Der Aufsteher

Einmal Leben und zurück

Walter Lohmeyer hat ein bewegtes Leben hinter sich. Er war einst ein erfolgreicher Versicherungsmitarbeiter, dann landete er auf Grund seiner Alkoholsucht auf der Straße. Mitterweile wohnt er in seiner eigenen Wohnung, schreibt an einer Autobiografie, sogar einen Film gibt es über ihn. Der stadtbekannte Colporteur rät jedem, „einmal für 48 Stunden obdachlos zu sein“. Ein bewegendes Gespräch mit einem besonders liebenswerten Menschen, der heute wieder voll im Leben steht.

„Ich habe es aus dem Sumpf geschafft und gehe stolz durchs Leben.“

Lisa Peres: Du bist berühmt, über Dich gibt es sogar einen Film!

Walter Lohmeyer: Naja, berühmt (lacht). In „Einmal Leben und zurück“ begeben wir – Filmemacher und Regisseur Dragan Orolic und ich – uns auf die Spurensuche aus zwanzig Jahren meines Lebens und gehen gemeinsam nochmal all die Orte in Wien ab, an denen ich mich häufig aufgehalten habe. Was im Film nicht vorkommt, erscheint in meiner Autobiografie, die diesen Herbst herauskommt.

Die Premiere des Films fand vergangenen Herbst im Admiral Kino statt. Wie kam er beim Publikum an?

Er war an beiden Vorstellungstagen restlos ausverkauft. Die Menschenschlange ging bis draußen auf die Straße.

Warum gibt es so großes Interesse an Deiner Lebensgeschichte?

Die Menschen wollen Erfolgsgeschichten und Heroes sehen. Ich will mich jetzt nicht als Held bezeichnen, aber in meinem Fall bekommen sie schon ein bisschen davon. Ich bin ein gutes Beispiel dafür, wie man aus dem Sumpf heraus, wieder aufrecht und stolz durchs Leben gehen kann. Ich habe nach der Filmpräsentation zahlreiche Gratulations-Mails bekommen.

Ihr habt den Film sogar bei den Filmfestspielen von Cannes eingereicht?

Ja (lacht), weil wir freche Kröten sind. Das Interesse war eben so groß, dass wir den Film unter dem Genre „étrangeré documentaires social“ eingeschickt haben. Aber bei einer Selektion von 8.000 Filmen war uns klar, dass die Chance, was zu gewinnen, eher gering ist.

Du bist auf der Straße gelandet, weil Du angefangen hast zu trinken. Was war der Grund für Deine Alkoholsucht?

Mit Alkohol konnte ich nie wirklich umgehen. Meine Arbeit bei einem großen Versicherungskonzern in Graz, die geregelte Arbeit, das gute Einkommen, zig Freundinnen. Das hat mich komplett aus der Bahn geworfen. Der eine trinkt und kann mit Alkohol umgehen, der andere trinkt und kann damit nicht umgehen – wie ich. Und: Hochmut kommt vor dem Fall!

„Zeig mir eine Frau, die glücklich ist, wenn ihr Ehemann jeden Tag besoffen heimkommt.“

Was hat Deine damalige Ehefrau dazu gesagt?

Zeig mir eine Frau, die glücklich ist, wenn ihr Ehemann jeden Tag besoffen heimkommt. Gesagt habe ich ihr, ich komme um acht Uhr heim, aber es wurde zwei Uhr in der Früh, meistens volltrunken. Ich habe sie nie geschlagen, ihr hat es auch nie an etwas gefehlt, aber ich habe mich einfach aufgeführt. Aus. Ende. Wir haben uns scheiden lassen. Ich habe heute keinen Kontakt mehr zu ihr.

Du bist dann auf der Straße gelandet?

Das ging alles ganz schnell. Innerhalb von einem Jahr. Dann habe ich achteinhalb Jahre auf der Straße gelebt. Ich wollte mich umbringen, darüber habe ich auch im Film gesprochen, aber ich habe es nicht gemacht! Wir würden ja sonst nicht miteinander das Interview führen (lacht).

Der Alkohol lässt Dich nicht alleine ...

... er ist ein Hilfsmittel im Endeffekt. Als Alkoholiker flüchtest Du in Deine eigene Scheinwelt. Du hast Dich selbst so lieb, bist so arm, und alle anderen sind die großen Idioten. Man hat dann das große Selbstmitleid – aus dem heraus hantelst Du Dich immer weiter. Das ist eine Art Selbstschutz, der in seiner Gefährlichkeit nicht größer sein kann. Mit der Realität fängst du nichts mehr an, Du entfernst Dich immer mehr vom Hier und Heute und verlierst Dich schließlich völlig.

