Der Architekturpsychologe

Eine Stadt für jeden?

Riklef Rambow ist kritisch. Gegenüber allen Romantikerinnen, die eine „Stadt für alle“ fordern, argumentiert er, dass diese im Grunde nur funktioniert, wenn sie bis zu einem gewissen Grad ausgrenzt. Aufs Land zu ziehen kann belasten, zu viele Frei- und Grünflächen in der Stadt können auch ziemlich öd geraten. Der Trend zum Mikrowohnen ist zwar hip, mit 40 will dann aber spätestens doch jede ein Zimmer für sich und jedes Kind. Vom hehren Ideal und der harten Realität. 

Welche Art von Wohnraum tut uns Menschen gut?

Aus psychologischer Sicht sind es die gleichen Themen wie in der Stadtplanung: Es geht um Rückzugsmöglichkeiten, Zwischenzonen und Kontaktmöglichkeiten nach außen. Aber es gibt nicht für jede Person die richtige Wohnung. Gerade beim Flächenverbrauch sind die Bedürfnisse sehr unterschiedlich. Einerseits reden im Moment alle von Mikrowohnungen, gleichzeitig ist es nach wie vor so, dass die meisten Leute im Verlauf ihres Lebens eher ein Zimmer mehr wollen als eines weniger. Dadurch sind wir mittlerweile bei durchschnittlich 45 m² pro Kopf angelangt. Eigentlich eine absurde Zahl angesichts der Wohnungsnot in vielen Großstädten. 

„Alle klagen über Wohnungsnot, aber die, die es sich leisten können, gehen an die finanzielle Schmerzgrenze, um zu dritt 150 m² bewohnen zu können.“

Der Trend zur Reduktion beim Wohnen ist demnach ein Mythos?

Die tatsächliche Bereitschaft, Komfortbedürfnisse einzuschränken und einen einfacheren Lebensstil zu praktizieren, folgt meist nur der ökonomischen Notwendigkeit. Das ist eine Phase. Einen generellen Trend zur freiwilligen Reduktion sehe ich da nicht. Spätestens ab 30 werden sich die Bedürfnisse der jungen Generation nach Raum denen der Elterngeneration angleichen. So erlebe ich das auch direkt. Alle klagen über die städtische Wohnungsnot, aber die, die es sich leisten können, gehen an die finanzielle Schmerzgrenze, um zu dritt 150 m² bewohnen zu können. Und dann denkt man über den Zweitwohnsitz im Grünen nach. Oder zumindest über einen Garten.

Wie ist das mit dem Platz für die Kinder?

Die Notwendigkeit, einem Kind ab spätestens fünf Jahren ein eigenes Zimmer zu geben, ist praktisch Konsens in allen Gesellschaftsschichten in Österreich und Deutschland. Meine Studentinnen wohnen heute im Schnitt auf einem anderen Niveau als ich vor 30 Jahren. Wir sind anfänglich zu dritt in einem 12-m²-Zimmer aufgewachsen, und mein Zimmer in der Wohngemeinschaft hatte – noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter – 11 m².  Das soll jetzt nicht onkelhaft klingen, aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es auch heute in Architektur und Stadtplanung vor allem um einen sinnvollen Umgang mit Wachstum geht. In Bezug auf den Raum ist die Maxime „Qualität vor Quantität“ offensichtlich – immer noch – extrem schwer zu realisieren.

Viel Raum zu bewohnen ist immer noch ein Statussymbol?

Ja, bestimmt. Es gibt dabei aber ein großes Problem: die räumlich expansivste Phase im Alter von 40 bis 50. Dann, wenn das Einkommen auch ein gewisses Level erreicht hat. Und irgendwann wird es wieder weniger. Dann bestehen häufig keine Angebote, die so attraktiv sind, dass man seinen Wohnraum auch wieder verkleinern möchte. Architekten verfolgen seit gut hundert Jahren die mitwachsende Hauskonzeption. Die Vorstellung, dass man Wohnungen etwa über zuschaltbare Zimmer vergrößern und verkleinern kann – dass sie über Lebensphasen mitwachsen. Dann müsste man im Alter nicht den Wohnort wechseln, sondern einfach nur ein Zimmer abgeben.  

„Viele Wohnflächen werden von älteren Leuten belegt, die diese eigentlich nicht mehr brauchen.“

Funktioniert das?

Das ist eine schöne Idee, die aber aus technischen Gründen nie wirklich funktioniert hat. Dadurch werden heute viele Wohnflächen von älteren Leuten belegt, die diese eigentlich nicht mehr brauchen. Das ist ein Problem. Es gibt mittlerweile viele interessante Modelle fürs Wohnen im Alter – Generationenwohnen, Senioren-WGs und so weiter. Manches funktioniert gut, aber eine Patentlösung für nachhaltig geringere Flächeninanspruchnahme gibt es nicht.

