Der Protest

Architektur wird Widerstand

„Proteste müssen stören, sonst sind sie wirkungslos.“ Um Barrikaden, Camps und Sekundenkleber geht es in der neuen Ausstellung Protestarchitektur im MAK in Wien (bis 25.08.2024). Wir sprachen mit dem deutschen Künstler Stephan Mörsch, der sich mit einer Baumhaussiedlung im Hambi, dem Hambacher Wald, auseinandersetzt. Demonstrierende wollten dort die Bäume vor der Abholzung für den Braunkohleabbau schützen und entwickelten eine ziemlich clevere Methode des – architektonischen – Widerstands. 

„Ich bin sehr stolz auf die heutige Generation!“

Elisa Promitzer: Was bedeutet Protest für Dich persönlich?

Stephan Mörsch: Grenzen ausloten. Ich bin sehr stolz auf die heutige Generation, weil sie out of the box denkt und sich traut, „Stopp“ zu rufen. Freiräume zu denken und umzusetzen – das ist Protest. 

Leistest Du auch zivilen Ungehorsam?

Ich komme aus der Zeit der Postpunk-Bewegung und Hausbesetzungen – ich fühle mich im Protest zu Hause. Ohne diesen Hintergrund könnte ich meine Projekte nicht umsetzen. Ich bin noch immer aktiv und baue, nicht im Wald, aber teilweise bei anderen Aktionen mit. Es geht nicht mehr nur um Antifaschismus oder um selbstorganisierte Lebensformen. Was sich durch die Klimabedrohung auftut, stellt eine gesamtmenschliche Problematik dar.

„Proteste müssen stören, sonst wären sie wirkungslos“, so die Kuratoren Oliver Elser und Sebastian Hackenschmidt. Wie passen Architektur und Protest zusammen?

Ich suche in allen meinen Projekten Architektur, die über soziale Krisen berichtet. Zum Beispiel gibt es aktuell einen Wald in der Türkei, der seit zwei Jahren besetzt ist. Das Problem ist ähnlich dem im Rheinland im Hambacher Wald: Bergbau und der damit einhergehende Umzug von Dörfern. Diese Menschen in der Türkei wissen genau, was im Hambi passiert ist. Insofern geht es darum, dass man voneinander lernt und Informationen weiterreicht. Natürlich darf man hierbei nicht vergessen, dass man das Privileg der Sicherheit und Meinungsfreiheit wie in Deutschland nicht weltweit genießen kann.

13 Protestaktionen zwischen 1830 und 2023 aus Ägypten, Brasilien, Deutschland, Hongkong, Indien, Österreich, Spanien, der Ukraine und den USA werden im MAK gezeigt. In Hongkong und bei „Occupy New York“ entstanden Zeltstädte, in Kiew wurde der Majdan zu einer Festung aus Barrikaden und in Delhi dauerte eine Autobahnblockade mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen, die zu Häusern umgebaut wurden, ganze 16 Monate.

Ich finde es gut, dass internationale Proteste gezeigt werden. Besonders faszinierend finde ich die Verschiebung der Ästhetik. Was mit einfachen Strukturen aus Plastik und Zelten begann, etabliert sich zu komplexen Architekturen.

„Diese Art des Protests ist bahnbrechend.“

Was ist das Ziel dieser Ausstellung?

Es geht um die Einnahme von Raum im Kontext von Protest. Es geht um unterschiedliche Protestformen, ihre Architektur, Strategien und Methoden. Worum es nicht geht, ist Politik.

Und doch wurden zum Großteil Case Studies mit linken Inhalten ausgewählt. Kann eine Ausstellung über Protest wirklich unpolitisch sein?

Ich bin der Meinung, dass man rechte Proteste noch tiefer betrachten hätte müssen, um die Ausstellung als politisch neutral betiteln zu können. Allerdings bauen die auch weniger. Zum Beispiel gibt es im Osten von Deutschland einige Dörfer, die von rechten Kräften aufgekauft wurden. Da werden lieber ganze Bauernhöfe erworben, anstelle dass etwas Neues gebaut wird. In Deutschland hat man zwar die AfD, die auf lokaler Ebene versucht, in die Kulturpolitik einzugreifen, aber das steht noch am Anfang. Ein Spielraum ist noch vorhanden. Dazu kommt, dass die Kunst im Rheinland schon immer sehr politisch war. Als ich jung war, gab es autonome Zentren für Kunstförderungen. Die Tradition für linke Inhalte ist da! Diese sind oft einfach intelligenter, lebensbejahender und bunter.

