Der Sven Regener

Eule der Minerva in der Dämmerung

Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener dichtet die schönsten Lieder für seine Band Element of Crime und schreibt Bestseller wie Herr Lehmann, die die tragische Komik oder die komische Tragik unseres Lebens beschreiben. Kürzlich brachte die Band ihr neues Album Morgens um vier heraus. Wir trafen Regener in Wien – zum Frühstück um zehn.

Text: Antje Mayer-Salvi, Fotos: Charlotte Goltermann, Maša Stanić

„Man kann sich das nicht alles schön trinken.“

Antje Mayer-Salvi: Guten Morgen! Euer kürzlich publiziertes Album heißt „Morgens um vier“. Zu dieser Tageszeit beginnt auch Dein berühmtes Buch und der gleichnamige Film „Herr Lehmann“. Der Protagonist torkelt im Morgengrauen von der Kneipe nach Hause, was in einer skurrilen Begegnung mit einem Hund mündet. Diesem Moment des Übergangs von Nacht zu Tag wohnt etwas Magisches inne!

Sven Regener: Er kann auch als bedrohlich empfunden werden, weil man in dieser Zeit manche Gedanken nicht loswerden kann, um vier Uhr morgens will schließlich kein Mensch aufstehen. Die Erde scheint stillzustehen, sogar in den großen Städten ist niemand unterwegs. Alles ist ruhig. Da kann man schon mal so richtig allein sein.

Dieses Motiv kommt immer wieder in Euren Liedern vor!

Es ist ein gutes Thema für Songs, weil man in dieser Zeit in einen Schwebezustand gerät. Nicht nur, wenn man auf dem Heimweg ist, sondern auch, wenn man um vier Uhr aufwacht und nicht mehr einschlafen kann. Da denkt man an anderes als am Nachmittag.

Hat der Titel auch etwas damit zu tun, dass man sich mit sechzig Jahren in einer ähnlichen Dazwischen-Lebensphase befindet – noch nicht alt, aber nicht mehr jung?

Ich hatte noch nie ein Alter, bei dem ich dachte, dass ich jetzt in einem soziokulturellen Biotop angekommen sei, in dem ich richtig dazugehöre. Für unsere Songs ist das gut. 1989 haben wir ein Stück herausgebracht, das „Waiting For The Morning Train“ heißt. Darin geht es um die erste U-Bahn, die erst um halb fünf morgens kommt. Ein anderes Lied aus dem Jahr 1996 handelt von dem ersten Morgengrauen, bevor die erste Straßenbahn fährt.

„Man hat nur eine richtige Band im Leben.“

In einem Eurer Lieder singst Du „Ich werd' nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier“. Bist Du heute weise?

So etwas über sich selbst zu sagen, wäre entweder Eigenlob oder Koketterie. Es geht auch gar nicht um Weisheit, sondern um Erfahrung versus Naivität. Was wir erleben, macht uns nur bedingt klüger. Wenn man jung ist, hat man eine ganz bestimmte Vorstellung von der Welt. Irgendwann stellt man fest, wie kompliziert und komplex das Leben ist. Durch mehr Erfahrung kann man auch ratlos werden.

Ich habe den Eindruck, dass Ihr mit Eurer Musik und der Band immer noch ziemlich viel Spaß habt. Stimmt das?

Ja, dass es Spaß macht, ist das Entscheidende. Dafür nimmt man die Herumfahrerei auf Tournee in Kauf. Man ist mal zwei Tage in Wien, dann fährt man in einem Bus weiter nach München. Alles wird neu aufgebaut, man macht den Soundcheck, geht ins Hotel. Das ist langweilig. Auf Tour ist jeder Tag wie ein Tunnel und am Abend kommt das Licht – das Konzert. Das ist alles, was mich interessiert. Ich mache auch kein Sightseeing, wenn wir touren.

Weil Du dafür keine Kraft mehr hast?

Ich muss mich auf das Konzert am Abend konzentrieren, für etwas anderes habe ich keinen Kopf.

Was ist der Zauber, der Euch als Band schon so lange zusammenhält?

Die Band gibt es seit 1985, aber nicht weil wir einen speziellen Zauber haben. Privat machen wir nicht viel miteinander. Was zählt, ist, dass es mit der Musik läuft. Wir schaffen es noch immer, gemeinsam neue Songs zu schreiben und Platten aufzunehmen. Wenn die Kunst lebendig ist, gibt es keinen Grund, das aufzugeben. Man hat nur eine richtige Band im Leben.