„Dann denkst Du dir, heute trinke ich nichts, aber psychisch und körperlich bist Du einfach zu schwach das durchzuziehen.“

Hat man in der Obdachlosigkeit Freunde?

Wir waren meistens zu dritt. Franz, Maria und ich. In der Obdachlosigkeit sind das eher Zweckbeziehungen als Freundschaften. Man will gemeinsam die Zeit über die Runden bringen, will überleben. Über Franz gibt es eine traurige Geschichte zu erzählen, die sich ereignet hat, nachdem ich zu trinken aufgehört hatte. Franz ist am helllichten Tag vor einer U3-Station zusammengebrochen. Die Menschen sind achtlos an ihm vorübergegangen. Erst eine Krankenschwester hat dann die Rettung gerufen, aber da war es schon zu spät. Er ist einem Herzinfarkt erlegen.

Wenn man sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, spürt man da das Wetter?

Du spürst es schon, zum Beispiel die Kälte, aber du ignorierst oder verdrängst das einfach. Viele Obdachlose sind an Erfrierungen gestorben. Einer sogar, weil es so extrem heiß war. Er hat sich mit Rotwein zugeschüttet, lag in der prallen Sonne und hatte schon einen ganz roten Schädel. Ich habe ihm noch gesagt, er soll in den Schatten gehen – in derselben Nacht ist er verstorben.

Macht man sich Gedanken über das Leben oder befindet man sich nur noch in einem Dämmerzustand?

Es gibt schon zwischendurch Highlights, und Du fragst dich, was tue ich hier überhaupt? Warum bin ich so tief gesunken? Und dann denkst Du dir, heute trinke ich nichts, aber psychisch und körperlich bist Du einfach zu schwach das durchzuziehen.

Wo hast Du in der Zeit gegessen?

In der Gruft. Als Alkoholiker hast Du aber eigentlich keinen Hunger oder nur ganz selten. Bei Heißhunger besteht die Gefahr, dass Du das Essen zu schnell in Dich hineinschlingst, das verträgt dann wieder der Körper nicht.

Achtet man trotzdem noch auf Hygiene?

Ich habe immer geschaut, dass ich nicht dreckig bin, das war mir sehr wichtig. Man konnte früher um vier Schilling in Bahnhöfen die öffentlichen Duschen benutzen oder in die Gruft gehen.

Wo waren die Orte, an denen du geschlafen hast?

Im Winter in Abbruchhäusern, Telefonzellen oder in U-Bahn-Stationen. Im Sommer einfach in Gottes freier Natur.

Hast Du in der Zeit Hilfe in Anspruch genommen?

Ich bin manchmal zur Sozialhilfe gegangen. Ich war auch oft in der Gruft, die hatte damals gerade eröffnet, und hier haben sich schon ein paar engagierte Sozialarbeiter gekümmert, aber wenn dir jemand sagt, trink nichts mehr – das geht nur aus freien Stücken. Da können Dich auch 300 Ärzte beknien, wenn Du nicht selber willst, funktioniert es nicht.

„Du brauchst einen Schmäh, um zu überleben!“

Wer war in der Obdachlosigkeit Dein größter Feind?

Eigentlich ist man sich selbst der größte Feind. Aber beim Haus des Meeres haben uns am Abend mal zwei Skinheads überfallen und grundlos auf uns eingetreten. Vor dieser Aggressivität ist aber niemand gefeit, das kann einem jeden Tag in der Straßenbahn, U-Bahn, einfach überall passieren.

Wie ist die Polizei mit Euch umgegangen?

Die Polizei kannte uns alle, die haben uns ziemlich in Ruhe gelassen. Die haben höchstens mal Rambazamba gemacht, aber sie wussten, wir sind im Grunde harmlos. Heute ist das anders. Die Obdachlosen sind wesentlich aggressiver als früher. Es gibt neue Drogen. Alkoholiker werden im Grunde höchst selten ungut, aber Obdachlose, die auf Heroin sind oder sich mit Tabletten zudröhnen, die sind besonders aggressiv. Schau mal heute beim Bermudadreieck oder am Praterstern ...

Entwickelt man in der Zeit der Obdachlosigkeit so etwas wie schwarzen Humor?