Dein Hängemodell des Barrios „Beechtown“ ist ein 1:10 maßstabgetreuer Nachbau der gleichnamigen Baumhaussiedlung, die im Zuge der Besetzung des Hambacher Walds entstanden ist. Aktivistinnen kämpften gegen den Braunkohleabbau und für die Erhaltung des Waldes. Für den Klimaschutz. Warum hast Du Dich dafür entschieden?

Als die Besetzung im Jahr 2012 begann, war mir bereits klar, dass diese Art des Protests bahnbrechend ist. Vor der Räumung im Jahr 2018 gab es im Hambi insgesamt zwölf Barrios, sprich kleine Dörfer. Das Besondere ist, dass die Aktivistinnen wortwörtlich in die Höhe gegangen sind. In dem Barrio „Beechtown“ haben nur drei Menschen gewohnt. Um die Komplexität dieser Architektur als Ganzes wahrnehmbar zu machen, eine Art Denkmal zu kreieren, beschloss ich, ein Modell davon zu bauen. „Beechtown“ ist aus einem Guss. Der höchste Punkt guckte oberhalb der Baumwipfel empor. Aber nicht alles ist positiv: In diesem Barrio starb leider auch der Journalist Steffen Meyn während der Räumung. Man merkt schnell, dass sich viel Geschichte hinter diesem Barrio versteckt.

„Wir sind noch nicht fertig.“

Die Bäume fehlen bei Deinem Modell ...

... um den Fokus auf das Wesentliche zu legen. Der Maßstab 1:10 ermöglicht es mir, alles möglichst naturgetreu nachzubauen. Beton ist Beton, Holz ist Holz, Metall ist Metall. Selbst die Knoten sind realitätsgetreu. Ich habe ein dreidimensionales Knotenbuch kreiert, theoretisch eine Anleitung für die nächste Besetzung. Ich startete mit der Rekonstruktion 2018 nach der Räumung, als die Strukturen nicht mehr existierten, um der Öffentlichkeit und der Polizei keine internen Informationen ungewollt zuzuspielen. 

So wie die gesamte Ausstellung als Anleitung dienen könnte. Man möge zur Weiterbildung im Widerstand ins MAK kommen!

Wir sind noch nicht fertig. Im MAK steht nicht nur mein 1:10 maßstabgetreues Modell, sondern auch eine der letzten realen Brücken aus dem Hambi in Originalgröße.

Du bist Experte und beobachtest die Protestaktion im Hambacher Wald seit 2012. Wie hat sich der Protest entwickelt?


Ein Waldfest war die Initialzündung für die Besetzung. Die Pressefotos, die man vom Hambi kennt, haben nichts mit dem Beginn zu tun. Anfangs wollte man die Rodungspläne vom Energieversorgungskonzern RWE herausfinden, um strategisch jene Bäume zu besetzen, die als Nächstes gefällt werden sollten. Seit 2014/2015 fanden einmal im Monat sogenannte Waldspaziergänge statt, bei denen Menschen die Besetzerinnen im Hambi besuchten. Als Indigene aus Amerika ankündigten, den Hambi aufsuchen zu wollen, wurde mit viel Presse gerechnet und dementsprechend reagiert: Erstmals befestigte man Transparente mit Solidaritätsbekundungen mit den Kämpfen in Nord- und Südamerika auf zehn Meter Höhe. Also auch gut sichtbar für die Teilnehmenden der Waldspaziergänge. Diese Aktion brachte viel Aufsehen und zeigte das Wissen und den Willen zu Vernetzung mit internationalen Klimakämpfen.  

„Ein dreidimensionales Knotenbuch!“

Der Protest bekam ein architektonisches Gesicht ...

... das noch für viel Aufmerksamkeit sorgen sollte. Das PR-Potenzial wurde erkannt und die eigenen „Baunormen“ dementsprechend verändert. Man verzichtete auf Plastik und versuchte, ästhetisch schöne Gebäude zu bauen. Erst jetzt begann man so schöne Baumhäuser zu bauen – der Traum eines jeden Kindes entpuppte sich als perfektes PR-Tool. Ein wichtiger Part waren auch die Brücken, die es ermöglichten, ohne Bodenkontakt von Baumhaus zu Baumhaus zu gelangen.

Damit begann regelrecht ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizistinnen und Aktivistinnen?

