Samstag um halb elf vormittags. Wir warten vor dem kleinen
Bahnhof in Ladendorf, einer kleinen Gemeinde in NIEDERÖSTERREICH, eine knappe
Fahrstunde von Wien entfernt. Ein weißes Auto biegt um die Ecke, hinter dem
Steuer sitzt ein korpulenter Mann in MITTELALTERMONTUR. „Das ist er!“, raune
ich Anika zu. Nach einer kurzen Fahrt erreichen wir keine Burg, dafür ein in
altrosa gestrichenes Haus, das unser Gastgeber ARNULF ZEILNER,
Mittelalterhobbyist, SPIELMANN und Streamer nicht zum Wohnen, sondern für seine
Live-Übertragungen, zum Musizieren und als Lager verwendet. Wir betreten eine
Welt irgendwo zwischen MITTELALTER, FANTASY und Jetztzeit.
Felix Limani: Wie hat Deine Leidenschaft für das Mittelalter begonnen?
Arnulf Zeilner: Das ist eine
Frage, die ich oft höre, und auf die ich gewöhnlich folgende Gegenfrage stelle:
„Warum hast Du Deine Leidenschaft dafür verloren?“ Denn: Die meisten sind als
Kind vom Mittelalter begeistert. Bei mir hat die Leidenschaft einfach nur nie
aufgehört.
Gab es ein Schlüsselerlebnis für Dich?
Ich habe immer schon gerne Mittelalter- und
Fantasy-Literatur gelesen, natürlich auch Filme angesehen. Als ich 15 Jahre
alt war, wurde im Nachbarort „Herr der Ringe“ im Kino gespielt, dort habe ich
in der Warteschlange Menschen mit denselben Interessen kennengelernt. Wir haben
daraufhin den ersten Mittelalterverein bei uns in der Region gegründet. Als wir
gemeinsam einen größeren Mittelaltermarkt besuchten, hat man uns angequatscht,
ob wir nicht mitmachen wollen. So nahm das seinen Lauf.
Seitdem lebst Du vom Mittelalter?
Seit knapp 40 Jahren, seit 1984!
So lange bin ich nun schon Musiker, Moderator, Schaukämpfer und noch vieles
mehr auf Mittelaltermärkten. Dazwischen hatte ich kurz Medizin und Geschichte
studiert, aber dann abgebrochen. Aufgrund deftiger Liedtexte und Gedichte, die
ich singe, fand das Publikum, ich sei ziemlich goschert. Mein Künstlername ist
seither Arnulf das Schandmaul. 2008 gründeten Freunde und ich dann die Band
„Die Schandgesellen“, mit der ich immer noch durch die Lande tingle. In diesem
Haus hier, im dem wir das Interview gerade führen, streame ich auf Twitch
sowohl Tavernen-Streams, wo ich Livemusik mache und man mit mir plaudern kann,
als auch Koch- und Spiel-Streams. Mittlerweile bin ich mit über 100.000
Followern kein Unbekannter mehr.
Kannst Du vom Mittelalter leben oder arbeitest Du nebenbei in einem konventionellen Beruf?
Bis 2017 war ich nur Spielmann,
jetzt bin ich Spielmann und Streamer. Ich werde für Ritteressen,
Mittelalterfeste, Hochzeiten und andere Events gebucht. Mir ist schon passiert,
dass ich für eine Feuershow gebucht wurde. Ich dachte, ich soll dazu trommeln
oder Dudelsack spielen. Am Weg dorthin erfuhr ich, dass man von mir erwartete,
dass ich Feuer spucke. Glücklicherweise konnte ich das auch.
„Es gibt fast nichts, was ich noch nicht gemacht habe.“
Ja, Panflöte spielen. Es gibt
aber fast nichts, was Du von mittelalterlichen Events kennst, das ich noch
nicht gemacht hätte. Ich begann in einer Schaukampfgruppe als Knappe eines
Ritters, bis jener mich ermahnte: „Kämpfen alleine macht keinen Ritter, dazu
gehören auch höfische Kunst und Kultur!“ Also drückte er mir eine Blockflöte in
die Hand und meinte: „Die Löcher von unten nach oben auf und von oben nach
unten zu“. Das war mein Unterricht. So bin ich also von den Schaukämpfen über
die Blockflöte später zu anderen Instrumenten wie dem Dudelsack und schließlich
zum Streamen gekommen.
Wie weit diffundiert das Mittelalterliche in Dein Privatleben?
Ich ziehe privat oft Mittelalterkleidung an. Ich hatte
Phasen, da trug ich ausschließlich Gewandung.
... um es unseren Leserinnen zu erklären: „Gewandung“ nennt man mittelalterliches Gewand ...
