Liebe am Laufsteg
Modedesigner Kenneth Ize, ausgesprochen „ee-zay“, lebt und arbeitet in Nigeria, das derzeit wohl mit spannendste Land für zeitgenössische Mode. Aufgewachsen ist er in Wien, wohin er mit seiner Familie als Vierjähriger ins politische Exil flüchtete. Was ihm sein Studium Fashion und Design an der Universität für angewandte Kunst in Wien brachte, welche Tradition sich hinter dem nigerianischen Material ASO-OKE versteckt und warum Naomi Campbell für seine Shows läuft, erzählt er uns gut gelaunt auf seinem Kurzurlaub in Österreich.
„Liebe macht Spaß.“
Was bedeutet die nigerianische Kultur für Dich?
Liebe.
Dein Label in drei Worten?
Ich brauche nur eines: Liebe.
Und was ist Liebe für Dich?
Man genießt, zu lachen. Liebe ist das Gefühl von Seelenfrieden. Liebe sind Kompromisse. Liebe macht Spaß.
Im Herbst 2022 hieß es Stopp für Dein Label? Warum?
Ich trennte mich von meinen Investoren. Eines Morgens wachte ich auf und dachte: „Das entwickelt sich in die falsche Richtung. Ich sehe keine Zukunft in dieser Zusammenarbeit.“ Ich setzte bei den Fashion Weeks im Herbst 2022 aus und feilte an der Zukunft meiner Brand.
„Afrika wird zur textilen Mülldeponie der westlichen Welt.“
Womit bist Du zurückgekommen?
Im Jänner 2023 kam ich mit meiner Kollektion „Forward ever, Backward never“ in die Modewelt zurück. Mit einer neuen Philosophie: Ich hatte vor einiger Zeit ein Vintage-Teil in Lagos gekauft. Man nennt es in der westlichen Welt „Vintage“, weil das fancy klingt. Die Geschichte dahinter ist allerdings eher traurig. Das ist Kleidung, die der Westen nicht mehr braucht, Abfall, sie vergammelt auf unseren Märkten und überschwemmt und verschmutzt den Kontinent Afrika. Ich upcycle diese Secondhand-Klamotten zu meinen Designs − auch bekannt als Dead White Man‘s Clothes. Afrika wird zur textilen Mülldeponie der westlichen Welt. Meine neue Designsprache schenkt mir eine Stimme.
Welche Konsequenz ziehst Du daraus?
Upcycling schafft neue Dinge, indem es alte verändert. Das inspiriert und motiviert mich, meine neue Kollektion zu designen. Ich verwende unterschiedliche Techniken und kreiere die Kollektion direkt an meinem eigenen Körper. Da sind nur ich und ein gigantischer Spiegel. Wenn ich vom Markt mit Secondhand-Stücken zurückkomme, veranstalte ich meine eigene Fashion Show vor dem Spiegel.
Du hast an der Universität für angewandte Kunst in Wien bei Hussein Chalayan 2015 Deinen Master-Abschluss in Modedesign gemacht. Was hast Du gelernt?
Warum mache ich, was ich mache. Das war die elementare Frage, die ich lernte, mir selbst zu stellen. Man muss die Relevanz in den kleinen Dingen erkennen und beachten. Eine Kollektion ohne Geschichte ist nur Kleidung. Ich wurde ausgebildet, Mode zu machen.
Wie ging es nach Deinem Abschluss weiter?
Ich war hin- und hergerissen − ich entschied, nach London zu ziehen, und suchte dort einen Job. Die Zeit nach meinem Abschluss entpuppte sich als schwierig, das begann schon bei den Bewerbungen: Meine Praktika während des Studiums waren keine Eintrittskarten in die Welt der Studios. Eines Morgens wachte ich auf, verließ England und bin zu meiner Familie nach Österreich ...
„Ohne Geschichte ist es nur Kleidung.“
... alle Wege führen zur Familie …
… und in diesem Fall nach Linz, wo sie inzwischen leben. Für mich sollte das jedoch nur ein weiterer Zwischenstopp auf meiner Heimreise nach Lagos in Nigeria sein.
Warum zurück nach Lagos?
Mein Dad musste als politisch Verfolgter nach Österreich auswandern und kehrte nie wieder in seine Heimat zurück. Vor ein paar Jahren starb er. Sein Tod zerriss mich innerlich und stellte mein Leben vollständig auf den Kopf. Damit auch alle meine Perspektiven und Ideen für meine eigene Brand. Drei Monate schwirrten nur Gedanken zum Begräbnis, Trauer und Wut in meinem Kopf. Eines Tages wachte ich auf und dachte: „Ich muss nach Lagos.“ So nach dem Motto „I had a dream!“, Du weißt schon, wie Martin Luther King. Ich wollte einen Weg finden, die Modeszene in Nigeria, meinem Geburtsland, zu unterstützen und selbst Teil davon zu werden. Da gehöre ich hin. Ich möchte mich weiterhin von dieser Liebe leiten lassen.