Wie muss eine Stadt gestaltet sein, damit wir uns wohlfühlen?

Wir treffen in der Stadt mit vielen Menschen zusammen, die uns nicht alle sympathisch sind, mit denen wir aber auskommen müssen. Das erzeugt Stress. Je freier öffentliche Räume gestaltet sind, desto weniger Stress entsteht. Je enger sie sind, desto höher ist das Stresslevel. 

Wie entstresse ich eine Stadt?

Es braucht es auf jeden Fall flexible, offene Räume, die unterschiedlich nutzbar sind. Straßen und Plätze, die ein Leben mit Innen- und Außenbezug ermöglichen. Und natürlich städtisches Grün, Pflanzen in irgendeiner Form. Das ist etwas, das viele Städte, etwa im asiatischen Raum, nachträglich wieder einzurichten versuchen. Singapur oder Seoul haben große Anstrengungen auf sich genommen, um Grün- und Freiräume zurückzuerobern. Die Leute wollen und brauchen – aus psychologischen und physiologischen Gründen – massiv grüne Lungen.

„Viele Stadtviertel leiden sogar darunter, dass sie zu viel Freiraum haben.“

Das heißt, bei der Architektur- und Stadtplanung neuer Viertel gilt – mehr Freiraum, mehr Grün, dann ist ein friedlicheres Miteinander garantiert?

Es ist für die Architektur- und Stadtplanung eine der größten Herausforderungen, eine Stadt oder ein Quartier aus dem Nichts zu erschaffen. Ob dies dann gelungen ist, kann man ja eigentlich erst in 20 bis 30 Jahren beurteilen. In die Planung fließen viele Erkenntnisse ein, wie Stadt funktionieren könnte. Aber es funktioniert nicht alles auf Anhieb. Manches vielleicht auch gar nie. Bei der Freiraumplanung ist vieles möglich – Urban-Gardening-Flächen, Pocket-Parks, Grillplätze, Flächen für Spiel und Sport. Aber die hohe Bebauungsdichte, wie in den beliebten Gründerzeitvierteln in der Wiener Altstadt, ist heute rechtlich gar nicht mehr möglich. Neue Städte sind in der Regel deshalb offener. Viele Stadtviertel leiden sogar darunter, dass sie zu viel Freiraum haben.

Verstehe ich das richtig? Es gibt auch zu viel Freiraum?

Freiraum ist gut, wenn er genutzt wird. Er darf nicht zu weit und unkontrolliert sein. Sonst entstehen Angsträume, verwahrloste Bereiche. Aber man muss natürlich auch sagen: Die Möglichkeiten, die Architektur und Stadtplanung haben, Lebensräume zu schaffen, die aus psychologischer und soziologischer Sicht für Menschen angemessen sind, sind limitiert. Solche Lebensräume müssen immer erstritten werden – zumeist gegen ökonomischen Druck. 70 bis 80 Prozent dessen, was wir in Städten vorfinden, ist durch andere Faktoren determiniert als durch Gestaltungswissen von professionellen Planern. Nur weil man weiß, was eigentlich zu tun wäre, heißt das noch lange nicht, dass man es auch realisieren kann. 

Wie ist das am Land? Da gibt es viel Raum, viel Grün. Ist das für uns gesünder?

Nein, das kann man nicht pauschal sagen. Die Probleme am Land sind völlig andere. Als psychische Wesen müssen wir immer unsere sozialen Kontakte so regulieren, dass es gut für uns ist. Das Ausmaß ist für jeden unterschiedlich, aber wir brauchen Beziehungen zu anderen Menschen. Gleichzeitig brauchen wir die Möglichkeit, uns zurückzuziehen. Dieses Gleichgewicht sieht am Land ganz anders aus als in der Stadt.

„Die wenigsten sind mit 70 noch auf dem Skateboard mit dem Joint zwischen den Zähnen unterwegs. Aber müssen sie deswegen in die Randlagen umziehen?“

Wie anders ist das Land im Vergleich zur Stadt genau?

Eine gewachsene, dörfliche Gemeinschaft hat Vorteile. Da gibt es ein soziales Netz, aus dem man Kraft ziehen kann, wenn man verlässliche Beziehungen hat. Wenn ich aber in einer Gemeinschaft lebe, die eine starke soziale Kontrolle ausübt, dann ist das nur schön, solange ich mich einfüge.

Wenn ich eine Außenseiterin bin, wird es im Dorf schwierig ...

