Der österreichische Fotokünstler GregorSailer (*1980) widmet sich in seinen aufwendigen und unter riskanten
Bedingungen entstandenen Dokumentarfotos einer Welt der Fakes,
Illusionen und Täuschungen: Übungsplätze für Militärs,
moderne potemkinsche Dörfer in Russland oder Sperrgebiete in den entlegensten
Gegenden dieser Welt. Das KUNSTHAUSWIEN zeigt seine große Ausstellung Unseen Places noch bis 19. Februar 2023. Ein Gespräch über den
Kitzel des Verbotenen und das Warten auf den magischen Moment.
Text: Anika Karoh & Matthäus Jandl, Fotos: Gregor Sailer
Hier zu sehen sind zwei Fotos aus der Serie „Potemkin Village“, in den sich Sailer in Kriegs- und Sperrgebiete begeben hat. Oben zu sehen ist eine Fake-Stadt, welche die französische Armee für Truppenübungen nutzt (2015), unten die „Junction City“, eine arabisch anmutende Kulisse, in der die US-Army den Häuserkampf probt. Sie befindet sich in Wirklichkeit allerdings in Kalifornien (2016).
Anika Karoh, Matthäus Jandl: Deine Fotos zeigen Orte, die im Verborgenen bleiben wollen oder etwas vorgeben, was sie nicht sind. Was war denn die absurdeste Täuschung, die Du je vor die Linse bekommen hast?
Gregor Sailer: Was ich sehr spannend, aber auch beängstigend empfand, waren diese militärischen Stadtkonstrukte, bei denen Dörfer, Siedlungen oder
Einkaufsstraßen nachgebaut wurden, um Soldaten für den Häuserkampf vorzubereiten. Je nachdem, in welchem Land die jeweilige Nation in einen Konflikt involviert ist, beeinflusst das auch die Architektur dieser Trainingsareale. Bei meiner Kooperation mit der US-Army waren es vor allem Anlagen, die einen arabischen Charakter hatten. Sie sehen teilweise wirklich täuschend echt aus. Das Beängstigende – und gleichzeitig auch düster Beeindruckende – ist der enorme Aufwand, der betrieben wird, um diese Fakes zu konstruieren.
Wie geht es Dir als Fotograf dabei, wenn Du mit Deiner Kamera durch diese Pseudo-Städte streifst?
Man erliegt in diesen urbanen Inszenierungen für Augenblicke der
Illusion, obwohl die Ratio weiß, dass man sich durch Fakes bewegt. Diese Kulissen in Kombination mit den Geräuschen des Krieges im Hintergrund – Maschinengewehrsalven, das Rattern von Panzern oder Hubschraubern, dazu Wüstensand, der einen einnebelt, – erzeugen für einen Augenblick scheinbare Realitäten, die in mir ein unheimliches Grundgefühl auslösen. Ich spüre an diesen
Orten immer eine große Einsamkeit.
Zeigst Du diese Orte deswegen ohne Menschen?
Nicht nur, aber auch, ja,
das steigert ihren ohnehin schon surrealen Charakter noch einmal. Dieses Allein- und
Aufsichgestelltsein ist bei allen meinen Projekten immer präsent. Ich will mich voll und ganz auf die Szene und das Vorgefundene einlassen, auf die Geografie, auf die Elemente wie Wasser, Wolken, Wind und Licht, das schärft mein Bewusstsein und meine Wahrnehmung. Ich muss große Geduld mitbringen, ich muss warten können, bis die ideale Situation dann irgendwann da ist. Dieses Warten heißt für mich oft, dass es sehr, sehr, sehr einsam werden kann.
„Es ist im Grunde lebensfeindliches Gebiet, es ist tödlich.“
„Meine Bilder regen einen Diskurs an, diese Welt besser zu behandeln. Das ist, was mich treibt.“ Hier zu sehen ist ein Bild aus Sailers Serie „The Polar Silk Road“, das eine militärische Einrichtung in Norwegen zeigt (2020). Die „polare Seidenstraße“ bezeichnet eine zukünftige Handelsstraße, die erst durch das Abschmelzen der Pole vollständig befahrbar sein wird. Sailer befasst sich in dieser Serie mit den klimatischen Veränderungen der arktischen Regionen und ihrer wirtschaftlichen Nutzung sowie den territorialen Ansprüchen der Anrainerstaaten.
Gibt es einen Ort, an dem Du fotografiert hast, der Dich besonders berührt hat?
Was ich faszinierend
finde, ist Kälte. Ich beschäftigte mich in den vergangenen fünf Jahren intensiv
mit der Arktis. Bei Temperaturen mit teilweise bis zu minus 55 Grad Celsius
fotografierte ich auch in Kanada, Grönland, Island, Norwegen, immer analog. Mich reizte besonders das Arbeiten auf Grönland. Es war mir anfangs
nicht bewusst, dass man sich in Zentralgrönland auf einer Höhe von 3000 Metern befindet – hier ist die Eiskappe am dicksten. Es ist im Grunde lebensfeindliches Gebiet,
es ist tödlich, ohne jegliche Infrastruktur, die Dir als Mensch ein
Überleben sichern würde.
