Der Astronaut

Zwei Spacewalks, ein Spaceship

Der 59-jährige Kanadier Chris Austin Hadfield ist wohl einer der bekanntesten Astronauten. Wer, wenn nicht er, dachten wir uns, kann über das Schöne sprechen? Seine Tweets aus dem All – ja, dort gibt es Twitter – machten ihn berühmt: Wenn er nicht gerade mit der Queen chattet oder David Bowies „Space Oddity“ in der Schwerelosigkeit interpretiert, erzählt er auf YouTube und Co. über das Leben und Arbeiten im All. Er ruft uns für das Interview via Facetime an. Drei Flüge ins All, zwei Spacewalks, ein Spaceship unter seiner Führung und exakt 30 Minuten Zeit, um über das Schöne, die Zeit und Angst im All zu sprechen. 

Text: Eva Holzinger

„Wunder Erde im Fenster“

Eva Holzinger: Ist Schwerelosigkeit schön?

Chris Hadfield: Schwerelos zu sein bedeutet, Superkräfte zu haben. Es ist magisch. Du kannst fliegen, dich treiben lassen, kannst Spiderman sein, Wonder Woman oder die großartigste Ballerina, die jemals getanzt hat. Es ist erhaben, es ist elegant. Schwerelosigkeit bringt zum Lachen, regt zum Spielen an. Emotionen kommen schneller an die Oberfläche, man lacht schneller, weint schneller. Für mich ist es ein Gefühl von Privileg und Ehrfurcht, vor allem aber von Klarheit. Es ist ein bewegender und menschlicher Ort.

Sie nennen das All einen menschlichen Ort. Fühlt man sich dort nicht fremd?

21 Jahre lang habe ich als Astronaut gedient. Bei meinem dritten Flug habe ich mich ungefähr nach einem Monat definitiv zu Hause gefühlt. Schwerelosigkeit war für mich von Anfang an natürlich – viel natürlicher, als von der unsichtbaren Schwerkraft ständig nach unten gezogen zu werden. Mit dem Wunder Erde im Fenster ist es noch viel schöner, schwerelos zu sein.

Den schönen Planeten Erde im Fenster zu haben, ist ein Perspektivenwechsel der besonderen Art. Wie ändert so ein Raumschiff die Denkweise?

Durch die Distanz und die Schnelligkeit, mit der man die Erde umkreist, wird sie zu einem Ort, der uns Kreaturen vereint, uns zu Gleichgesinnten macht. Zu verstehen, dass unser Planet nicht so groß ist, ist wesentlich. Wien wirkt auf eine Ameise riesig. Eine Ameise kann Wien nicht verstehen. Aber Wien existiert und ist wunderschön! 

„Niemand, der mir sagt, was ich zu denken habe.“

Ein Adler und eine Biene haben der Ameise etwas voraus ...

Durch ihre Fähigkeit zu fliegen, kennen die beiden mehr. Für die Ameise gibt es nur ein kleines Stück Asphalt und den Ameisenhügel. Das ist alles, was für sie zählt. Der Rest ist nur theoretisch und für die Ameise im Grunde irrelevant. Die Kurzsichtigkeit ist Teil des menschlichen Lebens und kann dazu führen, dass wir andere schlecht behandeln. Deshalb ist die Perspektive, die erlaubt, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, ganz wesentlich. Sie ändert also vor allem die Art, über die Welt zu denken. Je mehr uns Menschen die Schönheit und Realität der Erde gewahr wird, desto besser stehen unsere Chancen, gemeinsam gute Entscheidungen zu treffen – statt engstirnige oder von Neid beeinflusste.

Je weiter der Blick, desto besser der Mensch?

Unser Verständnis der Welt ist ein Mix aus den Orten, an denen wir waren, und den Meinungen, die uns andere aufdrängen. Ich habe die Erde 2.650-mal umkreist. Das ermöglichte mir eine klare Vorstellung von der Welt, einen Blick auf sie ohne Filter, ohne Adjektive, nur Welt. Niemand, der mir sagt, was ich zu denken habe. Durch meinen Job als Astronaut habe ich den Mandat, meinen privilegierten Blick auf die Erde so oft mit anderen zu teilen, wie ich nur kann. 