Hattest Du keine Angst, dass das schiefgehen könnte?
2016 war eine „GoFundMe“-Page meine Rettung. Ich fragte mich: „Ist das zu crazy? Ist das der richtige Weg?“ Da war viel Ungewissheit, aber mein Traum war größer. Ich habe meine Website eingerichtet, meine Designs und Ideen gezeigt. Mein Ziel: die Fashion Week in Lagos. Wir mussten eine Deadline einhalten, es blieben uns nur zwei Wochen Zeit. Es war verrückt, aber wir schafften es.
„Von der Liebe leiten lassen“
Das britische Supermodel Naomi Campbell ist für Deine ersten Fashion Shows in Lagos und in Paris (2020) gelaufen. Wie kam es dazu?
Das war Zufall. Ich war bei einem Freund in Lagos und Naomi Campbell war zufällig auch dort. Wir haben uns unterhalten und dann kam die alles verändernde Frage von ihr: „Can I do your show?“ Sie meinte es ernst, sie stellte wirklich diese Frage. Seitdem hat sich ziemlich viel getan.
Das ist etwas untertrieben. Du warst sogar 2019 Finalist beim wichtigsten Modepreis der französischen Luxusgruppe LVMH für junge Designerinnen. Er ist immerhin mit 300.000 Euro dotiert. Und Du hast mit etwa 30 Weberinnen die größten Webfabriken in Nigeria errichtet. Du bietest Frauen, die von Gewalt betroffen sind, damit Sicherheit und Unabhängigkeit. Wie hat sich das alles bis heute entwickelt?
Ich durfte sehr viele internationale Kontakte seit meiner ersten Kollektion knüpfen. Der Aso-Oke-Stoff ist ein handgewebter Stoff, der vom Volk der Yoruba in Westafrika hergestellt wird. Männern und Frauen weben diesen Stoff. Die Art und Weise, wie er hergestellt wird, ist seit Jahrhunderten gleich. Ich war von Beginn an begeistert von dieser traditionellen Kunst des Webens in Nigeria. Die Idee war da, aber die Umsetzung war dann schon schwieriger. Jetzt haben wir eine Fabrik, in der wir produzieren, ein Webereizentrum, das auch als öffentlicher Raum dient. Dieses Projekt ist meine Leidenschaft. Ich möchte die ganze Welt mit diesem Handwerk aus Nigeria erreichen.
Kannst Du selbst auch weben?
Ja, natürlich, das ist eine Kulturtechnik in Nigeria.
„Man(n) kann schimmerndes Augen-Make-up tragen.“
Was war Dein erstes selbst designtes Kleidungsstück?
Ich war zwölf Jahre alt und auf Besuch in Nigeria. Die Schneiderin meiner Mutter nahm mich in die Stadt mit, überall diese quirligen, kreativ gestylten, jungen Leute. Nach diesem Ausflug war ich ganz inspiriert und nähte mit ihr gemeinsam ein schwarzes Leinen-Outfit mit weißen Kreisen.
Deine männlichen Models tragen knalliges Augen-Make-up und blauen Lippenstift.
Ich mache die Dinge, wie sie mir gefallen. Männer mit glitzernden und bunten Nägeln können selbstbewusst und gleichzeitig verletzbar sein. Ich und meine Mode müssen beides repräsentieren. Man(n) kann knallige Lippen und schimmerndes Augen-Make-up tragen.
Du trägst selbst Nagellack. Gab es unschöne Reaktionen darauf?
„What the hell is this?“, „Why are you polishing your nails?“ und „Are you a woman?“ – so wurde ich am Flughafen von Lagos von einem Zollbeamten „begrüßt“. Einfach respektlos! Ich saß neben meinem Gepäck und lackierte meine Nägel. Es sind meine Nägel, meine Entscheidung. Bunte Nägel sollten keine Angriffsfläche für Beleidigungen sein. Da wusste ich: Make-up muss von Gendergrenzen befreit werden.
„Es ist an der Zeit, dass ich mich selbst treffe.“
Bei Deiner 2020 Kollektion befinden sich Äpfel auf den Textilien. In Nigeria wachsen keine Äpfel − eine Verbindung zwischen der österreichischen und nigerianischen Kultur?
Ich bin immer noch auf der Suche nach meiner Definition von Zuhause. Diese Frage beschäftigt viele Menschen, nicht nur Menschen wie mich, die in der Diaspora aufgewachsen sind. Ich frage mich oft, wie Österreich und Nigeria verheiratet sein könnten. Was bedeutet Heimat? Aber ja, mit Äpfeln versuche ich die österreichische und nigerianische Kultur zusammenzubringen.