Beschreibe uns, wie es dort ist!
Es ist
dort komplett plan, ganz flach, Himmel und Horizont verschmelzen zu einem
surrealen, fast jenseitigen Ort miteinander. Man verliert völlig die Orientierung und die Dimension. Während der Mitternachtssonne dort zu sein, war magisch.
Man kann als Fotograf jedoch auch von weniger extremen Orten spannende Geschichten erzählen.
Das Interessante
an meinem Beruf ist für mich, dass ich vermeintlich
bekannte Ecken dieser Erde durch mein Objektiv neu entdecke.
„Scheitern ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit.“
Die Messerschmitthalle in Schwaz ist ein Ort in Österreich, der in Vergessenheit geraten ist. Sailer bringt ihn wieder ins Licht der Aufmerksamkeit, im wahrsten Sinne des Wortes. 300 bis 400 Zwangsarbeiterinnen mussten ab 1944 für die Nazis dort in den Stollen des ehemaligen Schwazer Bergwerks den Fliegerbomber Messerschmitt Me 262 für die Messerschmitt-Werke Kematen herstellen, aus der Serie „The Box“ (2014–2015).
Gibt es einen „Unseen Place“, für den Du keine Genehmigung zum Fotografieren bekommen hast?
Ja, da gibt es einige (lacht). Scheitern ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit, das heißt für mich vor allem, keine Erlaubnis zu erhalten. Sehr oft muss ich aufgeben, auch wenn ich schon Monate investiert habe. Gerade bei dem jüngsten Arktis-Projekt habe ich mir wirklich die Zähne ausgebissen. Nach Russland, als der Arktis-Player, war eine Reise lange geplant. Durch die Nähe zu Alaska braucht man aber, zusätzlich zum Visum, ein Special Permit. Es dauerte Monate, bis es mir dann gelungen ist, es zu bekommen. Und dann, ein paar Tage vor der Abreise, waren wegen der Corona-Pandemie die Grenzen dicht, darauf folgte
praktisch im fließenden Übergang der Ukraine-Krieg und die aktuelle politische Situation in Russland. Es wäre zu riskant für mich, jetzt noch dorthin zu reisen.
Du musst unglaublich starke Nerven und viel Mut besitzen. Wie planbar sind Deine Fotoexkursionen, wie viel Unvorhergesehenes ist dabei?
Ich muss schon eine gewisse Flexibilität, trotz meiner genauen Planung im Vorfeld, mitbringen. Es gibt immer Situationen, mit denen ich nicht rechnen habe können, zum Beispiel, wenn das Zeitfenster zum Fotografieren kürzer wird, weil das Wetter umschwingt. Dann muss ich
sehr schnell reagieren, im Wissen, es nicht wiederholen zu können, das Ganze noch mit einer analogen Fachkamera macht es natürlich noch einmal spannender. Es darf dann einfach kein Fehler passieren. Das setzt mich im Vorfeld unter Druck, schon wochenlang vor diesen Reisen, weil ich nicht weiß, ob mein Vorhaben wirklich funktioniert, da die Rahmenbedingungen oft sehr unsicher sind. Gerade, wenn man in Konfliktzonen arbeitet, wo eine gewisse Willkür seitens des Militärs oder der Exekutive alles beeinflusst. Ich weiß oft nicht, ob es wirklich glückt, und das macht mich zuweilen verrückt.
Aus der Fotoserie und dem Langzeitprojekt „The Polar Silk Road“
Wie schaffst Du es, cool zu bleiben?
Es kostet wahnsinnig viel Energie, sich trotzdem auf das Wesentliche zu konzentrieren, diesem Druck nicht nachzugeben. In den Sperrgebieten kann man sich ja meistens nicht frei bewegen. Man hat immer seine Bewacher dabei. In Konfliktzonen sind diese auch immer bewaffnet. Das muss man alles ausblenden, diese Waffenpräsenz oder das Arbeiten unter enormem Risiko, wenn man sich zum Beispiel über Minenfelder bewegt und jeder Schritt der letzte sein kann.
Wo bist Du dabei an Deine Grenzen geraten?
Das Leben der Menschen, das mir auf meinen
Trips begegnete, etwa in Flüchtlingscamps, war katastrophal. Die hygienischen
Bedingungen waren unvorstellbar, allein die Nahrung, die die Leute zu
sich nahmen, war höllisch. Die Bilder haben sich mir
eingeprägt: die vielen Kriegsopfer,
auch diese „klassischen Bilder“ von hungernden oder
kranken Kindern mit Fliegen in den Augen, die bekomme ich wahrscheinlich nie mehr aus meinem Kopf.
