Der Legospieler

Von matschigen und weichen Materialien

Jérémie Palacci ist Physiker und arbeitet am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg. Sein Spezialgebiet? Weiche Materie – alles, was squishy ist – so wie Götterspeisen oder Shampoos. Palaccis Forschungsgruppe mit dem lautmalerischen Namen Materiali Molli Lab macht aber noch mehr: Aus Bausteinen, die hundertmal kleiner als ein Haar sind, stellt sie kleine Lego-Maschinen her. Klingt abgefahren – ist es auch! Die Artworks zum Interview sind von der niederländischen Künstlerin und Fotografin Viviane Sassen.

Text: Bernardo Vortisch, Fotos: Mia Meus, Artwork: Viviane Sassen

„Warum sollte man etwas tun, das schon andere tun?“

Bernardo Vortisch: Erkläre bitte einem Laien wie mir Deine Arbeit ganz einfach!

Jérémie Palacci: Wenn man sich den biologischen Aufbau von Menschen anschaut, beginnt alles mit Molekülen. Die bilden kleine Bausteine, so wie Lego, aus denen sich dann wiederum größere Strukturen zusammensetzen. Einige von ihnen sind zum Beispiel kleine Proteinmotoren, die dafür sorgen, dass sich unsere Muskeln zusammenziehen können. Sehr oft brauchen diese Teile Treibstoff, und die Biologie weiß, wie man diesen am besten produziert. Sie baut diese winzigen Strukturen immer weiter zusammen, bis sie zu etwas Größerem werden, zum Beispiel zu einem Menschen.

Könnt Ihr diese „Bio-Baustellen“ im Labor synthetisch nachahmen?

Was die Synthetik betrifft, so stehen wir noch ganz am Anfang. Meine Gruppe versucht, aus Bausteinen, die hundertmal kleiner als ein Haar sind, kleine Lego-Maschinen herzustellen. Die Idee ist, sie so zusammenzusetzen, dass sie sich gegenseitig selbst erkennen und sich selbständig zu neuen Strukturen zusammensetzen können. Unser besonderes Know-how besteht darin, sie mit kleinen „Motoren“ auszustatten, sodass sie Treibstoff verbrauchen und zu neuen Strukturen werden, die sich selbst bewegen und Funktionen ausführen können.

„Biologie ist ein System von Maschinen. Wie Lego Technic.“

Es ist also eher wie Lego Technic, richtig?

Ja, Lego Technic.

Ist es das, was eine Metamaschine ist?

Einige sagen, dass eines der Hauptmerkmale der Biologie darin besteht, dass sie aus Maschinen besteht, die wiederum aus Maschinen bestehen: Metamaschinen. Die Biologie macht nicht auf einmal etwas sehr Kompliziertes und Komplexes, sondern man hat in der Regel viele kleine Bausteine und baut dann immer mehr von diesen Bausteinen zu Dingen zusammen, die noch mehr Dinge tun können. Biologie ist ein System von Maschinen. Es gibt ein tolles Zitat von Leibniz, das besagt, dass das Leben aus Maschinen bestehe. Ich definiere den Organismus oder die natürliche Maschine als eine Maschine, bei der jedes Teil eine Maschine ist, während die Teile unserer künstlichen Maschinen keine Maschinen sind.

Apropos Legos und Bauklötze: Warst Du schon als Kind so neugierig?

Für mich ist meine Neugierde der Hauptantrieb. Um ehrlich zu sein, bin ich ein wenig überrascht, wie engstirnig die Menschen in der Wissenschaft manchmal sind. Ich besuche mit dem gleichen Vergnügen eine Kunstausstellung, wie ich in einen wissenschaftlichen Vortrag gehe. Was in anderen Berufen als Zeitverschwendung gilt, ist für mich von zentraler Bedeutung: Mir die Zeit zu nehmen, um mir Dinge anzuschauen, die anders sind, und Neues zu lernen, ohne mich immer zu fragen, ob ich es in meine Arbeit einfließen lassen kann oder nicht.

„Ist Mayonnaise fest oder flüssig?“

Das heißt: Du kannst machen, was Du willst?

Neugierig zu sein bedeutet nicht, dass ich tun kann, was ich will, vor allem, weil unsere Arbeit hauptsächlich mit öffentlichen Mitteln finanziert wird. Wenn ich an einem Thema arbeiten möchte, das nur mich interessiert, kann ich das in meiner Freizeit tun. Es ist als Wissenschaftler sehr wichtig, Förderanträge zu schreiben. Wenn man keine fünf Leute in seinem Bereich findet, die sich für das interessieren, was man erforschen will, sollte man vielleicht doch etwas anderes machen.

