde. Diese persönliche Ebene sieht man in meinen Fotos.
Wie sieht ein perfekter Shootingtag aus?
Wir gehen gemeinsam Kaffee trinken, essen etwas und schießen nebenbei ein paar Fotos. Ich hab noch nie in einem Studio fotografiert; ich bin kein High-End-Fashion-Fotograf. Fun Fact: Vor ein paar Tagen habe ich den bekannten Modefotografen Kristian Schuller hier ums Eck gesehen, der ist da einfach vorbeigelaufen. Fand ich irgendwie witzig (lacht). Aber ja, so jemand bin ich einfach nicht. Das wiederum ist mein Alleinstellungsmerkmal. Es gibt garantiert Leute, die viel besser fotografieren können als ich, ich hab nicht mal Photoshop oder Lightroom. Für mich ist die soziale Komponente das Wichtigste. Wir kennen das alle: Fotografiert zu werden, ist immer ein bisschen unangenehm und verkrampft. Deswegen finde ich es gut, einen Komfort-Space zu schaffen, bei dem es sich nicht anfühlt, als würde man gerade aktiv arbeiten.
Warum fotografierst Du nur analog?
Ich habe eine Zeit lang digital fotografiert, merkte aber schnell, dass es mich stresste, unendlich viele Fotos machen zu können. 2017 war ich in New York und hatte nur eine Polaroidkamera dabei. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, pro Tag nur ein Bild zu schießen. Da überlegt man sich genau: Wann ist der richtige Moment, um die Kamera herauszuholen?
„Analoge Fotos digital schicken lassen, um sie auf Insta zu posten. Hä?“
Für sein Projekt „Zeitersparnis“ fotografiert Jonas Künstlerinnen mit seiner Polaroidkamera und lässt sie auf der Rückseite des entwickelten Bildes ihren liebsten Songtitel verewigen. Besonders lange überlegen musste Sänger Herbert Grönemeyer. Er entschied sich für „Dancing in the Dark“ von biz coletti.
Im Gegensatz zu Deiner analogen Arbeit steht Deine schon ziemlich intensive Präsenz auf Instagram. Mal ehrlich: Wie oft schaust Du pro Stunde auf Dein Handy?
Ich würde behaupten, ein gesundes Verhältnis zu meinem Smartphone zu haben. Bis vor Kurzem habe ich immer mal wieder bewusste Detox-Phasen eingelegt, in denen ich mein Handy für ein oder zwei Wochen gar nicht benutzt habe. Das ist inzwischen leider nicht mehr möglich, weil mein Handy meine Arbeit ist (lacht). Trotzdem versuche ich, meinen Konsum zu regulieren. Aktuell fühle ich mich ein bisschen „unrund“ – den Begriff habe ich von meinen Wien-Friends gelernt! – deswegen habe ich mein Handy die ganze Zeit im „Nicht stören“-Modus. Dieser Instagram-Teil macht mir auch gar nicht so viel Spaß, weil das alles natürlich eine Inszenierung ist. Was soll das auch: Man macht analoge Fotos, lässt sie sich digital schicken, um sie dann auf Instagram zu posten. Hä?
Ist in der Szene nicht alles eine riesengroße Inszenierung?
Natürlich gibt es nach außen eine gewisse Abschirmung, die muss es aber auch geben, damit Artists ihre Persönlichkeit bewahren können. In diesem Artist-Sein steckt unglaublich viel Magie. Was passiert backstage? Wie sieht es da aus? Es gibt große Acts mit Security, für die man als Fotograf tausend Wege laufen muss. Im Endeffekt sind das auch alles nur Menschen, die ihre Wäsche waschen, keinen Bock auf Kochen haben und sich Pizza reinziehen. Das wurde für mich alles relativ schnell entzaubert. Ich begegne jedem so, wie ich selbst behandelt werden möchte.
Exklusiv für C/O Vienna hat Jonas eine Auswahl an Bildern kuratiert, die sich von seiner Konzertfotografie und den gewohnten Künstlerporträts abhebt.
Oben im Bild: Lilly, eine Freundin von Jonas, fotografiert in der Kunsthalle Bremen. „Ich darf sie immer wieder fotografieren, durch sie hat sich mein Stil entwickelt.“
Du zeigst die Gesichter anderer, aber Deines bleibt unsichtbar. Warum findet man kein Bild von Dir online?