Apfelstrudel oder Apfelkuchen?
Ich liebe Apfelstrudel.
Deine Designs strahlen in bunten Farben und geometrischen Mustern, …
… denen ich in meiner ganzen Kindheit begegnete. Ich liebe Farbe. Überall erblickte mein kindliches Ich Farbe und Streifen auf den Stoffen meiner Mutter − ein Paradis der Inspiration. Da gab es einen Stoff, der sehr prägend war. Er war grau, schwarz und weiß mit pinken Applikationen in der Mitte. Ich wusste übrigens sehr lange nicht, dass man Modedesign überhaupt studieren kann. Selbst wie ich an der Universität für angewandte Kunst in Wien Modedesign studierte, konnte ich keine fünf Designerinnen nennen (lacht).
Gibt es den Stoff noch?
Ich habe ihn wiedergefunden, als ich nach Hause zurückkehrte, um meinen Vater zu begraben. Das war ein sehr emotionaler Moment. Dieser Stoff schreit förmlich „Kindheit“.
„Wien, gib uns Drag-Shows!“
Du wurdest 2017 und 2019 von der Austrian Fashion Association in Wien gefördert. Was müsste sich ändern, damit junge Designerinnen in Wien bleiben? Was fehlt hier?
Menschen wie ich. Ich bin queer. Es fehlen mehr außergewöhnliche Persönlichkeiten, die queere Menschen akzeptieren. Queere Menschen haben etwas zu sagen. Man muss sie zu Wort kommen lassen. Menschen wie die US-amerikanische Drag-Queen RuPaul oder die US-amerikanische Modeikone Amanda Lepore inspirieren und faszinieren mich. Wien, gib uns Drag-Shows! Gib uns eine Gay-Culture! Queere Menschen sind keine „nette“ Ergänzung. Sie sind Teil des Fundaments.
Du hast für die österreichische Band „Bilderbuch“ im Jahr 2022 ihre Bühnenoutfits designt. Österreichische Spitze und nigerianische Stoffe wurden vereint, nicht ohne Grund. Erzähle mir davon!
Spitze aus Österreich wird in Nigeria von Frauen zu besonderen Anlässen getragen − das weiß fast niemand. In den 1960er-Jahren brachten österreichische Geschäftsmänner die Spitze nach Nigeria. Eine Verbindung zwischen dem Land, in dem ich aufwuchs, und dem Land, in dem ich aktuell lebe und geboren wurde. Wie könnte man besser auf diese Handelsbeziehung aufmerksam machen? Ich bringe die Energie der nigerianischen Frauen zurück nach Österreich.
Was hast Du gerade an? Trägst Du Deine eigenen Designs?
Ich trage heute ein Kleid-Shirt im Leoparden-Muster. Ich habe es selbst designt. Darunter trage ich eine Lederhose, die wir in Vietnam angefertigt haben. Der perfekte Abschluss bilden ein Paar meiner Lieblingsschuhe – Flats. Und Schmuck darf nicht fehlen.
„Schmuck darf nicht fehlen!“
Ist Deine Kleidung politisch?
Während Corona wurde die nigerianische Gesellschaft allein gelassen, sie wurde ärmer und ärmer. Ich wollte eine Botschaft mit meiner Kleidung an die Regierung senden. Ich designte Blazer mit Gürtel, die Regierungsbeamte während der Diktatur in Nigeria trugen. Diese Kollektion sollte an diese schlimme Zeit des Stillstands erinnern und wachrütteln. Ich verwendete Stoffe älterer Kollektionen, damit sie sich von den echten Uniformen der Regierungsbeamten unterscheiden.
Deine letzte Fashion Show „Forward ever, Backward never“ hast Du 2023 im Jänner in Lagos und im September in Paris gezeigt. Worauf dürfen wir uns in Zukunft freuen?
Ich arbeite aktuell an meiner neuen Kollektion, ich will noch nicht zu viel verraten, aber Ihr müsst Euch nicht mehr allzu lange gedulden! Ich will meine Liebe auf dem Laufsteg sehen.
Glaubst Du an die Zukunft der Mode?
Ich mache Mode, um meine Gefühle auszudrücken. Ich weiß nicht, wohin die Modeindustrie will. Zum Geld? Ich grübele viel über die Menschheit, sie ist cool und faszinierend, sie ist grausam. Die Welt wäre nackt ohne Designerinnen. Wir bekritzeln die Welt und machen sie bunt. Das Potenzial für Mode ist da, aber ohne Respekt füreinander ist das alles nichts wert.
Welches Kleidungsstück würdest Du abschaffen?
Mir wurde schon so viel genommen. Nichts sollte verschwinden.
Danke für Deine Zeit.