Ein weiterer zentraler Teil Deiner Forschung sind biomimetische Organismen. Klingt kompliziert. Kannst Du mir kurz erklären, was das ist?

Es bedeutet, dass wir versuchen, die Biologie zu imitieren. Ein Tintenfisch kann zum Beispiel seine Farbe ändern und sich tarnen. Wenn ich einen biomimetischen Ansatz dafür wähle, versuche ich, Materialien herzustellen, die in der Lage sind, Farben in ihrer Umgebung zu imitieren, indem ich biologische Elemente verwende, vielleicht einige Pigmente vom Tintenfisch finde und sie in ein künstliches System integriere. Es gibt auch den bioinspirierten Ansatz, bei dem man sich von der Biologie inspirieren lässt, sich aber völlig von den biologischen Mechanismen befreit, man will nur das gleiche Ergebnis.

Das klingt ziemlich abgefahren! Das Feld der weichen Materie erlebt in der Physik seit annähernd 30 Jahren einen akademischen Boom?

Das Überfeld heißt „Physik der kondensierten Materie“. Sie untersucht den Bereich, wo sich ein Stoff anders verhält, wenn man viele Moleküle davon auf engem Raum einsetzt. Eine Menschenmenge hat nicht die gleichen Eigenschaften wie ein einzelner Mensch. Einer ist nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich, sondern für ein System, das kollektiv reagiert. Dies ist das gesamte Gebiet der Physik der kondensierten Materie. Es gibt die harte kondensierte Materie, bei der es sich in der Regel um Elektronen, Magnete und ähnliche Materialien handelt, und das Gegenstück, die weiche kondensierte Materie, bei der man sich mit matschigen und weichen Materialien beschäftigt.

„Marmelade, Shampoo, Götterspeisen.“

Welche Art von Materialien könnte das sein?

Marmelade, Shampoo, Götterspeisen und alle diese Dinge. In der Schule lernt man, dass eine Flüssigkeit die Form des Behälters annimmt und ein Feststoff seine eigene Form beibehält, so unterscheidet man sie.

Ist das nicht richtig?

Dieses einfache Bild von „Diese Dinge sind fest, andere Dinge sind flüssig.“ ist nicht immer richtig. Nehmen wir Mayonnaise: Ist sie fest oder flüssig? Wenn man sie in ein bärenförmiges Förmchen gibt, nimmt sie die Gestalt des Bären an. Wenn man sie auf einen Teller stürzt, behält sie ihre Form wie ein Feststoff bei. Aber sobald man mit einem Löffel darauf drückt, fließt es heraus. Ein anderes Beispiel sind Flüssigkristalle, wie sie in alten Displays verwendet werden. Du kannst Dich erinnern, dass die Kristalle sehr langsam wurden, sobald Du Dein Telefon früher in der Kälte benutzt hast. Es genügt, die Temperatur nur ein wenig zu ändern, von 20 auf 5 Grad, was in der Physik nicht viel ist, und schon verhalten sich die Kristalle anders. Wir arbeiten im Labor bei Raumtemperatur. Alle diese kleinen Materialien können ihre Eigenschaften ändern, indem man relativ wenig mit ihnen macht.

„Alles, womit wir arbeiten, beginnt bei einem Mikrometer.“

Kannst Du mir sagen, was ein Kolloid ist? Bezieht sich das auf die Größenordnung der Dinge, an denen Du arbeitest?

Ein Kolloid ist alles, was zwischen zehn Nanometern und ein paar Mikrometern liegt. Es ist so klein, dass es hin- und herwackelt, wenn man es in Wasser taucht und es auf Wassermoleküle trifft. Willst Du etwas selbst zusammenbauen, musst Du die Bausteine Deiner Legos so vorbereiten, dass sie sich gegenseitig finden können. Es kann jede Form, jedes Material sein.

Wie kann ich diese kleinen Teile sehen? Mit einem Mikroskop?

Ja! Diese Dinger sind etwa ein Mikrometer groß. Mit dem Auge kann man etwa 200 Mikrometer sehen, das ist die Dicke eines einzelnen Haares. Alles, was darunter liegt, ist zu klein, deshalb verwenden wir ein Mikroskop, das bis zu 500 Nanometern arbeitet. Alles, womit wir arbeiten, beginnt bei einem Mikrometer, das wir dann zu größeren Dingen zusammensetzen, bis hin zu ein- bis zweihundert Mikrometern, sodass wir alles mit einem optischen Mikroskop abdecken.