Ich wollte schon immer meine Kunst für sich sprechen lassen. Ich will mich selber nicht so profilieren und diese Person sein, die sich hinstellt und sagt: „Ja hey, ich bin übrigens Zeitfang, schaut her!“ So bin ich nicht.
Wie wäre denn ein Mensch, der das genaue Gegenteil von Dir ist?
Oh mein Gott!
Lass Dir Zeit!
(überlegt) Wahrscheinlich sehr introvertiert und zurückgezogen. Ich lebe unfassbar aus meiner sozialen Aktivität heraus. Ich mag es total, mich mit Menschen zu unterhalten, sie kennenzulernen, zu erfahren, wer sie sind.
Was bedeutet Dir Ruhm?
Die Möglichkeiten und das Leben, was ich mittlerweile habe, bedeuten mir schon viel. Das beruht aber nicht darauf, dass Leute jetzt wissen, wer ich bin. Ich kann noch immer Menschen relativ unvoreingenommen gegenübertreten, die meisten erkennen mich nicht. Ich will auf keinen Fall, dass mich jemand deshalb mag, weil ich jetzt bekannter bin. Das Einzige, was ich mir schon immer vorgenommen habe, ist eine gewisse Reichweite zu erlangen. So kann ich Menschen zeigen, was ich schön finde oder gerne verändern will. Gerade in der aktuellen politischen Situation finde ich es wichtig, seine Stimme zu nutzen.
Jonas’ Verbindung zu Wien begann mit einer besonderen Geste seines ehemaligen Klassenlehrers. Zum Abschied bekam jeder Schüler und jede Schülerin eine persönliche Reiseempfehlung samt Reiseführer, für ihn war es Wien. Sein Lehrer, selbst großer Fan der Stadt, gab ihm einen handgeschriebenen Zettel mit dem Auftrag, zu testen, ob die Sachertorte im Hotel Sacher oder im Café Demel besser sei. In den Sommerferien machten er und seine Mutter sich auf den Weg nach Wien, um der süßen Recherche nachzugehen.
Heute besucht er in Wien befreundete Künstlerinnen wie Musiker Ferdinand fka Left Boy (oben) und Sängerin Verifiziert (links) oder trifft sich mit dem Wiener Kollektiv „Pan Kee Bois“ im Wiener Café Kriemhild auf eine Runde Billard (rechts).
Schnellfragerunde! Bist Du bereit?
Sorry, ich kann mich nicht kurz fassen!
Dann mittelschnell – Dein liebster Song aktuell?
Ich höre eigentlich gar nicht mehr so viel Musik, weil ich so sehr im Musik-Kosmos bin, dass ich manchmal eine Pause brauche (lacht). Die letzten Tage hatte ich aber eine sehr krasse Phase mit zwei neuen Songs von Majan: „Wenn nichts von nichts kommt“ und „100.000“. Und den Wiener Musiker Ben Clean feiere ich sehr, vor allem seinen Song „Alles was ich will“.
Früh aufstehen oder nachts arbeiten?
Ich hasse es, früh aufzustehen! Ich arbeite aber auch nicht gerne nachts (lacht). Ich probiere schon, mich an gewisse Arbeitszeiten zu halten. Freiberuflich zu arbeiten, ist auch daran geknüpft, immer erreichbar zu sein. Da muss man sehr aufpassen, seine Energien gut einzuteilen. Ich probiere oft, die Sonntage komplett freizumachen, bei Festivals ist das natürlich schwierig. Aber grundsätzlich bin ich ein Nachtmensch und gehe eher spät ins Bett.
Dein Lieblingsort in Berlin?
Aktuell ein koreanisches Restaurant, HODORI in Schöneberg. Sehr geiles Essen.
Dein liebster Ort auf der Welt?
Tatsächlich zu Hause bei meinen Eltern. Wir haben ein ganz besonderes Verhältnis. Und ansonsten schon Wien, und das sag ich nicht, um mich bei Euch einzuschleimen!
Guter Geschmack! Was macht die Stadt für Dich so besonders?
Die Wiener Musikszene ist viel losgelöster und freier als in Berlin. In Deutschland ist vieles sehr verkopft, in Wien kann man sich ausprobieren und die Kunst einfach Kunst sein lassen. Ich mag dieses Laissez-faire, dieses Morbide. Wien hat einen geilen Charakter.