Was ist Schönheit für Sie?

Schönheit hat für mich viel mit Farben und Texturen zu tun. Die „Mona Lisa“ kann schön sein. Oder ein Schmetterling. Die Natur macht etwas schön, um anzuziehen und Verhalten zu beeinflussen; Blumen sehen schön aus, damit Bienen sie finden und bestäuben können. Es gibt also instinktive Schönheit. Wir haben uns aber auch zu einer Spezies entwickelt, die gelernt hat, Schönheit bewusst zu schätzen. 

„Ich kann in allem etwas Hässliches erkennen.“

In einem YouTube-Video beschreiben Sie die Leere des Alls „als Gegenteil von Luft“. Das All sei kalt, dunkel, verstrahlt. Was ist hässlich im All?

Ich kann in allem etwas Hässliches erkennen, wenn ich will sogar in meinem eigenen Spiegelbild (lacht) oder in einem trüben Tag, an dem die Welt von einer grauen Schmiere bedeckt ist. Im Aralsee an der Grenze zwischen Russland und Kasachstan, dem viertgrößten See der Welt, den wir innerhalb einer Generation ruiniert und aufgrund von Kurzsichtigkeit, Arroganz und Gier in ein stinkendes Brachland verwandelt haben. Es ist wichtig, sich dieser Hässlichkeit zu stellen, zu analysieren, warum sie da ist, was dagegen getan werden kann, wie sie weniger wird. Aber konzentriere Dich die restliche Zeit lieber auf die schönen Dinge!

Was ist für Sie persönlich schön?

Für mich persönlich ist etwas schön, wenn es besonders schwer war, dies zu erschaffen oder zu erreichen – auch wenn es nicht schön im Sinne von „hübsch“ ist. Wenn man etwas erreicht hat, ist das wunderschön. Schönheit liegt in Präzision, Komplexität und Unwahrscheinlichkeit. Das Leben selbst ist schön für einen Astronauten, der aus dem Fenster sieht. Und das macht für mich das All so magisch: Es war so unfassbar hart, dorthin zu kommen. 

„Musik ist ungeschriebene Geschichte, eine wortlose Art zu kommunizieren.“

Astronauten sehen am liebsten aus dem Fenster. Sie auch?

Ja, weil die Aussicht immer wieder aufs Neue unglaublich ist. Die Sonne geht innerhalb von 15 Sekunden auf, und es sieht dann so aus, als würde jemand einen verdunkelten Halbmond nehmen und einen Regenbogen in allen Farben darübergießen, bis schließlich in der Mitte die helle und heiße  Sonne in Gelb und Orange explodiert. Es ist prächtig – rohe, natürliche Schönheit. Auf der dunklen Seite sind es aber auch die Lichter von Seoul, Paris und Las Vegas, die genauso schön sein können. Die Erde wird mit jeder Umrundung schöner.

Mit welcher Musik begleitet man solche schönen Momente?

Musik ist noch mehr Geschmacksache als Schönheit. Es gibt eine große Musikbibliothek, ich höre und genieße alles Mögliche, von den „Talking Heads“ bis hin zu Richard Strauss. Als wir von der russischen Raumstation Mir abkoppelten – es war mein erster Flug –, hörten wir das wunderschöne alte Volkslied „Those Were the Days“. Es existiert in vielen Sprachen. Darin geht es um die Bedeutung menschlicher Beziehungen, um die Freude und Trauer, die daraus entsteht und die Reflexion auf vergangene Zeiten: „Those were the days my friend, we thought they’d never end, we’d sing and dance forever and a day.“ Musik ist ungeschriebene Geschichte, eine wortlose Art zu kommunizieren. 

„Es werden siebeneinhalb bis acht Stunden Schlaf eingerechnet – das ist die Zeit, die ich mir ‚gestohlen‘ habe.“

Sie hatten auch eine Gitarre im Raumschiff?

