Der Jeganer

Tierschützer & Jäger

Tierleid, die Zerstörung der Umwelt, Überdüngung von Böden und Verlust von Artenvielfalt sind der Preis für Fleisch aus Massentierhaltung. Bietet die Jagd eine Alternative? Wir haben uns mit Christopher Stoll unterhalten, einem Jeganer, der nur Selbsterlegtes isst und abseits davon auf tierische Produkte verzichtet.

Text: Antje Mayer-Salvi mit Lukas Perend

„Was du nicht kennst, das schieß nicht tot.“

Du hast ja eine sehr außergewöhnliche Biographie, einen veganen Jäger trifft man nicht alle Tage!

Ich habe immer schon sehr verbunden mit der Natur gelebt. Mit meinem Opa ging ich als Kind regelmäßig angeln, später bildete ich nebenberuflich Hunde aus und betrieb Bushcrafting, Überlebenstraining in der Wildnis. Die Jagd war der nächste logische Schritt. Im Zuge meiner Jagdausbildung war ich mir lange nicht im Klaren darüber, ob ich tatsächlich einmal den entscheidenden Schuss abgeben könnte. Wäre dazu nicht in der Lage gewesen, hätte ich komplett auf Fleisch verzichtet.

Was hast Du empfunden, als Du zum ersten Mal ein Tier getötet hast?

Das war in einem Revier am Stadtrand von Berlin. Es war ein wunderschöner Sommerabend und ich saß im T-Shirt auf dem Hochsitz. In der Abenddämmerung trat der Rehbock zum Äsen auf die Lichtung aus. Das Herz schlug mir bis zum Hals.  In dem Moment, in dem ich das Tier sah, anlegte und abdrückte, dachte ich an gar nichts. Da herrschte totale Konzentration, da gab es nur das Tier und mich, das war ein sehr elementarer Moment. Die Stille, die auf den Schuss folgte, war von der krassen Erleichterung geprägt, dass ich gut getroffen und alles geklappt hatte. Als ich vom Hochsitz stieg und den Rehbock im Gras liegen sah, war ich sehr euphorisch, wobei diese Euphorie oft mit einer Lust am Töten assoziiert wird. 

Euphorie!?

Tatsächlich ist das Abdrücken der unangenehmste Moment, und die Freude bezog sich eher darauf, dass alles gepasst und ich ein gutes Lebensmittel in meinen Besitz gebracht hatte. Ich war mit mir komplett im Reinen, hatte keine Zweifel. Für mich war klar: So will ich das zukünftig machen, mein Leben lang. Das war das erste Säugetier, das ich erlegt hatte, mit Fell und niedlichen Augen!

„Das erste Säugetier, das ich erlegt hatte, mit Fell und niedlichen Augen!“

Was waren die Gründe, Dich für eine vegane Lebensweise zu entscheiden?

Ab einem gewissen Zeitpunkt störte mich der Grad an Abstraktion, der mit dem Fleischeinkauf im Supermarkt einhergeht, dieser vom gesamten Prozess entkoppelte Akt des Konsums. Es kam mir schizophren vor. Auf der einen Seite konsumiere ich achtlos Fleisch, ohne mir bewusst zu sein, welches Tierleid dahintersteckt, aber mein Kaninchen und meinen Hund rühre ich nicht an. Diese fehlende Wertschätzung dem Tier gegenüber wollte ich nicht mehr, ich wolle mich in einen Kreislauf einreihen, innerhalb dessen es keine Ausbeutung von fühlenden Lebewesen gibt.

Es war also eine auf Empathie gegründete Entscheidung?

Absolut. Es ist keine empathische Dimension gegeben, wenn ich das Stück Fleisch an der Theke im Supermarkt bestelle. In dem Augenblick spielt es keine Rolle mehr, ob es sich um eine Banane, eine Kartoffel oder eben Fleisch handelt. Im Gegensatz dazu hat ein Jäger sehr wohl eine Beziehung zu dem Wild in seinem Revier, woraus auch eine ganz andere Wertschätzung gegenüber dem Lebensmittel Fleisch resultiert.

Wie fühlt es sich an, das Fleisch des Tieres zu essen, das man selbst erlegt hat?