„Die Welt ist ein Scheißort.“

Hattet Ihr nie einen Tiefpunkt?

Neulich haben wir unseren Podcast „Narzissen und Kakteen“ rausgebracht, in dem es um die Geschichte der Band geht. Während der Arbeit daran habe ich gemerkt, wie oft es schon auf der Kippe stand und dass es durchaus Tiefpunkte gab, bei denen ich kurz davor war, die Band zu verlassen.

Lag das an persönlichen oder künstlerischen Gründen?

Das kann ich nicht trennen. Junge Bands kämpfen um ihren Stil, das birgt wahnsinnig viele Konfliktpunkte. Dann geht es einerseits um die Kulturindustrie, auf die man angewiesen ist, und andererseits um die Beziehung zum Publikum. Richtig schwierig war es bei uns 2001, als wir das Album „Romantik“ aufgenommen haben. Komischerweise merkt man der Musik nichts davon an.

Die Welt ist gerade so dystopisch!

Das macht mich unglücklich. Der Klimawandel ist ein ernsthaftes Problem, aber es gibt keinen Willen, etwas dagegen zu tun. Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug – die Dringlichkeit der Probleme wird erst dann erkannt, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Ob die Welt jedoch untergeht, weiß ich nicht.

Wirkt sich dieses dystopische Grundgefühl auf Eure Musik aus?

Das kann man nie ausschließen. Gerade tobt der Krieg in der Ukraine, als wir in den Neunzigern im Studio waren, hat der Jugoslawien-Krieg stattgefunden. Die Welt ist ein Scheißort. Man kann sich das nicht alles schön trinken.

„Mit Liebesliedern kann man alles erzählen.“

Was glaubst Du, in welcher Welt Deine zwei Kinder später leben werden?

Ich kann diese Kaffeesatzleserei für leichtfertige Zukunftsprognosen nicht aushalten. Das ist mediale Beschäftigungstherapie. Wenn keine neuen Nachrichten kommen, dann überlegt man eben, was als Nächstes passieren könnte. Am Abend vor dem Fall der Berliner Mauer hätten wir auch niemals gedacht, dass das überhaupt möglich wäre.

Du hast mal in einem Interview gesagt, dass Du „norddeutsch-cool“ auf den Mauerfall reagiert hättest. Das glaube ich Dir nicht!

Berliner sind keine überschwänglichen Menschen. Das heißt nicht, dass mich das nicht bewegt hat, aber ich habe es mir nicht so anmerken lassen. Der Fall der Mauer war ein Ereignis, das man kaum glauben konnte. Das ist auch ein Grund für diese unterkühlte Reaktion. Wenn man es geglaubt und es dann doch nicht gestimmt hätte, wäre das wie eine extrem kalte Dusche gewesen.

Macht Ihr keine politischen Songs, weil Ihr Distanz zur Politik wahren wollt?

Einmal haben wir so ein Lied gemacht, das heißt „Unter Brüdern“. Darin geht es um Rechtsradikale. Ich weiß aber nichts mit dem Lied anzufangen. Das will doch keiner hören! Die Leute kommen zu unseren Konzerten, um einen guten Abend zu haben. Wenn ich mich politisch engagieren will, dann trete ich in eine Partei ein. Warum sollte ich das singend machen? Daran ist nichts erhellend oder aufklärend. Ich möchte auch nicht, dass im Deutschen Bundestag gesungen wird.

Ich finde Eure Liebeslieder am schönsten!

Die sind das Brot und Butter des Rock ‘n‘ Roll. Mit Liebesliedern kann man alles erzählen, dabei geht es um das ganze Leben.

Schreibt man bessere Songs über Liebe, wenn man älter wird?

Zumindest keine schlechteren. Das Thema Alter inspiriert mich aber nicht, mir ist das egal. Ich habe auch keine Zeit, mich damit zu beschäftigen.

Du hast mal gesagt, die einzige Stadt, in der Du leben möchtest, sei Berlin. Der einzig andere Ort, den Du Dir vorstellen könntest, sei Wien. Warum?