Für die Gitarre da oben war ich sehr dankbar. Ich habe im All ein gesamtes Album geschrieben und aufgenommen, ein guter Weg für mich wertzuschätzen, wo ich bin – und auch zu begreifen. Als wir mit dem Raumschiff an der russischen Raumstation Mir andockten, hörten wir den „2001: A Space Odyssey“-Soundtrack, „Also sprach Zarathustra“ und den „Donauwalzer“. 

Im Zuge der ISS-Expedition 35 waren Sie fünf Monate im All. Jeder Tag ist auf die Minute genau von den Mission-Control-Zentren auf der Erde geplant. Wie fanden Sie da noch Zeit, künstlerisch tätig zu sein?

Eine rote Linie am Computerbildschirm zeigt dir ständig an, was jetzt gerade zu tun ist, was in fünf Minuten zu tun ist. Es werden siebeneinhalb bis acht Stunden Schlaf eingerechnet – das ist die Zeit, die ich mir „gestohlen“ habe. Statt zu schlafen, habe die Welt angesehen, fotografiert und musiziert. Die wissenschaftlichen, forschenden und technischen Aspekte sind wirklich wichtig, aber für mich ist das auch die menschliche Seite, die Möglichkeit, alles zu teilen. Wenn man ins All fliegt, vertritt man siebeneinhalb Billionen Menschen. Du bist nicht für dich selbst dort, es ist ein Leben im Dienste von jemandem, man stellt die Wünsche und Sehnsüchte anderer über die eigenen.

„Wir Astronauten sind eine bizarre Gattung.“

Spürt man im All die Schönheit der Zeit- oder Endlosigkeit?

Man reist mit acht Kilometern pro Sekunde: In der Zeit, in der man zu Abend isst – in eineinhalb Stunden –, fliegt man einmal um die Welt. Während einer Tasse Tee überquert man einen Kontinent, in neun Minuten reist man von New York nach Los Angeles, und alle 45 Minuten geht die Sonne auf oder unter. Die Welt ist majestätisch ruhig, sie zieht still vorbei. Man sieht all die Geschichte, Kultur, Klima, Geografie, Geologie – Reste der Eiszeit, Vulkane, riesige Asteroiden-Einschläge. Was sind wir, was sind die? Was ist alt, was ist neu? Was bedeuten vier Billionen Jahre? Aus dieser Perspektive hat unser Zeitempfinden keine Gültigkeit mehr, und künstlich gezogene und nationalistische Grenzen erscheinen einem überholt.

Ihr Job bringt viele Risiken mit sich. Wie gehen Sie mit Angst um?

Es ist ein sehr gefährliches Leben. Ich habe viele Freunde verloren. Während meines ersten Starts mit enormem Raketenfeuer unterm Arsch lag die Wahrscheinlichkeit zu sterben bei 1 : 38. Während der 135 Flüge explodierten zwei Space Shuttles und zwei Crews starben. 

Angst und Gefahr sind, ähnlich wie Schönheit und das Hübsche, nicht dasselbe, wir vermischen es nur oft. Angst ist eine instinktive Reaktion auf eine Situation, für die man nicht bereit bist. Es sind nicht die Dinge, die angsteinflößend sind, sondern die Menschen, die Angst haben, dafür nicht bereit zu sein. Ich hatte nie Angst, ich war ja bereit. Ich glaube, so kommt man besser durchs Leben. 

Im All erlebt man innerhalb von 24 Stunden 16-mal den Tag-Nacht-Zyklus. Welchem Zeitzyklus unterwirft man sich?

Ein All-Tag hat einen konstruierten Zeitzyklus, wie bei Schichtarbeitern oder Menschen, die weit im Norden oder Süden oder gar in einem U-Boot leben. Man muss seinen Tag abseits von Sonnenauf- und -untergang gestalten. Wir Astronauten sind eine bizarre Gattung. Wir wählen eine bestimmte Erd-Zeitzone und leben nach ihr. Der Zeitplan wird von den Mission-Control-Zentren erstellt, die auf der ganzen Welt verteilt sind, unter anderem außerhalb von Houston und Moskau, deshalb haben wir die Mitte aller Zeitzonen und somit die von London-Greenwich gewählt. Wenn die Queen aufwacht, wachen wir auf. 

Danke für das Gespräch!

