Der Choreograph

Fleischlich positiv Sex

Michiel Vandevelde (*1990) ist ein Name, den man sich merken sollte, wenn man sich für Performance Kunst interessiert. Der international viel gebuchte Belgier schreibt, kuratiert und choreografiert. Eine Ode an körperliches Vergnügen, Wünsche und Fantasien.

Michiel Vandevelde

„Neun Akte und neun Standpunkte zur Sexualität“

Eva Holzinger: Warum hattest Du Lust ein Stück über Sexualität zu machen?

Michiel Vandevelde: Wir besitzen heute ein großes Vokabular, um die Vielfalt von Sexualität zu thematisieren; gleichzeitig werden Sex und Sexualität aus dem öffentlichen Leben wieder verstärkt in die Privatheit verdrängt. Diese Kluft zwischen sex-positiv und sex-negativ hat mich angetrieben. Missbrauch, die Diskussionen um Abtreibungsgesetze oder der Verletzung von LGBTQI+-Rechten – das ist alles relevant für mich. 

Und im Stück JOY 22 bei den Wiener Festwochen?

Da behandle ich bewusst die sex-positive Kultur: Wie können sinnlichen Praktiken jenseits normativer Klischees aussehen und wie kann man sich an ihnen versuchen? Wie kann Sex-Positivity den Diskurs in der Öffentlichkeit beleben? Und wie kann sie den reaktionären Kräften, die in Europa wachsen, entgegenwirken?

Woher kommen diese neuen reaktionären Kräfte?

Es werden gerade alte Rezepte wieder heraus gekramt, die jedoch keine adäquaten Antworten auf die neuen Herausforderungen des Klimawandels, der Migration und der Globalisierung bieten. Der Konservatismus ist eine Fata Morgana, die eine komplexe und diverse Welt vereinfachen will. Wenn man den unbekannten „Anderen" entmenschlicht, dann schützt man vermeintlich seine eigen Zugehörigkeit, die wir im Zuge der Globalisierung aber längst hinter uns lassen mussten.

Reisen wir gerade wieder in eine konservative Vergangenheit?

Wir sind auf jeden Fall Zeuginnen einer seltsamen Zeitverschiebung. Wir entwickeln uns mit unglaublicher Geschwindigkeit weiter, und doch haben die Menschen überall auf der Welt für Politikerinnen gestimmt, die für Konservatismus und Regression stehen.

„Konservatismus ist eine Fata Morgana“

Du hast Dich aus Rercherchezwecken selbst in die Sex-Positivity-Szene begeben. Wie erging es Dir dort?

Ich habe viele Festivals in Wien, Berlin und Prag besucht. Solche Veranstaltungen gibt es schon seit 30 Jahren, also länger, als man vielleicht denken würde. In den letzten fünf Jahren hat die Szene aber definitiv mehr Aufmerksamkeit bekommen. Ich habe mir die Szene anders vorgestellt. Fremder vielleicht. Aber ich dachte: „Das hier kommt mir bekannt vor.“

Die Vergangenheit spielt auch in Deinen Stücken immer eine wichtige Rolle?

Ich betrachte die Gegenwart gern durch Brille der Vergangenheit.  Die Performance MEAT JOY von Carolee Schneemann aus dem Jahr 1964, warf damals einen unangepassten Blick auf die Sexualität, so wie ich es heute mit meinem Stück JOY 2022 tue. Es ist eine Reise mit vielen verschiedenen historischen Referenzen, aufgeteilt in neun Akte und neun Standpunkte zur Sexualität. Nur der achte Akt ist eine direkte Annäherung an MEAT JOY, wo Carolee Schneemann die fleischliche Sinnlichkeit in all ihren Aspekten als eine intermediale Performance mit Paaren zelebrierte, die auf der Bühne mit Farbe, Blut, Tanz- und Soundelementen agierten.

„Eine enthusiastische Szene, voller Freude und Energie.“

Durch Dein Tanz- und Choreografiestudium?

Ja, es gibt gewisse Parallelen in den körperlichen Praktiken. Ich musste an Kontaktimprovisationen denken. Es sind ähnliche Strukturen, die sich einem anderen Vokabular, einer anderen sexuellen Terminologie bedienen. Ich habe mich schnell zuhause gefühlt.

Die Besetzung von JOY 2022 ist auch spannend: Erzähl uns davon!