Anfangs wurde noch mit Lock-ons gearbeitet: also sich bei der Räumung an bestimmten Stellen anzuketten. Fortan flüchtete beziehungsweise kletterte man von der Polizei davon. Was in der Ausstellung gar nicht vorkommt, ist das komplexe Tunnelsystem, das im Hambi im Barrio „Oaktown“ errichtet wurde. Die Polizei konnte ihr schweres Räumgerät erst nach Aufgabe des Tunnels in diesem Barrio vollumfänglich einsetzen.

Bergbau wurde wortwörtlich mit Bergbau bekämpft?

Ja, genau! Die größte Effektivität liegt in der Tiefe und der Höhe. Die Hütten sind auf 18 und 21 Meter Höhe, die allerhöchste auf 26,3 Metern. Und der Ausguck, der noch über den Wald hinausragte, lag auf 40 Metern. Durch die Bewegungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Baumhäusern und Plattformen kam die Polizei mit ihrer Strategie, mit Hebebühnen zu operieren, an ihre Grenzen. Sie sind in dieses Barrio dreimal erfolglos zum Räumen vorgefahren und beim dritten Mal kam es zum schrecklichen Unfall vom Journalisten Steffen, der die Räumung eines benachbarten Baumhauses filmen wollte, dabei abstürzte und starb.

„Die größte Effektivität liegt in der Tiefe und Höhe!“

Die Baumhaussiedlung ist architektonisch sehr beeindruckend. Wie ist sie entstanden?


Es gab keinen Bauplan und Material war Mangelware. Man band Bäume in Baumkronen fest, um eine Plattform zu generieren. Mit Stroh isolierte man Wände aus Paletten. Das war die Basis-Bausubstanz. Die Konstruktion der ersten Brücke ging von einem einzigen Menschen aus, der sein Wissen mit den anderen teilte. All das ist meistens nachts passiert, weil die Gefahr, tagsüber von der Polizei bei komplexen Bautätigkeiten auf dem Waldboden gestört zu werden, zu groß war.

Wie kommt man überhaupt in die Bäume?

Ganz oldschool mit Pfeil und Bogen. Man schießt ein Seil in die Baumkrone und beginnt zu klettern. Manche Menschen kletterten auch einfach so los – barfuß. Eine Brücke wurde sogar Einrad fahrend überquert. 

Selbst bei Protestarchitektur gibt es eine Bauordnung: Polizistinnen dürfen ab einer Höhe von 2,50 Meter keine „unsicheren“ Oberflächen betreten.

Ich persönlich habe das noch nie gehört, aber es kann sein, dass einige Polizeitruppen diesen Befehl hatten. Ich denke, das ist Ermessensspielraum eines jeden Einsatzes. Deshalb kommen die zuvor erwähnten Hebebühnen zum Einsatz, ganz selten auch Helikopter.

Wie bist Du an die genauen Maße und Pläne gekommen, um ein Modell davon nachzubauen?

Zwei Wochen vor der Räumung bekam ich einen wichtigen Datensatz an Bildmaterial von Aktivistinnen. Menschen flogen mit Drohnen durch die Häuser. Ich rekonstruierte sogar den Teppichboden mitsamt seinen Kaffeeflecken. Ich hatte das große Glück, dass Besetzende während Corona mich in meinem Studio besuchten und viele meiner Wissens- und Verständnislücken füllten.

„Gebaut wurde ohne Bauplan und nachts!“

Protestarchitektur spricht in Bildern. Welche Rolle spielt Social Media?

Ich selbst habe den Tod von Steffen live via Twitter mitbekommen. Ein trauriges, aber gutes Beispiel dafür, dass die sozialen Medien schon ein Tool sind, um den analogen Protest digital zu verbreiten und mit Emotionen und Informationen aufzuladen. 

Wie wichtig ist Anonymität?

Viele leben unter einem Pseudonym, um im Falle einer Festnahme nicht geahndet werden zu können. Nach deutschem Gesetz muss man nach drei Tagen wieder freigelassen werden. Kein Name bedeutet keine Anzeige.

Wie zielführend war der Protest?

Der Hambi war auf mehreren Ebenen ein Erfolg. Vielleicht nicht für den Wald, denn auch, wenn hier Braunkohle nicht länger abgebaut werden darf, ist das Ökosystem kaputt. Aber RWE, die Firma, die bei uns die Löcher buddelt und ein Dorf nach dem anderen verschwinden lässt, bekam einen Dämpfer. Der Konzern hat sich sehr clever in diese ganze Region seit 1920 eingekauft, indem er zehn Prozent seines Erlöses pro Jahr an sämtliche lokalen Kräfte verteilte. Dass die Vorhaben von RWE nicht nur verzögert, sondern in diesem Fall gestoppt werden konnten, ist ein Gewinn für die ganze Region. 