Richtig gut. Nach meiner ersten Jagd fror ich das Fleisch ein und teilte eine Keule mit einer Bandsäge in dicke Streifen, um es auf den Grill zu packen. Der Moment, als ich es gemeinsam mit Freunden und der Familie aß, war ein sehr besonderer, das war nichts Alltägliches. Mich überkam sowas wie eine ethische Gelassenheit, einfach totale Zufriedenheit, ich hatte das Richtige getan. 

„Aha, Spaß am Tiere Töten?“

Wie hat Dein soziales Umfeld darauf reagiert, als Du Dich entschieden hast, Deine Lebensweise so radikal zu ändern und Jeganer zu werden?

Als ich die Entscheidung für die Jagdausbildung traf, war das Thema Jagd in der Gesellschaft bei weitem nicht so präsent wie heute. Ich kann mich erinnern, dass ich überlegt habe, ob ich meinem besten Kumpel überhaupt davon erzählen soll, weil er dem Thema gegenüber sehr kritisch eingestellt war. Tatsächlich war seine erste Reaktion: „Aha, Spaß am Tiere Töten?“ Heute stelle ich eine größere Toleranz fest, die sicher auch durch den öffentlichen Diskurs um Fleischskandale und unsere Ernährungsweise bedingt ist. Die Kombination aus Jagd und Veganismus trifft auf sehr positive Resonanz, der Back-to-the-roots-Aspekt spricht viele an.

Wie stehst Du zu Fleisch aus industrieller Massentierhaltung?

Das Tier, das durch die Jagd stirbt, kippt einfach um, es hat davor frei und selbstbestimmt gelebt und sich selbst mit Futter versorgt. Im Gegensatz dazu steht das Fleisch aus industrieller Massentierhaltung. Grundsätzlich würde ich allen Menschen ans Herz legen, sich mit den Aspekten des täglichen Lebens, wie eben der Ernährung, sehr intensiv auseinanderzusetzen. Wenn ich in den Supermarkt gehe und Fleisch kaufe, dann sollte ich mir auch überlegen, woher es kommt und welche Prozesse das impliziert. 

Kann eine archaische Praxis wie die der Jagd eine tragfähige Alternative für die Zukunft des Fleischkonsums bieten?

Nur mit Jagd den derzeitigen Fleischbedarf decken zu wollen, ist natürlich illusorisch. Die Anzahl der Reviere und damit der Jagdmöglichkeiten ist ganz klar limitiert. Was die Jagd in dem Kontext kann, ist als ein Impulsgeber zu fungieren. Sie kann Bewusstsein schaffen und helfen über die Modalitäten des Fleischkonsums nachzudenken, sowie ein damit verbundenes „Weniger“.

„Die Natur kennt keine Ausreden.“

Welchen Werten fühlst Du Dich verpflichtet?

Die Jagd verfügt über einen sehr ausgeprägten Ethikkodex, auch „Weidgerechtigkeit“ genannt. Vieles daraus ist gesetzlich festgelegt, zum Beispiel, dass man ein bestimmtes Kaliber für bestimmtes Wild verwendet, um eine entsprechende Tötungswirkung zu erzielen. Oder, dass keine führenden Tiere geschossen werden, um die von den Elterntieren benötigten Zeiten für die Aufzucht nicht zu gefährden. Die Einhaltung dieser Bestimmungen ist für mich eine absolute Selbstverständlichkeit. 

Gibt es auch ungeschriebene Regeln, die sich ein Jäger selbst auferlegt?

Mein Mantra lautet: Was du nicht kennst, das schieß nicht tot. Wenn ich mir nicht absolut sicher über Alter und Sozialstruktur bin, dann bleibt der Finger gerade. Ich möchte außerdem für möglichst wenig Beunruhigung der Fauna und Flora sorgen, wenn ich mich als Mensch im Revier aufhalte und wenn ich ein Tier getötet habe, möglichst viel davon verwerten. Das nicht zu tun wäre für mich ein Ausdruck von Respektlosigkeit. Nachdem man ein Tier geschossen hat, gibt es außerdem Rituale wie das Innehalten und den „letzten Bissen“ (Anm. d. Red.: Als „letzter Bissen“ wird ein abgebrochener Zweig bezeichnet, der dem Tier als Ausdruck der letzten Ehre ins Maul gelegt wird.). 

Initiativen und Plattformen wie PETA, Deutschlands größte Tierrechtsorganisation, bezeichnen die Jagd als unnötig, kontraproduktiv und grausam. Wie positionierst Du Dich in diesem Diskurs?