Der Cast besteht aus zehn Menschen. Drei davon sind professionelle Schauspielerinnen der Münchner Kammerspiele. Der Rest besteht aus einer Sexarbeiterin und Menschen aus der sex-positiven Szene aus ganz Deutschland. Jede Person bringt unterschiedliche sexuellen Erfahrungen in dieses Projekt mit. Wir haben versucht ein gemeinsames Wissen zu kreieren, voneinander zu lernen, positive und negative Erfahrungen zu teilen, etwa Impact Play, eine BDSM-Praxis, bei der eine Person von einer anderen Person zur Befriedigung einer oder aller Parteien geschlagen wird.

„Fleischliche Sinnlichkeit in all ihren Aspekten.“

Was beeindruckt Dich am meisten an der Sexpositivity-Szene?

Die Kommunikation auf Augenhöhe. Würden wir uns alle eine Scheibe davon abschneiden, dann wäre unsere Welt offener und es gäbe weniger Gewalt. Es ist auch eine sehr enthusiastische Szene, voller Freude und Energie.

Du bist Choreograph: Kuratieren bedeutet, darüber zu entscheiden, welche Stimmen gehört und welche Körper gesehen werden.

In Belgien nennt man meinen Beruf nicht Kurator; wir verwenden den englischen Begriff „programmer“. Das klingt nach IT, ich weiß. Aber es hat tatsächlich auch etwas Technisches. Man muss immer entlang gewisser ethischer, politischer und logistischer Parameter und Kontexte kuratieren.

„Man muss alle Künstlerinnen boykottieren, die den Krieg befürworten.“

Die Wiener Festwochen wurden kritisiert, weil sie im Rahmen der Festival-Eröffnung dem österreichischen Hip-Hop-Musiker Yung Hurn, eine Bühne gaben, der sich frauenfeindlicher Sprache bedient. Wie stehst Du dazu?

Die Frage, wer oder was boykottiert werden darf oder soll, haben wir aufgrund des Krieges in der Ukraine wieder viel diskutiert. Muss man als Konsequenz dieses Konflikts alle russischen Künstlerinnen boykottieren? Nein. Aber: Man muss alle Künstlerinnen boykottieren, die den Krieg befürworten. Ähnlich ist es für mich mit frauenfeindlicher Sprache. Soll man einer Person, die gewalttätige Sprache gegenüber einer Gruppe von Menschen verwendet, eine Bühne geben? Nein.

Vielen Dank für das Gespräch.

Michiel Vandevelde, 1990 in Flandern geboren, studierte Tanz und Choreografie am P.A.R.T.S. in Brüssel. Seit zehn Jahren arbeitet er an der Schnittstelle von Choreografie, Aktivismus und Diskurs. In Österreich wurden seine Arbeiten bislang unter anderem im Rahmen von ImPulsTanz und dem Steirischen Herbst gezeigt. Als Autor schreibt Vandevelde für verschiedene Kunst- und Theaterpublikationen.

Die Intimitätskoordinatorin

Text: Julia Bauereiß, Fotos: Paul Dittmann

Intimitätskoordinatorin Cornelia Dworak

Die Wienerin Cornelia Dworak sorgt dafür, dass Sexszenen am Filmset und auf der Bühne für alle korrekt und angenehm ablaufen. Wir sprechen mit ihr über unechte Filmküsse, Silikon-Penisse und Mundgeruch.

Die Zeitenwandlerin

Text: Ada Karlbauer

Claudia Bosse arbeitet zwischen den Zeiten, der Körper dient ihr als Medium. Seit vielen Jahren ist sie in Kollektiven wie theatercombinat zwischen Choreographie, Theater und Performance aktiv. Im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals zeigt sie ihre Solo-Arbeit ORACLE and SACRIFICE oder die evakuierung der gegenwart, in der antike Orakelpraktiken auf die Gegenwart treffen. Sie erzählt über tabuisierte Materialien, das Fressen von Zeit, Formen der Gewalt und der Normalität als Irrsinn. 

Die Grenztänzerin

Text: Lena Stefflitsch

Was haben Pirouette, Plié und Pas de deux mit Pornos zu tun? Die formalisierten Ballettposen waren ursprünglich dazu gedacht, „männliche Zuschauer aufzugeilen“, erklärt uns die gefeierte Wiener Choreografin Florentina Holzinger. Ihre Performances brechen mit dem rigiden Schönheits- und Körperkult des klassischen Balletts. Denn die einzigen Grenzen sind die eigenen – und diese gilt es für die widerständige Künstlerin immer wieder zu überwinden.