Freilich, man sollte das nicht unterschätzen. Von außen sieht man immer nur das Triste, das Traurige, aber man hat schon zwischendurch, wenn auch kurzfristig, Freude und macht Schmähs. Das brauchst du, um zu überleben. Ich bin ein absoluter Optimist, ich habe gewusst, ich werde da irgendwann wieder rauskommen. Auf das hin habe ich immer „Prost“ gesagt, was natürlich in dem Zusammenhang ein totaler Irrsinn ist (lacht).

„Du siehst auf einmal alle Probleme ganz bewusst, die du vorher mit Alkohol zugeschüttet hast.“

Was war Dein „Point of Return“?

Ich befand mich in einem sehr schlechten Zustand, war abgemagert auf 41 Kilo, hatte eine Lungenentzündung, und durch den jahrelangen Alkoholismus habe ich mich zum Diabetiker getrunken, ohne es zu merken. Man hat mich von der Straße aufgeklaubt und ins Spital gebracht. Meine Blutwerte waren alle total umgedreht. Unter vier Augen hat mir dann ein wirklich super Arzt in sehr einfachen, verständlichen Worten erklärt, welche Optionen ich jetzt hätte. Entweder ich trinke weiter und spritze kein Insulin, dann gibt er mir noch ein halbes Jahr, oder aber ich höre sofort auf zu trinken und könnte auch hundert Jahre alt werden. Das habe ich dann verstanden. Ich blieb gleich dort, ließ mich stationär behandeln und machte unter Beobachtung einen kalten Entzug. Das dauerte ungefähr eine Woche. Seitdem habe ich nie wieder einen Tropfen Alkohol getrunken. Das ist jetzt achtzehn Jahre her.

Wie alt bist Du?

Ich bin 62.

Auf einmal nüchtern, ist das nicht ein eigenartiger Zustand?

Das war wie ein Hammer. Abgesehen von den Entzugserscheinungen, dem Schwitzen und den Aggressionsanfällen siehst Du auf einmal alle Probleme ganz bewusst, die Du vorher mit Alkohol zugeschüttet hast.

Wie ging es dann weiter?

Ich bin dann in die Gruft zurück und habe allen dort verkündet: Meine Herrschaften, jetzt beginnt mein neues Leben! Ich wollte ins Heim in die Siemensstraße, da hast Du ein eigenes Zimmer, wirst sozial betreut und hast nach einem Jahr die Möglichkeit, Dein Leben wieder alleine in die Hand zu nehmen. In der Gruft war der Sozialarbeiter Hölbling, ein sehr lieber Kerl, der hat mir dann bei den ganzen bürokratischen Abläufen geholfen. Innerhalb von vier Stunden hatte ich sieben Ämter durch. Im Haus Siemensstraße lebte ich dann ein Jahr, zahlte alle meine Schulden zurück und war einer der Ersten, die es vom Heim in eine Hauptmiete geschafft haben.

„Ich bin eine Ich-AG, aus öffentlicher Hand bekomme ich nichts. Weil ich es nicht will.“

Wie bist Du zur Straßenzeitung UHUDLA gekommen?

Das war Zufall, vier Jahre zuvor, als ich noch auf der Straße lebte. In der Gruft erzählte mir damals ein anderer Obdachloser, es gäbe eine Straßenzeitung, mit der man in kürzester Zeit 200 Schilling verdienen könne. Ich konnte es nicht glauben und dachte, was erzählt der für einen Schwachsinn, aber er zeigte mir das Geld, das er damit gemacht hatte. Ich bin dann zum Verlag, habe Max Wachter, den Herausgeber, kennengelernt und habe angefangen, den UHUDLA zu verkaufen.

Du verkaufst den UHUDLA mittlerweile im 24. Jahr. Max Wachter ist ein guter Freund von Dir geworden.

Er hat mir geholfen, als ich komplett unten war. Bei ihm konnte ich ab und zu schlafen. Sie haben leider bei ihm vor zwölf Jahren eine Asbestose festgestellt, da frisst sich die Lunge von alleine auf. Er meinte dann, entweder der UHUDLA sperrt zu oder ich übernehme ihn. Ich wusste, die Zeitung ist für ihn das Herz. Ich habe dann die Geschäftsführung übernommen – als „graue Eminenz“ (lacht). Max ist und bleibt natürlich der Herausgeber.

Aber Du lebst bis heute dennoch ausschließlich vom Verkauf auf der Straße?