Vor rund einem Jahr kündigte Zeitfang ein neues Projekt über Instagram an: „Zeitfang macht ne Zeitschrift LOL.“
Gemeinsam mit musikjournalistischen Institutionen wie dem DIFFUS-Magazin und musicmetoo entwickelte er das limitierte Printmagazin „Zeitschrift – Einblicke in Zeitfangs Musikkosmos“. Zu entdecken gibt es dort analoge Fotos von Zeitfang, Geschichten, Poster und Freundinnenbucheinträge diverser Musikerinnen.
„Wir haben fast 2.000 Exemplare der Zeitschrift verkauft, eine Pop-Up-Tour durch Deutschland und Österreich gemacht, in vielen Städten sind Artists aufgetreten.“
Mit dabei: die Musikerinnen Paula Hartmann (links), Berq (rechts) und Edwin Rosen (unten)
Die Frage nach einem Fotobuch kam immer häufiger, aber ich hatte nie Lust, mich darüber zu profilieren, wie viele Artists ich schon fotografiert habe, also ließ ich die Idee erstmal beiseite. 2023 fragte mich jemand erneut nach einem Buch, und spontan antwortete ich, dass ich keinen Bock darauf habe, aber gerne ein Magazin machen würde – etwas Persönlicheres, etwas, das man in die Hand nehmen kann. Als ich das Projekt ankündigte, meldeten sich viele, die mitarbeiten wollten. Am Ende waren wir neun oder zehn Leute.
Wow, Du scheinst wirklich gut vernetzt zu sein!
Es fühlt sich manchmal an wie dieses Schneeballprinzip – einmal drin, vernetzt man sich immer weiter. 80 Prozent meiner Arbeitszeit ist das Networking und der soziale Aspekt, 20 Prozent ist das Fotografieren. Ich fühle mich ein bisschen wie diese Boomer-Renes, die einen ständig zu irgendwelchen WhatsApp-Fokus-Gruppen hinzufügen wollen (lacht). Wenn man einmal ein Netz knüpft, wächst es immer weiter. Man darf nicht aufgeben und muss immer einen Knoten hinzuflechten.
Ist das etwas, was Dir schon immer leicht gefallen ist? Einfach zu machen?
Ich musste mir selbst immer treu bleiben – vor allem, weil ich in meiner Jugend viel Mobbing erlebt habe. Ich habe mit 13 Jahren ADHS diagnostiziert bekommen und einige Jahre Medikamente genommen, mich dann aber zum Abi gegen sie entschieden, was vielleicht nicht die beste Entscheidung war (lacht). Ich habe dann nicht so gut abgeschnitten, dafür aber mehr zu mir gefunden. Man steht ja oft vor der Entscheidung: Sich anpassen, um dazuzugehören, oder bei sich bleiben? Ich habe den schmerzhafteren Weg gewählt und weiß heute, wofür es gut war. Das gibt mir die Energie, immer weiterzumachen.
Zusätzlich zu Deinem ADHS bist Du hochsensibel und leidest unter sozialen Ängsten. Wie passt das mit Deinem Berufsleben zusammen?
Das ist die Challenge, der ich mich immer wieder stelle. Von 2022 bis Mitte 2024 war ich stark eingeschränkt, weil ich nicht gut mobil war – vor allem, weil Bahnfahren für mich kaum möglich war. Meine sozialen Ängste beziehen sich weniger auf einzelne Menschen, sondern auf Menschenmengen und das Unkontrollierbare: U-Bahn fahren, Fahrschule, das war schlimm. Was, wenn die Bahn stecken bleibt? Was, wenn ich in den Graben fahre?
Ich brauche Kontrolle, um mich sicher zu fühlen, aber genau das hole ich mir gerade Schritt für Schritt zurück.
Worauf bist Du stolz?
Ich bin immer bei mir geblieben, habe alles Positive, was passiert ist, angenommen und gelernt, alles Negative hinter mir lassen können.
Danke für das Gespräch!
Jonas aka ZEITFANG wurde in Bremen geboren und wuchs auf dem Land zwischen seiner Geburtsstadt und Hamburg auf. Bevor er die Fotografie zu seinem Hauptberuf machte, studierte er Sonderpädagogik in Oldenburg. Heute lebt er in Berlin und fotografiert hauptsächlich Musikerinnen. Vor rund einem Jahr publizierte er gemeinsam mit musikjournalisitischen Institutionen (DIFFUS, Flutwelle, musicmetoo, BACKSPIN, Mostdope) das Magazin „Zeitschift“, das einen Einblick in seinen Musikkosmos gibt.