„Die Panik ist da und berechtigt.“

Im Titel der Ausstellung findet sich auch der Sekundenkleber. Werden Körper zu Ziegelsteinen?


Ich hätte das persönlich nicht in die Ausstellung integriert. Nur so viel: Die Panik ist da und berechtigt. Aber ich finde, dass die sogenannte „Ende-Gelände-Bewegung“ zum Beispiel, die parallel und auch aktuell passiert – etwa in der Lausitz in den Braunkohlegebieten im Osten Deutschlands, mit ihren Aktionen ein stärkeres Bild kreiert: Tausende Leute in weißen Kleidern rutschen einen Abhang hinunter, inszenieren quasi eine Schlachtenszene zwischen den unschuldigen, friedlichen Weißgekleideten und den in Schwarz gekleideten Polizeikräften. Und das Ganze wird mit Drohnenaufnahmen eingefangen. Aber das ist eine ästhetische Frage. Mehr kann ich dazu nicht sagen – ich habe eine Privatmeinung zur Klimakrise, aber keine künstlerische. 

Würden sich, wenn man Bier oder Schnitzel verbieten oder stärker versteuern würde, mehr Sympathisantinnen für den Protest finden?

Das ist ebenso eine Privatfrage: Bin ich Künstler oder Politiker? Aber auf den Hambi bezogen denke ich, dass eine große Menschenmenge den Protest begrüßte. Anfänglich besuchten circa 20 Leute jeden Sonntag den Hambi. Es endete in einer Demonstration von 50.000 Leuten. Das bedeutet, der Support vor Ort war und ist noch da. So auch in Lützerath, wo der Protest sogar im Winter begann. Die Menschen, die das Ausmaß, ein sechs mal acht Kilometer großes und 550 Meter tiefes Loch, live sehen, erkennen den Ernst der Lage.

Ist das Museum, der Ort des Establishments schlechthin, der richtige Ort, um Protestarchitektur auszustellen?

Natürlich, mein Ziel ist: vom Wald ins Museum. Nicht ich als Künstler stehe im Fokus, sondern der Protest und die Personen, die ihn aktiv führen. Aktivistinnen sind bei den Pressekonferenzen, wie hier in Wien, dabei. Die Mitnahme der Originalbrücke ist ein weiteres gutes Beispiel. 

„Abseits der kapitalistischen Realität existieren“

Die Besetzung ging über zehn Jahre. Waren manche Menschen dauerhaft dort?

Das war individuell. Unabhängig davon, wie lange man dort war, entzog man sich in jener Zeit der bürgerlichen Existenz. 

Verschwendete Jahre?

Ja, aber im positiven Sinne. Sie haben die Systemfrage erfolgreich gestellt und abseits der kapitalistischen Realität existiert. Das Interessante ist, dass Leute aus den unterschiedlichsten Verhältnissen aufeinandergestoßen sind. Arm traf auf großbürgerlich. Man muss sich diese „verschwendete Zeit“ auch leisten können, sowohl mental als finanziell. Es sind viele Spenden geflossen, um das zu ermöglichen. 

Wie war die Reaktion der Aktivistinnen auf Dein Modell?

Es flossen Tränen. Sie haben es selbst gebaut, es war ihr Zuhause. Vom einen auf den anderen Tag wurde dieses abgerissen. Sie glaubten, es nie wiederzusehen. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Ausstellung „PROTEST/ARCHITEKTUR: Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“ im MAK ist noch bis 25. August 2024 zu sehen. Alle Informationen, Bilder und ein Video finden Sie HIER.

Der deutsche Künstler Stephan Mörsch (1974) lebt und arbeitet aktuell in Berlin. Er studierte Bildende Kunst, Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literatur und Vergleichende Religionswissenschaften und kommt aus dem Rheinland, quasi direkt aus einem dieser Tagebaulöcher. Bereits als Kind ließ er sich von Modellbauten in Museen begeistern und fand in seiner Karriere später selbst zu dieser Kunstform. Zu Beginn seiner Tätigkeit hat er hauptsächlich gezeichnet. Seine Werke wurden in unterschiedlichen Museen und Galerien, unter anderem im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, im Museum für Gegenwartskunst Siegen, im Kunstmuseum Bonn und im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main gezeigt. Von 2012 bis 2018 unterrichtete er außerdem als Professor und Lehrbeauftragter für Raumstrategien an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin.

(dp)