Mediale Abstinenz und Hedonismus
Der Wiener Philosoph und Hacker Günther Friesinger lässt sich ab und zu lebendig begraben, um „echt mal allein und offline“ zu sein und hält den Weltrekord mit 27 Minuten. Zurzeit plant er ein Laufhaus und Escortservice für Kreative.
Antje Mayer: Was treibt Sie?
Wow! Ist das Ihr Ernst? Alles Bücher von Ihnen? Garantiert ohne Plagiat?
"Immer ist was da, Medien, andere Menschen, Geräusche: Im Sarg ist Ruhe!"
Ich auch, besser als heute. Sie sind so vieles. Wie soll ich da nur einen kurzen Subtitel für unser Interview finden?
Ach geh, es kommt immer auf den Kontext an. Ich bin Hacker, Autor, Philosoph, Künstler, Kurator und Produzent, Geschäftsführer der Künstlergruppe monochrom, Leiter des paraflows Festivals für digitale Kunst und Kulturen in Wien, Leiter des Arse Elektronika Festival in San Francisco, Produzent der Roboexotica, des komm.st-Festival in Anger und der Hedonistica in Montreal und Tel Aviv, Lehrender für Kulturmanagement, Produktion und Ausstellungsdramaturgie an verschiedenen Universitäten in Österreich und Deutschland, Coach, Consultant, Journalist, Programmierer und vor allem Möglichmacher...
Sie wirken trotzdem erstaunlich entspannt, sind Sie der Beweis für das Aussterben klassischer Berufe?
Ja, das ist traurig, da dadurch wertvolles – teilweise Jahrhundert Jahre altes – Spezialwissen verloren geht und die Werkzeuge dazu. Die Auflösung von Berufen ist im kreativen und akademischen Bereich bereits im vollen Gange. Die Wenigsten von uns haben einen fixen Job und hangeln sich von Projekt zu Projekt. Diese Welle schwappt in Zukunft auch in die anderen klassischen Berufssparten über: Berufe wie Schuster, Buchbinder, Schneider oder Hafner wird es nicht mehr geben. Das beschäftigt mich gerade: Wie arbeiten wir in Zukunft? 20 Prozent Arbeitslose ist meine Prognose.
Hoffentlich sind wir beide da nicht mit dabei!
Mein Team sorgt vor. Nächstes Jahr planen wir unser Projekt „Creative Class Escort“, ein Laufhaus für Kreative.
Da können sich Künstlerinnen und Künstler für eine Stunde Sex kaufen?
Da kannst du dir für eine Stunde eine Künstlerin oder einen Künstler mieten.
Um mit ihr oder ihm Sex zu haben?
Nein, er muss für dich kreativ sein. Du buchst eine Stunde Musik, Malen oder Tanzen. Ein Escortservice ist auch in Planung, um den Künstler oder die Künstlerin zu dir nachhause kommen zu lassen.
Bravo! Bisher verdienen alle Geld, viel Geld mit Kunst, nur meistens nicht die Kreativen selbst. Das Elend hätte ein Ende!
Es wird vom Ober ein Schokoladenkuchen mit Schlagobers serviert. Wir sitzen im WerkzeugH im 5. Wiener Bezirk. Viele alte Sofas, wuchernde Pflanzen, Studentenrunden, selbstgebastelt irgendwie alles. Günther Friesinger wollte sich hier treffen, weil er das Lokal, das 2006 aus einer urbanen Intervention von Architektur-Studierenden der TU Wien hervorgegangen ist, einst mit „möglich gemacht“ hat.
"Ich rate zu medialer Abstinenz."
Bevor Sie da reinbeißen, sollten Sie den Kuchen schnell noch auf Facebook posten, wie Sie es jeden Tag machen! Von einem wie Ihnen würde ich mir allerdings intellektuellere Posts erwarten...
Warum? Ich bin überzeugter Hedonist. Philosophie, Lebensfreude, Kochen und gut Essen gehört doch zusammen. Ich koche wegen einer Allergie seit drei Jahren fast jeden Tag selbst. Das Schöne daran ist außerdem, dass du in dem Moment nicht online sein kannst. Du musst dich ganz auf die Zutaten und die Handgriffe konzentrieren. Ich poste aber immerhin nur meine selbst gekochten Gerichte.
Stimmt es, dass Sie auch noch Bauer sind?
Ich war von der Diskussion über die Reglementierung von Saatgut im vergangenen Jahr so angestachelt, dass ich kurzerhand ein Feld in Niederösterreich gepachtet habe und dort jetzt Tomaten, Zucchini und Salat aus altem Saatgut von der Arche Noah in Schiltern anbaue.
Irgendetwas ein- und auszugraben machen Sie überhaupt ganz gerne. Auch sich selbst höchstpersönlich ...
Immer wieder gerne. Ich fühle mich in einem Sarg eingegraben sehr wohl und genieße die Stille und Ruhe dort. Ich halte den Weltrekord mit 27 Minuten. Ich hätte auch noch länger aushalten können, aber die oben wurden nervös. Zur Erklärung: 2005 haben wir von der Künstlergruppe monochrom, deren Geschäftsführer ich bin, das Kunstprojekt „The Experience of Being Buried Alive“ ins Leben gerufen, bei dem wir Menschen die Möglichkeit geben, sich 15 Minuten lebendig in einem Sarg begraben zu lassen.