Für seine Fotoexkursionen benötigt Sailer starke Nerven und viel Mut. So auch bei der Fotoserie „Closed Cities“, für welche er unter anderem nach Aserbaidschan auf die Oil Rocks (2011) gereist ist. Zu sehen ist die erste Offshore-Ölplattform der Welt. Die Serie zeigt Städte, die aus unterschiedlichen Gründen von Staaten und Militärs geheim gehalten werden.
Kannst Du uns von der gefährlichsten Situation erzählen, in die Du bei Deiner Arbeit geraten bist?
Das war in Aserbaidschan für mein „Closed Cities“-Projekt. Dafür war ich auch in Sibirien, Katar, Chile,
Algerien, der Westsahara und Argentinien. Der Begriff „geschlossene Stadt“ wurde
ursprünglich durch die Sowjetunion geprägt, auf deren Karten wurde die Existenz
zahlreicher Städte aus verschiedenen Gründen geheim gehalten. Ich unternahm zwei Reisen nach Aserbaidschan. Bei der ersten, ausgestattet mit allen notwendigen Genehmigungen, um auf „Oil Rocks“ in Baku zu arbeiten, so heißt die erste Ölplattform der
Welt. Damals war das Gebiet noch ein weißer Fleck auf Google Maps, also nicht eingezeichnet. Ich hatte das ein Jahr lang vorbereitet, aber bis zum Abflug wusste ich nicht, ob ich wirklich dorthin kann.
Ging es gut in Aserbaidschan?
Es gab sehr viel Schikane von diesen Sicherheitsleuten und dem Polizeiapparat. Es hat dann aber funktioniert. Am Festland hatte ich ein gigantisches, dystopisches, apokalyptisch wirkendes Ölfördergebiet entdeckt: tote Erde, alles komplett schwarz. Wenig Zeit, aber
super Fotos. Zu Hause angekommen, brachte ich die Aufnahmen ins Labor. Das hat den Film im Entwicklerbad vergessen. Alles war ruiniert, alles weg!
In AstaZero in Schweden (2016) sowie in Ufa in Russland (2016) schoss Sailer diese Fake-Town, aus der Serie „The Potemkin Village“.
Oh, Gott, der Super-GAU!
Ich bin dann ein zweites Mal, diesmal ohne Genehmigung, nach Aserbaidschan geflogen. Eine
Übersetzerin begleitete mich, und ja, leider ist es dann schiefgegangen, weil ich erwischt worden bin. Am Anfang denkt man sich, gut, diese üblichen Security-Typen wollen sich nur aufblasen. Irgendwann stand dann die Polizei vor mir, dann das Militär und irgendwann nur mehr Herren mit Anzügen. Ein Zeichen dafür, dass es wirklich ernst war. Die ganze Nacht Geheimdienst-Verhör: Pass weg, Handy weg, alles weg, und ja, ich war kurz vor der Inhaftierung.
Du lebst, Du bist frei, wie hast Du das geschafft?
Meine Übersetzerin hat mir irgendwie mit viel Überredungskunst den Kopf aus der Schlinge gezogen. Das war knapp. Das hat mir gezeigt: Halte Dich an die Bedingungen, lehne Dich nicht zu weit hinaus. Und pass auf, dass es sich nicht
herumspricht, was Du tust.
Eine letzte Message für uns?
Da, wo
ich fotografiere, herrschen oft totalitäre Regime, da ist nicht nur Krieg oder
wird dafür geübt. Da, wo ich fotografiere, steigt auch der Meeresspiegel, die Winde nehmen zu,
die Erosion wird immer heftiger, der Permafrost geht auf. Das sind Fakten.
Nicht mal reiche Staaten wie Österreich kommen annähernd an die Pariser Klimaziele heran. Das ist eine Schande. Meine Bilder regen einen Diskurs an,
diese Welt besser zu behandeln. Das ist, was mich treibt.
Der Tiroler Fotokünstler Gregor Sailer (geboren 1980 in Schwaz)
studierte in Dortmund Kommunikationsdesign und Fotografie. Er hat bereits den Joseph Binder Award und den St.-Leopold-Friedenspreis gewonnen. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, arbeitet und lebt
er in Vomp in Tirol. Er hat zahlreiche Bücher zu seinen Projekten
veröffentlicht und stellt international aus. Seine Fotos wurden bereits in
Monopol, New York Times, Wall Street Journal, art, NZZ, Geo, Tagespiegel, Wallpaper und vielen anderen Medien
publiziert.
Dieser Beitrag
entstand im Rahmen einer Kooperation von C/O Vienna Magazine mit
der Meisterschule der Graphischen Wien und wird außerdem in der C/O Vienna
Printausgabe Nr. 6 im Juni 2023 erscheinen.