Genau. Das stellt vor allem jene vor eine Herausforderung, die aus der Stadt in den suburbanen Raum oder aufs Land ziehen und sich dieses Netz erst aufbauen müssen. Die Anonymität, die ihnen die Stadt bietet, gibt es am Land nicht. Und das mit dem Grün und dem Raum am Land ist ja auch nur eine Option. Die kann ich nutzen, muss ich aber nicht. Nicht jeder Dorfbewohner genießt diese Freiräume. Im Gegenteil. Der Wald und die Wiese können als Barriere wirken, die Zeit frisst, weil ich sie überwinden muss, um etwa in die Arbeit zu kommen. Das zeigt, wie stark die räumliche, architektonische Umgebung nur einen Rahmen vorgibt, den man individuell ausfüllen muss. 

Gibt es eine ideale Stadt für alle?

In der Inklusionsdebatte im städtischen Kontext wird manchmal ein bisschen durch die rosarote Brille geschaut. Diese Debatte führen häufig jüngere, urbane, international und kulturell-kreativ orientierte Bevölkerungsgruppen. „Wem gehört die Stadt?“ „Stadt für alle!“ heißt es da. Ich glaube, dass eine wirklich inklusive Stadt, die allen Interessen gleichermaßen nachkommt, natürlich als Ideal aufrechterhalten werden muss. Aber faktisch sind bestimmte Formen der Ausgrenzung in der Stadt gar nicht zu vermeiden.

„Es braucht sogar Ausgrenzung in der Stadt.“

„Stadt für alle“ ist also eine Utopie?

Selbst bei großer Rücksichtnahme wird es nie städtische Räume geben, die alle Gruppen gleichermaßen bedienen. Deshalb braucht es sogar ein Stück weit Ausgrenzung, weil die Bedürfnisse so unterschiedlich sind. Wenn man gern alles etwas langsamer und ruhiger hat, kommt einem das als Mensch mit 20 krass vor. Fast scheintot. Bis zu einem gewissen Grad ist das aber ein völlig normales psychisches Bedürfnis. Die wenigsten sind mit 70 noch auf dem Skateboard mit dem Joint zwischen den Zähnen unterwegs. Aber müssen sie deswegen in die Randlagen umziehen?

Also ein Ja zur städtischen „Ghettoisierung“?

Nein, überhaupt nicht. Aber wenn man sich intensiver mit psychologischen Fragen beschäftigt, führt das zu einer toleranteren Haltung gegenüber Nischenbildung und geschützten Räumen. Sie dürfen halt nur nicht zu rigide sein. In dem Moment, in dem ein Viertel nicht mehr durchlässig ist und man sich als Angehöriger der jeweils anderen Gruppe dort nicht mehr wohlfühlt, wird es kritisch – und es gilt, gegenzusteuern. Jedoch die Vorstellung, dass sich alles überall paritätisch mischen könnte, ist sehr romantisch. 

Danke für das Gespräch!

Riklef Rambow (* 1964) ist Architekturpsychologe. Er ist Leiter des Fachgebietes Architekturkommunikation am Karlsruher Institut für Technologie und Geschäftsführer von PSY:PLAN, Institut für Architektur- und Umweltpsychologie. Rambow lebt in Friedrichshain, Berlin, einem beliebten, lebendigen Gründerzeitviertel mit jungem und internationalem Publikum. Es gibt öffentliche Plätze, einen Wochenmarkt und das RAW-Gelände, ein Kreativ- und Partyareal auf einem aufgelassenen Werksgelände. „Es gibt für jede Lebensphase einen Ort zum Leben“, so Rambow. Wie lange Friedrichshain für ihn dieser Ort sein wird, ist eine offene Frage.  

Der in Bukarest lebende und arbeitende Fotograf Bogdan Gîrbovan ist eine große Entdeckung für uns. Seine Aufnahmen wurden schon in Magazinen wie „NY Arts Magazine“, „Punctum“, und „IDEA“ veröffentlicht. Er konnte bisher fünf Einzelausstellungen unter anderem in Bukarest, Timisoara und Paris verbuchen. Seine Arbeit mit dem Titel „10/1“ für das Interview mit dem Architekturpsychologen Riklef Rambow ist voller Poesie und Humor. Sie besteht aus zehn Fotografien, aufgenommen in zehn Einzimmerwohnungen in einem Wohnblock im östlichen Teil von Bukarest. Einer von 70.000 Wohnblocks, identisch im Detail, von außen als auch von innen. „Ich habe dieses Gebäude ausgewählt, weil ich auch darin wohne. Ich fotografierte jede Wohnung aus dem gleichen Blickwinkel, um die Mischung der sozialen Schichten im Block besser darzustellen“, so der Fotograf.

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