... ich habe versucht, mich
normal anzuziehen, als meine Kinder auf die Welt gekommen waren. Ich wollte
nicht, dass sich andere wegen ihres Vaters über sie lustig machen. Ich bin aber
nicht der Typ, der sich fünf Mal am Tag umzieht, also ziehe ich morgens das
Mittelalterzeug an, wenn ich weiß, dass ich abends spiele. Meine Bandkollegen
machen das nicht so, die ziehen sich vor Ort um. Ich kann, wo immer ich bin,
theoretisch sofort anfangen zu arbeiten.
Schauen Dich Leute komisch an, wenn Du im Mittelaltergewand unterwegs bist?
Früher hatte ich kein Auto und
bin mit dem Zug zu Veranstaltungen gefahren. Was glaubst Du, wie die Leute
schauen, wenn man mit Rüstung im Zugabteil sitzt und nebenbei stickt oder näht.
Aber Rüstung ist im Gepäck schwerer, als wenn du sie am Körper trägst. Ich war
auch schon im Krankenhaus und bei einem Mietvertragsabschluss in Wien in
mittelalterlicher Gewandung.
Wie geht Deine Familie und Dein privates Umfeld damit um?
Mein privates Umfeld besteht aus
meiner Bubble, die ich von Mittelaltermärkten und von Brettspiel- oder
Rollenspielrunden kenne. Die kennen mich nicht anders.
Hast Du Deine Frau mit Minnegesang für Dich gewonnen?
Auf der Burg Lockenhaus hat sie
mit einer Freundin und ihrem Vater mittelalterliches Geschicklichkeitsreiten
für Jung und Alt angeboten. Da bin ich zu ihr hingegangen und mein erster Satz,
den ich zu ihr sagte, war: „Sag mal, wie hast Du die Abnäher bei Deinem
Unterkleid gemacht?“ (lacht) Ich war nähtechnisch sehr interessiert, wie sie
das gemacht hat. Man lernt auf Mittelalterfesten schnell neue Leute kennen,
manchmal eben auch seine zukünftige Frau.
Haben Mittelalterfeste historische Wurzeln oder sind sie eine bloße Reinszenierung?
Die meisten Mittelalterfeste, die in Österreich stattfinden, sind einfach
Themenjahrmärkte, Disneyland auf Mittelalter. Die meisten gehen hin, weil sie
sich unterhalten lassen wollen. Wenn du jemanden mit historischen Klamotten und
jemanden in Fantasy-Kleidung hinstellst, werden die Leute wohl eher zweiteren
fotografieren, historisch korrekt ist wenig spektakulär.
Ist die Gewandung, die Du momentan trägst, authentisch?
Großteils, also das hier ist
alles handgenäht, das sieht jetzt nur nicht so aus, weil meine Frau extrem gut
darin ist. Die Bronzenähnadel, mit der die Verzierungen aufgenäht wurden, habe
ich auch selbst gemacht.
Das Mittelalter war lang, also etwa die Zeit zwischen dem 5. und 15. Jahrhundert. Gibt es einen bestimmten Zeitraum, dem Du Dich besonders verbunden fühlst?
Optisch liebe ich die Kleidung
Mitte des 13. Jahrhunderts. Rüstungstechnisch bin ich im späten 14. Jahrhundert zu Hause,
weil es weniger wehtut, wenn man kämpfen muss (lacht). Die Rüstung aus dieser
Zeit ermöglicht viel Beweglichkeit und verfügt über Verstärkungen, die sehr gut
schützen und obendrein cool aussehen.
Hast Du einen mittelalterlichen Helden als Vorbild?
Nein, ich mag eher interessante
Biografien. Ulrich von Liechtenstein war beispielsweise ein mutiger Kerl: Der
ließ sich im 12. Jahrhundert seine Hasenscharte operieren, damit er attraktiver
auf Frauen wirkt, was damals natürlich lebensgefährlich war. Das finde ich eine
coole Story. Den deutschsprachigen Lyriker Walther von der Vogelweide bewundere
ich auch.
Das Mittelalter genießt im Allgemeinen einen schlechten Ruf. Was hältst Du von Sprüchen wie „Nie wieder zurück ins Mittelalter“?
Viele haben ein falsches Bild vom
Mittelalter und nicht mal eine Ahnung, wann und was es überhaupt war. Sie
assoziieren damit Dinge, die eher auf die Neuzeit zutreffen, etwa schlechte
hygienische Zustände, Seuchen oder Hexenverbrennungen. Das Mittelalter währte
über 1.000 Jahre. Es war von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Ort zu Ort
komplett unterschiedlich.
Was ist das größte Vorurteil über das Mittelalter, welches nicht stimmt?