Wie könnte man Eure Forschungsarbeit in ferner Zukunft anwenden?

Wir machen uns nicht wirklich Gedanken über die tatsächliche Anwendung, das ist nicht, was wir anstreben. Es ist auch zu erwarten, dass diese Art von Materialien Energie auf sehr merkwürdige Weise ableiten und ein wirklich seltsames mechanisches Verhalten zeigen, je nachdem, in welche Richtung man sie drückt.

„Ich mag Einfachheit.“

Wir werden also nie in der Lage sein, zum Beispiel einen lebenden Computer daraus zu machen?

Es gibt Leute, die versuchen, mit salzhaltigem Wasser und Nanofluidik [Anm.: winzige Wasserströme auf der Nanometerskala] neuromorphes Computing zu betreiben, was genau dem entspricht, was die Biologie tut, damit das Gehirn funktioniert. Sprich, ein bisschen Salz und Nanoporen zwischen den Zellen. Das kann man machen, aber das ist nicht das, was wir tun.

Kann ich Deine kleinen Metamaschinen und biomimetischen Organismen nutzen, um Kunst zu schaffen? Kann ich etwa ein sich selbst zusammensetzendes Gemälde anfertigen, das wie ein Organismus funktioniert?

Das hängt davon ab, was Du mit ihnen tun willst. Wenn man sie auf eine Leinwand setzen würde, würden sie eine Bahn ziehen und sich auf eine bestimmte Weise über die Leinwand bewegen. Einer der Hauptgründe für unsere Arbeit ist für mich der visuelle Reiz. Es ist sehr wichtig für mich, dass die Arbeit visuell zufriedenstellend ist.

Theoretisch könnte ich eine Farbe herstellen, die auf diese Weise funktioniert, sie auf eine Leinwand auftragen, die dafür leitfähig ist, und sie könnte so reagieren, ähnlich wie ein Lebewesen?

Ja. Einer der Gründe, warum sich diese Teilchen bewegen, ist zum Beispiel, dass sie Treibstoff verbrauchen. Ich könnte mir vorstellen, dass man sie auf ein Trägermaterial legt, und das reagiert auf einige der Reaktionsergebnisse. Dann könnte man sie ihr Ding machen lassen und sie gleiten lassen, so dass man den Abdruck jedes einzelnen dieser Teilchen als Muster auf der Leinwand hätte. Einige Forscher in San Diego haben etwas Ähnliches gemacht, wobei das Ergebnis der Studie darin bestand, dass sie erfolgreich ein einziges Wort geschrieben haben.

„Bei uns wird sehr viel gekocht.“

Man könnte diese Teilchen sogar dazu bringen, einen Text zu schreiben? Das ist ja verrückt!

Das wäre zwar massiv anstrengender, als etwas einfach selbst zu schreiben (lacht). Da bräuchte man nämlich sehr viele Ressourcen, aber ja, man könnte es.

Kann uns Deine Forschung etwas über den Ursprung des Lebens sagen?

Die Leute, die sich mit dem Ursprung des Lebens beschäftigen, suchen in der Regel nach den minimalen Zutaten, die Leben entstehen lassen, während es bei uns eher darum geht, wie selbstständig ein synthetisches System agieren und wie intelligent es sein kann. Also das Gegenteil. Wir sind im Labor sehr weit von dem entfernt, was Leben kann. Selbst der dümmste organische Organismus ist unserem fortschrittlichsten synthetischen Organismus noch weit voraus, aber die Regeln sind dieselben. Es gibt also keinen Grund, warum wir nicht dorthin gelangen könnten. Unsere Herausforderung besteht darin, eine Lücke zu schließen und zu versuchen, einen Punkt zu erreichen, an dem sich unser lebloses System einem lebendigen System annähert.

Kochst Du gerne?

Bei uns zu Hause wird sehr viel gekocht. Ich glaube, dass man am häufigsten neue Ideen oder Lösungen für Probleme findet, während man sich ablenkt. Joggen zu gehen oder einen Film anzusehen sind für mich das Beste. Oft muss das Problem, an dem man arbeitet, nämlich eingebremst und auf später verschoben werden. Es gibt viele Überschneidungen zwischen weicher Materie und der Kochkunst. Ein sehr berühmter Wissenschaftler in Harvard, David Weitz, ermöglichte Chefkoch Ferran Adrià vom berühmten Restaurant El Bulli eine Residency. Während der hielt jener dann einen Kurs über die Physik und Chemie des Kochens. Wenn man Slow Food und 70-Grad-Eier kocht, die immer flüssig bleiben, ist das nichts anderes als die Beschäftigung mit weicher Materie.