Wien ist außer Berlin die einzig richtig große Stadt im deutschsprachigen Raum, die mir gefällt. Als Hauptstadt eines ehemaligen Imperiums ist alles völlig überdimensioniert, und weil Wien eine Einwandererstadt ist, kann jede und jeder mitmischen. Das macht sie interessant. Für Kunst ist Wien sowieso das bessere Pflaster, weil die Österreicher die Kunst lieben. Das tun die Deutschen nicht.

„Die Österreicher lieben die Kunst.“

Ist das so?

Natürlich gibt es Deutsche, die kunstbegeistert sind. Aber vor allem ist es ein Volk der Ingenieure. Kunst soll immer noch für etwas anderes gut sein: für die Politik, Bildung oder Aufklärungsarbeit. Dabei braucht Musik keine Legitimation, besonders weil es eine geheimnisvolle, abstrakte Kunst ist. Sie wird immer zweideutig, unheimlich oder seltsam und vielleicht sogar verletzend sein. Heile-Welt-Kunst ist fad.

Ist es leichter, auf Deutsch oder Englisch zu singen?

Deutsch geht mir leichter von der Zunge. Wenn ich auf Englisch texte, entsteht dabei eine Distanz zum Inhalt. „I love you“ zu singen ist für mich etwas anderes als „Ich liebe dich“. In jedem Falle gilt aber: Kunst ist nichts für ängstliche Menschen.

Gibt es Lieder, die Du nicht gerne singst?

Manche Songs bestehen den „Test of time“ nicht, weil sie ein oder zwei Ebenen zu wenig haben. Wenn etwas zu sehr eins zu eins auf den Punkt zielt, dann hält es nicht. Aber das ist mir schon lange nicht mehr passiert.

„Kunst ist nichts für ängstliche Menschen.“

Was macht Dich glücklich?

Diese Frage ist mir zu privat.

Ich weiß, dass ich Dir keine privaten Fragen stellen darf. Ich meine, was macht Dich künstlerisch glücklich?

Musik oder wenn es beim Romanschreiben läuft. Was beides verbindet, ist der Wille, etwas Neues in die Welt zu bringen, was vorher nicht da war.

Kaufst Du noch Platten?

Die Wahrheit ist, dass ich vor allem über Streaming-Dienste Musik höre. Manchmal entdecke ich dabei etwas und denke: Wie kommen die oder der mit dem Scheiß durch? Meistens bin ich aber sehr begeisterungsfähig. Es gibt für mich nichts Größeres als Menschen, die die Entscheidung treffen, sich für die Kunst hinzugeben. Rock ‘n‘ Roll ist mein Leben. Alles andere ist Pipifax.

Hast Du manchmal Angst, irgendwann leer zu sein?

Das fände ich nicht so schlimm. Wenn es nicht mehr geht, muss man sich etwas anderes suchen. Aber bis dahin mache ich weiter.

Das hoffe ich doch! Vielen Dank für das Gespräch.

Element of Crime
Der gebürtige Bremer, Musiker, Schriftsteller und Drehbuchautor Sven Regener (*1961) lebt in Berlin und gründete 1985 die Band Element of Crime, für die er die Texte schreibt, singt, Gitarre, Trompete und Klavier spielt. Seine Roman-Serie um den Protagonisten Herr Lehmann und der gleichnamige Film sind Bestseller.  Ein weiteres bis heute in der Band aktives Gründungsmitglied ist der Gitarrist Jakob Friderichs (alias Jakob Ilja).
Der Bandname stammt von dem gleichnamigen Film von Lars von Trier. Erste Popularität erlangte die Band 1987 mit dem Album Try to be Mensch, das von John Cale (Velvet Underground) produziert wurde. Die erste Chart-Platzierung erreichten sie 1993 mit ihrem Album Weißes Papier. Seit der Gründung hat die Musikgruppe 15 Studioalben herausgebracht. 

(dp)

Der Bibiza

Text: Julia Bauereiß, Fotos: Amine Sabeur, Albumcover: Maša Stanić

Franz Bibiza ist durch und durch Wiener, und man munkelt, er sei der Falco unserer Zeit, der doch seinen ganz eigenen Weg geht, und zwar in Richtung Erfolg. Wir treffen ihn via Zoom zwischen Hamburg und Berlin direkt aus dem Tourbus, hinter dem der Sportfreunde Stiller, die er gerade als Pre-Act begleitet. Er erzählt uns von seinem Leben als Grenzgänger zwischen Dekadenz und Charme, wieso Musiker wie Aliens sind und was Bibiza nachts am Würstelstand kauft.