Für das Schreiben und für meine Tätigkeit als Geschäftsführer beim UHUDLA verlange ich nichts. Ich habe Max so viel zu verdanken, da nehme ich kein Extrageld. Der Straßenverkauf ist mein Einkommen! Ich konnte irgendwann davon leben – und das bis heute. Ich bin eine Ich-AG, bin einkommensteuerpflichtig, habe eine Steuernummer und zahle regelmäßig meine Abgaben an die SVA. Aus öffentlicher Hand bekomme ich nichts. Weil ich es nicht will.

Wie lange bist Du am Tag unterwegs?

Ich gehe jeden Tag von etwa zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends zwischen zwanzig und dreißig Kilometer. Ich habe da meine fixe Route durch den 6., 7. und 8. Bezirk, dann weiter zum alten AKH und anschließend in den ersten Bezirk. Im Café Europa oder im Sapa in der Zollergasse mache ich meine Mittagspause.

Kaufen die Leute gerne bei Dir?

Mir hat mal einer gesagt, er hätte nie im Leben eine Zeitung gekauft, aber ich hätte so eine gute Ausstrahlung und einen guten Schmäh, bei mir mache er eine Ausnahme. Er ist mittlerweile einer von vielen Freunden von mir geworden. Ich bin nicht aufdringlich und ich spreche Englisch und Francais, das hilft auch.

Wie ist er, der Wiener? Du bist auf der Straße nahe an ihm dran ...

Dazu fällt mir ein Sprichwort von Oskar Werner ein: „Unser Charakter ist unser Schicksal!“ Der Wiener ist ein gemütlicher Mensch, stur und raunzert. Er versucht, seine raue Herzlichkeit hintanzuhalten, er will aus sich nicht heraus. Im Grunde genommen ist er introvertiert. Und er ist in den vergangenen zehn Jahren wesentlich rechter geworden.

Und Wien?

Wien wird mit der Zeit erwachsen, erwacht aus seinem Dornröschenschlaf. Die Stadt war so kleinkariert, heute versucht man, aufgrund der EU Frankreich oder England zu imitieren, man will großstädtisch sein, aber das werden sie nie wirklich schaffen (lacht).

Wenn Du auf die acht Jahre Obdachlosigkeit zurückblickst, was ist Dein Resümee?

Es war eine Zäsur. Was ich da erlebt habe, war für mich aus heutiger Sicht eigentlich ein Geschenk. Jetzt erst erkenne ich, dass ich viel mehr Freude an allem habe als früher. Ich habe auch viel mehr Ziele und diese zum Teil auch schon erreicht. Schreiben wollte ich immer. Ich sollte mir noch das Rauchen abgewöhnen, im Film habe ich das ja versprochen.

„Ich schreibe gerade an zwei Romanen.“

Was steht auf Deiner Agenda?

Meine Autobiografie. Und ich schreibe gerade zwei Romane. Einer heißt „Philip“ und handelt von krebskranken Kindern und der Pharmaindustrie. Der andere ist eine Humoresque über zwei stadtbekannte Clochards in Frankreich. Sie arbeiten sich Schritt für Schritt wieder hoch im Leben. Ist natürlich in vielem autobiografisch, und es gibt einen Slapstick nach dem anderen. Ich suche in Frankreich jetzt einen Verlag, der das publiziert. Über Syrien möchte ich auch noch ein Buch schreiben. Über den Krieg, die Auswirkungen, den Irrsinn, der sich dort abspielt. Aber das ist sehr komplex, da muss ich viel recherchieren. Wie heißt es so schön: „Pläne sind die Träume der Verständigen.“

Wo wohnst Du heute?

Ich habe eine eigene 35 Quadratmeter Hauptmietwohnung im zwölften Bezirk.

Wie war das Gefühl der ersten Nacht in der eigenen Wohnung?

Sehr schön, Du brauchst keine Angst mehr haben, dass Dich irgendwer erschlägt oder Dir was antut. Du bist frei, Dein eigener Mensch.

„Shades Tours? Sozialpornografischer geht es ja gar nicht!“

Würdest Du auch bei diesen Shades Tours mitmachen, bei denen Obdachlose durch Wien führen?

Niemals! Sozialpornografischer geht es ja gar nicht. Das ist ja der größte Scheiß! Von einem „waschechten Obdachlosen“ durch die Stadt führen lassen, vielleicht noch in einer Rikscha. Ich lasse mich doch nicht verbraten. Sicher nicht.

Was hast Du anderen voraus?

Ich würde jedem empfehlen, einmal für 48 Stunden obdachlos zu sein, weil man wieder zurück zum Ursprung geholt wird, auf das eigentliche Ich.


www.uhudla.wordpress.com


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