„Slow Food und 70-Grad-Eier“

Bist Du ein experimentierfreudiger Koch?

Nun, ich mag es lieber, wenn die Dinge einfach sind. Ich glaube nicht, dass es wirklich kompliziert sein muss, wenn es gut werden soll, also mit vielen Schritten und Zutaten. Oft denken die Leute: Wenn es kompliziert sei, wäre es besser. Ich glaube, es gibt nur einen geringen Zusammenhang zwischen dem Schmerz, den man sich selbst zufügt, und dem Ergebnis. Einfaches Kochen erfordert viel Fachwissen. Eine Sache, die ich erst kürzlich gelernt habe, ist, dass eine Antihaftpfanne unnötig ist. Eine große gusseiserne Pfanne reicht aus. Sobald man nämlich will, dass etwas gut schmeckt und außen schön knusprig ist, macht man die Pfanne einfach richtig heiß, dann brennt es nicht an. Das ist das Steakrezept-Prinzip.

Wie wichtig ist Kreativität für Deine Arbeit?

Was wir als Forschungsgruppe machen, ist schon sehr originell. Darauf bin ich stolz. Wir sind darauf trainiert, Dinge zu tun, die anders und neu sind. Dieses Teilgebiet der „Lego-Technik“ und der Mikrokolloide wird „Aktive Materie“ genannt, und es ist seit weniger als 15 Jahren ein boomendes Gebiet. Leider ist es oft von inkrementeller, repetitiver Arbeit geprägt. Eines der Ziele unseres Labors ist es, Dinge zu tun, die ein wenig abseits des Marktes liegen, einzigartig und anders sind. Dieser kreative Touch und die Originalität sind für uns sehr wichtig: Warum sollte man etwas tun, das schon andere tun?

Vielen Dank für das Interview!

Jérémie Palacci ist Physiker und forscht mit seinem Materiali Molli Lab seit Jahren zum physikalischen Teilgebiet der weichen Materie. Seine akademische Laufbahn führte ihn nach seiner Promotion zu eben diesem Thema an der École Normale Supérieure Lyon, seine Karriere brachte ihn nach New York (NYU), San Diego (UC) und schließlich zum ISTA, Institute of Science and Technology Austria, in Klosterneuburg, an dem er eine Professur innehat. Informationen und Updates zu seiner Arbeit findet man auf der Website seiner Forschungsgruppe.
Viviane Sassen ist eine international bekannte niederländische Künstlerin und Fotografin, die nicht nur im Kunst-, sondern auch im Modebereich arbeitet. Die Artworks in dieser Story stammen aus ihrem aktuellen Buch Modern Alchemy, eine Kooperation mit dem italienischen Philosoph Emanuele Coccia, erschienen bei JBE Books
vivianesassen.com

Die Erklärer

Text: Bernardo Vortisch

Christian Bertsch und Mia Meus, Institute for Science and Technology Austria

Verstehen wir die hochkomplexe und spezialisierte Forschung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern noch? Warum trauen so viele Menschen Verschwörungstheorien mehr als Fakten? Wir diskutieren mit Christian Bertsch und Mia Meus vom Institute of Science and Technology Austria darüber, wie es gelingen kann, Laiinnen komplizierte Dinge einfach zu erklären, und warum Kunst dafür ziemlich gut geeignet ist.
 

Der Narbenforscher

Text: Julia Bauereiß, Fotos: Hilde van Mas

Wir alle tragen Narben – sie erzählen uns bewegende, tragische und inspirierende Geschichten. Wie sähe eine Welt ohne Narben aus? Wie wäre es, wenn wir bei einem Unfall eine Gliedmaße verlieren, die uns von selbst nachwachsen könnte? Wir sprechen mit dem Narbenforscher Yuval Rinkevich, Direktor des Instituts für Regenerative Biologie und Medizin am Helmholtz Zentrum München, über sein bahnbrechendes Projekt ScarLessWorld und eine Zukunft, in der wir Menschen uns vielleicht selbst heilen könnten. 

Zellen die Narben generieren können bei einem Embryo unter dem Mikroskop