Wie aufmerksam!
Ja, wenn Sie Lust haben, können wir nach Niederösterreich fahren und das mal machen!
Oh, danke für das großzügige Angebot! Hatten Sie dabei nie ein kleinwenig Angst?
Nein, es ist ruhig und warm. Es gibt die, die bei der ersten Schraube, die wir rein drehen, sofort wieder raus wollen, aber der größten Gruppe taugt es ungemein. Ich sage immer, es ist eine meditative Möglichkeit, mal allein zu sein, sich mit dem Tod und dem Ich auseinander zu setzen. Immer ist was da, Medien, andere Menschen, Geräusche, im Sarg ist Ruhe.
"In 20 Jahren wird es global mehr Kriege geben."
Angesichts dessen wirklich schade, dass man im Allgemeinen schon tot ist, wenn man begraben wird. Wie kommuniziere ich mit Oben?
Gar nicht, einige haben eine Webcam dabei, Handy ist natürlich auch möglich, manche schreiben einen Live-Blog aus dem Sarg, aber ich rate zu medialer Abstinenz.
Was ist der Sinn des Lebens?
Eine schwierige Frage, die sich im Leben jeder mal stellen sollte. Meine einfache Erkenntnis: Der Sinn des Lebens ist das Leben. Ich bin Atheist und ich glaube nicht daran, dass etwas danach kommt. Deswegen bin ich überzeugter Hedonist. Wer etwas in die Zukunft schiebt, hat das Leben nicht verstanden. Lebe jetzt! Ich bin Teil der Generation X, die mit dem Kalten Krieg und Tschernobyl aufgewachsen ist, mit dem Bewusstsein, jederzeit drückt einer auf den roten Knopf und buff ...
Als die Tschernobyl-Wolke über mein Elternhaus zog, war ich 14 Jahre ...
Ich war 12 Jahre. Sie verstehen mich also. Darf ich Ihnen anlässlich dieser biographischen Kongruenz das „Du“ anbieten.
"Ich wollte immer schon in den Weltraum reisen. Vielleicht schaffe ich es noch."
Gerne. Darf ich vertrauensvoll die Günther Friesinger-Voodoo-Puppe befragen: Wie sieht Wien in 10 Jahren aus?
Ich darf übersetzen: Sie sagt, dass Wien dann wieder zwei Millionen Einwohner haben wird, in 20 Jahren wird es global mehr Kriege geben und in 30 Jahre gibt es noch mehr Umweltkatastrophen. Wir können nichts mehr dagegen tun, der Zug ist abgefahren. In 60 Jahren steht eine Menschheit am Scheideweg und wir leben in einem Mad Max Szenario.
Schön, dass Du trotzdem so fröhlich bist. Wie wird sich Wien durch die digitale Entwicklung verändern?
Wien wird offener und transparenter werden, die Freunderlwirtschaft und das Insiderwissen werden aussterben. Gutes Beispiel ist das Wiener Baumkataster, eine Datenbank, in der circa 120.000 Bäume der Stadt nach Größe und Baumart verzeichnet sind. Cool ist die daraus entstandene App „Fruchtfliege“, Public Fruits for Everyone, ursprünglich ein Crowdsourcing-Projekt. Wiener Obstbäume auf öffentlichem Grund, deren Früchte – was die wenigsten wissen – jeder jederzeit ernten darf, sind dort abrufbar – geordnet nach Erntezeit, Fruchtsorte, Rezepte inklusive. Wien wird wieder von seinen Einwohnerinnen und Einwohnern erobert, nicht zuletzt dank der neuen digitalen Möglichkeiten.
Ich habe mal Flieder im Praterpark geklaut ...
Danke für Deine Offenheit. Es sei Dir verziehen, aber das ist, glaube ich, eher nicht erlaubt.
Warum erfinden zurzeit die Menschen soviel in Wien?
Sie erfinden nicht mehr, es wird nur sichtbarer. Früher hatte man seine Idee ins Patentamt getragen, heute macht man eine Crowdfunding Kampagne. Wien verzeichnete ja im 19. Jahrhundert schon einmal zwei Millionen Einwohner, deswegen ist der Zentralfriedhof so groß geplant worden. Um eine entsprechende Entsorgung der Verstorbenen gewährleisten zu können, erfand man zum Beispiel eine Rohrpostanlage für Leichen. Eine sehr abgespacte Idee, oder?
Nachhaltig geradezu. Apropos: Was fehlt Wien?
Eine Agentur für Zwischennutzung. Es gibt soviel Leerstand in Wien. Man muss dringend etwas tun. Das wurde auch im Übereinkommen der rot-grünen Stadtregierung festgelegt, aber bisher passiert viel zu wenig dahingehend.
Was liebst Du an Wien?
Die Multikulturalität.
Was macht Dich traurig?
Der Wiener Winter mit diesem dunklen Schatten über der Stadt und diese neue Volk 2.0-Bewegung und Initiativen wie #stolzdrauf! Das kotzt mich an.
Was wolltest Du immer schon machen?
In den Weltraum reisen. Vielleicht schaffe ich es noch – vor Mad Max.