Das Mittelalter war nicht düster, sondern bunt. In
historischen Filmen wird es grau, braun und anthrazit dargestellt. Es schaut
immer aus, als hätten alle stundenlang im Schlamm gebadet und sich Jahre lang
nicht gewaschen. Aber die Menschen trugen bunten Kleider, bemalten und
verzierten ihre Häuser und Alltagsgegenstände farbenfroh. Man verstand sich auf
das Färben, besonders leicht ging das mit Pflanzen.
Das Recycling zum Beispiel! Man
hat im Mittelalter ständig alles wiederverwendet, weil Material wertvoll war.
Was sagen Deine Eltern zu Deinem Beruf?
Zitat meiner Mutter, als ich jung
war: „Wennst was brauchst für Deinen Mittelalterschas, dann nahs Da söwa.“ So
habe ich eben für meine Mutter Gewandung genäht. Damit war sie mich sogar auf
Mittelaltermärkten besuchen und hat festgestellt, dass sich das Tragen dieser
Kleidung gar nicht so schlecht anfühlt.
Woher hast Du Dein geschichtliches Wissen?
Ich habe zwar sogar mal eine
kurze Zeit Geschichte studiert, aber das meiste Wissen erhalte ich durch meinen
Beruf. Für jemanden, der wenig weiß, weiß ich mehr. Aber für jemanden, der sehr
viel weiß, weiß ich weniger.
Verwendest Du auf Mittelalterfesten eine andere Sprache als privat?
Nein, ich rede Hochdeutsch, weil sich
das auch in der Lautstärke besser artikuliert. Ich schreie aber nicht, sondern
rede und singe nur sehr laut, weil das besser trägt. Auf einem Mittelaltermarkt
ist es wichtiger, dass du laut statt gut singst.
Wie seid Ihr auf Euren Bandnamen „Die Schandgesellen“ gekommen?
Der Name stammt aus Goethes „Faust“.
Übrigens war ich davor in der ersten österreichischen Mittelalterband, die beim
legendären Wave-Gotik-Treffen in Leipzig gespielt hat, das findet traditionell
immer am Pfingstwochenende statt. Da sind wir auf der Bühne mit Stars wie Omnia
und FAUN gestanden. Wir waren sogar mit ihnen im selben Hotel untergebracht.
Zum Frühstück gab es Sekt und Lachs, dafür sehr wenig Gage.
Fühlst Du Dich manchmal fremd in der modernen Welt?
Nö, warum? Beim Streamen sitze
ich vor vier Bildschirmen und habe einen PC, der bunt leuchtet. Ich spiele
irrsinnig gerne analoge Brettspiele, gleichzeitig liebe ich Computerspiele.
Würde ich im Mittelalter leben, könnte ich nicht so viele Jahrmärkte besuchen,
da wäre ich ja nur zu Fuß oder mit dem Pferd auf Reisen, dann besäße ich auch
weniger Instrumente, da ich die ja schlecht alle mitschleppen könnte.
Das heißt, Du lebst im perfekten Zeitalter, nur eben im Mittelalter-Modus?
Richtig! Wenn ich mir auf einem
Mittelaltermarkt eine Blutvergiftung einfange, bin ich sofort im Krankenhaus
und alles ist easy. Damals warst du einfach nur tot. Ich kenne keinen, der sich
intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt hat, der in der Zeit leben möchte. Was
wir heute zeigen, ist ein idealisiertes Mittelalter. Wenn du heute ein
YouTube-Video über etwas produzierst, das gerade aktuell passiert, interessiert
das in einem Jahr keinen mehr. Aber ein Video über das Mittelalter finden die
ZuschauerInnen immer spannend.
ARNULF ZEILNER ist seit 1984
Akteur auf Mittelaltermärkten. Arnulf das Schandmaul, wie er sich nennt, ist
sowohl mit seiner 2008 gegründeten Band „DIE SCHANDGESELLEN“ als auch alleine
für alle möglichen Festivitäten buchbar. Davor studierte er Medizin und
Geschichte, brach jedoch beides ab. Mit knapp 105.000 Followerinnen (Stand:
Jänner 2023) ist Arnulf auf Twitch, einer Streaming-Plattform, kein Unbekannter
mehr und unterhält sein Publikum mehrmals die Woche mit TAVERNEN- UND
VIDEOSPIELSTREAMS. Mit seiner Frau, seinen zwei Kindern und diversen Tieren
lebt er in Niederösterreich in Herrnleis, einem 130-Einwohnerinnen-Dorf.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Kooperation von C/O Vienna Magazine mit der MEISTERSCHULE DER GRAPHISCHEN WIEN und wird außerdem in der C/O VIENNA PRINTAUSGABE NR. 6 im Juni 2023 erscheinen.