Tierschützer und Jäger haben beide das Tierwohl als Anliegen und sind mit der Massentierhaltung nicht einverstanden. Ich bedauere, dass es relativ wenig konstruktiven Austausch zwischen diesen beiden Lagern gibt. Initiativen wie PETA erheben unter anderem den Vorwurf, Jäger würden Tiere füttern, um mehr Tiere schießen zu können. Das würde ich gerne entkräften. Füttern ist per Gesetz verboten. Ich kenne keinen Jäger, der bewusst gegen das Jagdgesetz verstoßen würde.

„Tierschützer und Jäger haben sehr ähnliche Anliegen.“

Ein anderes Argument der Tierschützer ist, dass Jagen obsolet sei, da sich die Natur selbst reguliere. Was sagst Du dazu?

Tatsächlich ist es so, dass unangetastete Natur de facto nicht existiert. Der Mensch hat in Mitteleuropa überall eingegriffen und eine Kulturlandschaft geschaffen. Zu glauben, die Natur reguliere sich in Kulturlandschaften von alleine, ist illusorisch. Natur- und Artenschutz sind integrative Bestandteile der Jagd.

Wonach sehnst Du Dich, wenn Du an die Jagd denkst?

Ich würde das als eine Sehnsucht nach Authentizität bezeichnen, ein Bedürfnis nach dem Echten und Ehrlichen, der Wunsch, sich in einen natürlichen Kreislauf einzureihen. Die Natur kennt keine Ausreden. Das war auch der Grund, warum ich meinen damaligen Job gekündigt und mich der Jagd verschrieben habe.

Verrätst Du uns zum Schluss Dein bestes Wildrezept?

Was die klassischen Wildrezepte betrifft, mag ich total gern Wildbratwürste vom Reh. Da habe ich auch einen Life-Hack parat. Ich mische Rote Bete oder Sellerie unter das Wildfleisch, bevor es in den Fleischwolf kommt. Die Rote Bete gibt Flüssigkeit an das Fleisch ab und verhindert, dass das Fleisch beim Grillen zu trocken wird.

Vielen Dank für das Gespräch. Weidmannsheil!

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Kooperation mit der Meisterschule der Graphischen Wien. 
 

Christopher Stoll ist Wirtschaftswissenschaftler, Experte im Bereich digitale Bildung und ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität St. Gallen. 2019 hat er seine wissenschaftliche Karriere hinter sich gelassen und die Jägerschmiede, eine Online-Lernplattform zur Unterstützung der Jagdausbildung, gegründet. Daneben widmet er sich seither vor allem der Öffentlichkeitsarbeit und Wissensvermittlung im Bereich Jagd.

Der Organsammler

Text: A. Mayer-Salvi mit P. Dalitz, R. Hellmich, R. Korb, A. Pobuda

Der Narrenturm in Wien, das pathologisch-anatomische Bundesmuseum, ist nichts für empfindliche Mägen. Es bildet ein grotesk anmutendes Sammelsurium pathologischer Präparate, deformierter Knochen und in Formaldehyd konservierter Fehlbildungen und Organen. Es ist der schön-schaurige Arbeitsplatz von Sammlungsleiter Eduard Winter, seines Zeichens auch Elektropathologe, Spezialist für Schäden in lebenden Organismen, die durch die Auswirkungen elektrischen Stroms verursacht werden. Wir sprachen mit ihm über die tödlichen Folgen falscher Ernährung, eine 30 Kilo schwere Alkoholiker-Fettleber und seinen Ekel vor Billigfleisch und Kochsalat.

Der Spoerri

Text: Antje Mayer-Salvi mit Karin Weinhandl

Der 91-jährige Schweizer Künstler Daniel Spoerri schrieb sich mit seinen berühmten Fallenbildern, Momentaufnahmen des Alltäglichen und des Konsums, in die Kunstgeschichte ein. Ein launiges Gespräch über seine Wahlheimat Wien und seine Faszination für Sparschäler.


Der Wurmfarmer

Text: Antje Mayer-Salvi mit Stella Wendtlandt

Der junge Kärntner Bauer Andreas Koitz betreibt keine Landwirtschaft mit Feldern und Kühen, sondern züchtet Würmer. Wir besuchen ihn auf seinem Bergbauernhof und fragen nach, wie man Insekten erntet und aus ihnen eine gute Mehlwurmspeise bäckt.