Dieses Interview  ist in der Printausgabe #2 „The Beauty Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.

Der Astronaut, Kampfpilot, Luftfahrttechniker, Musiker, Autor, Lehrender und Social-Media-Star Hadfield (* 1959) wuchs auf einer Maisfarm im Süden Ontarios in Kanada auf. Als er als Neunjähriger die Apollo-Mondlandung im Fernsehen sah, wollte er auch in den Weltraum. Mit 33 Jahren ging sein Wunsch in Erfüllung, er setzte sich der gegen 5.330 (!) Mitbewerberinnen durch und startete 1995 mit der Raumfähre Atlantis zu seiner ersten Mission. Hadfield ist mittlerweile ein Medienstar, nicht zuletzt durch seine YouTube-Videos: Er gewährt etwa Einblicke in das Astronauten-Schlafzimmer – sogenannte Sleeping Pods, ganz ohne Matratzen und Polster – oder zeigt, wie man sich in der Schwerelosigkeit die Zähne putzt.  

Die Nase

Text: Antje Mayer-Salvi, Lisa Peres

Die berühmte norwegische Geruchsforscherin und Künstlerin Sissel Tolaas baut Geruchsduschen und synthetisiert den Duft von Geld. In ihrem Berliner „Archiv“ bunkert sie annähernd 10.000 olfaktorische Dokumente – unter anderem von Wien, Angstschweiß und Erbrochenem. Für die Expertin riecht nichts schlecht, gut jedoch auch nicht. 

Der Taucher

Text: Paula Pankarter

Mario Rott ist Apnoetaucher, Leistungsschwimmer, Grafikdesigner, Autor und Künstler. Seine Leidenschaft gilt dem Wasser: Als Phänomen und Medium, das Leben möglich macht. In den Ort unserer Ursprünge versinkend verschwimmen Klänge und Farben, Raum löst sich in Unendlichkeit auf. Denn wer in den Abgrund hinabtaucht, begegnet dort wahrer Schönheit – nämlich sich selbst. 

Der Sternekoch

Text: A. Mayer-Salvi mit A. Rabenreither, H. Stöger, V. Zavoli

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Jörg Hofmann kocht fürs All. Er ist Director of Culinary Excellence beim Airline-Catering Unternehmen LSG Group. Dank ihm können Astronautinnen in der Schwerelosigkeit Maultaschen, Käsespätzle oder Rehragout genießen – mit Klettverschluss-Besteck aus der Dose. Er erzählt uns, wie es im Weltraum riecht und schmeckt, und was ein galaktisches Gourmetmenü alles können sollte.

Die Wolkenforscherinnen

Text: David Meran, Konzept: Antje Mayer-Salvi, Fotos: NASA, Mia Meus

Die Wissenschaftlerinnen Yi-Ling Hwong und Andrea Stöllner sind Wolkenforscherinnen. Sie untersuchen am Institute of Science and Technology (ISTA) in Klosterneuburg bei Wien Wolken. In diesen fliegenden, schweren Giganten zirkulieren Tonnen an Wasser. Ihre Flüchtigkeit und Unbeständigkeit gepaart mit der realen Angst vor Gewittern, Stürmen und Unwettern sind seit Menschengedenken Stoff für Interpretationen. Dass ihnen eine gewichtige klimapolitische Dimension innenwohnt, macht sie für uns interessanter denn je. 

Die Wolkenforscherinnen Yi-Ling Hwong und Andrea Stöllner schauen sich Wolken am Himmel an.

Der Legospieler

Text: Bernardo Vortisch, Fotos: Mia Meus, Artwork: Viviane Sassen

Jérémie Palacci ist Physiker und arbeitet am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg. Sein Spezialgebiet? Weiche Materie – alles, was squishy ist – so wie Götterspeisen oder Shampoos. Palaccis Forschungsgruppe mit dem lautmalerischen Namen Materiali Molli Lab macht aber noch mehr: Aus Bausteinen, die hundertmal kleiner als ein Haar sind, stellt sie kleine Lego-Maschinen her. Klingt abgefahren – ist es auch! Die Artworks zum Interview sind von der niederländischen Künstlerin und Fotografin Viviane Sassen.