Der Tattoo-Anthropologe

Natürliche Leinwand

Lars Krutaks Forschung geht unter die Haut: Der US-amerikanische Tattoo-Anthropologe erforscht seit Jahrzehnten indigene Stämme und ihre schwindenden Rituale der Narbenkunst. Er gewährt uns in unserem Gespräch Einblick in eine blutig-magische Welt.

„Die Augen des Krokodils sind direkt an meinen Brustwarzen.“

Eva Holzinger: Trägst Du selbst Narben?

Lars Krutak: Während meiner Recherche habe ich mit drei indigenen Völkern zusammengearbeitet, die Skarifizierungen durchführen: den Kaningara aus Papua-Neuguinea, den Bétamarribé aus Benin und den Hamar aus Äthiopien. Ich trage Narben von allen diesen Gruppen. Beim Kaningara-Stamm war ich etwa vier Tage lang im „Geisterhaus“, auch „Haus Tambaran“ genannt, eingeschlossen, bevor ich skarifiziert wurde. Ich habe 450 bis 500 Krokodils-Narben am ganzen Oberkörper und an den Armen. Die Augen des Krokodils sind direkt an meinen Brustwarzen, ein Teil der Schnauze ist auf meinem Torso und die Arme und Krallen auf meinen Oberarmen.

Wie hast Du es geschafft, mit dem Schmerz während der Skarifizierung fertig zu werden? Das muss ja unglaublich wehgetan haben!

Es gibt ein paar Techniken, die dabei helfen sollen, das Ritual durchzustehen. Mir wurde für drei bis vier Tage der Schlaf entzogen. Nachts gingen wir wandern. Wenn du einschläfst, schlagen sie dir mit einer Taschenlampe oder einem Stock auf den Kopf. Ich habe es geschafft, wach zu bleiben. Als es dann losging und ich mit einer Rasierklinge bearbeitet wurde, war ich so erschöpft, dass ich die ersten 50 bis 60 Schnitte gar nicht gespürt habe. Dann aber ist mein Körper aufgewacht.

Und was geschah dann?

Ich bin in Indonesien mit Nägeln, in Borneo mit Nadeln, auf den Philippinen mit Dornen und auf Hawaii mit Nilpferdzähnen gestochen worden und kann sagen, dass ich noch nie so etwas Schmerzhaftes wie in diesen Momenten verspürt habe! Ich habe versucht, mich mit schönen Gedanken abzulenken; Gedanken an meine Familie, meine Frau und eine erfrischend kalte Dusche. Es hat sich angefühlt, als würde meine Brust in Flammen aufgehen! 

„Die Haut ist unsere persönliche Leinwand.“

Als Tattoo-Anthropologe hast Du unzählige Bücher und Artikel über permanente Körpermodifikationen veröffentlicht. Was macht die Haut für Dich so magisch?

Die Haut ist das größte Organ des Körpers. Sie schützt uns, hält unsere Organe intakt, sie hält uns im wahrsten Sinne zusammen. Sie ist aber auch unsere persönliche Leinwand, auf der wir Gedanken und Motive verewigen können. Bodypainting, Tattoos, Narben: All diese Zeichen der Haut erzählen unsere persönlichen Geschichten. Sie sind Signaturen des Lebens. Sie zeigen unsere Sehnsüchte und Ängste, sie definieren, wer wir sind. Wir lernen uns selbst durch diese Hautmarkierungen kennen. Auch wenn wir nicht sprechen, sprechen sie für uns. Sie sprechen mit ihrer eigenen Stimme.

Du bist viel gereist. Welcher indigene Stamm, welches Ritual hat Dich besonders dabei beeindruckt?

Der Kaningara-Stamm, der in der Blackwater-Region nahe des mittleren Sepik-Flusses in Papua-Neuguinea lebt. Am faszinierendsten sind für mich die Initiationszeremonien für junge Männer, die im Haus Tambaran, im „Geisterhaus“, stattfinden. Die Skarifizierung ist ein Teil davon. Dabei wird die Haut eines lokalen Krokodilgeistes nachgebildet, die der Legende nach den Kaningara Macht über ihre Feinde verleiht.

„Es geht um die Stammesidentität, um die Krokodilgeister und Narbenmeister.“

Geht es bei Skarifizierungen darum, zum erwachsenen Mann zu werden?

Es geht darum, ein Mensch zu werden. Ich habe auch das Volk der Bétamarribé in Benin besucht. Wenn ein Junge oder ein Mädchen zwei oder drei Jahre alt ist, wird ihm mit einem vom Dorfschmied hergestellten Eisenwerkzeug eine komplizierte Reihe von Linien, die Ahnen-Symbole darstellen, ins Gesicht geschnitten. Ich habe so eine Skarifizierung eines jungen Kindes miterlebt und es ist ein Anblick, der kaum zu ertragen ist. Aber wenn sie diese Markierungen nicht erhalten und ohne sie sterben, gelten sie nicht als Mitglied der Gemeinschaft und werden nicht auf dem Friedhof begraben. Es geht also um die Stammesidentität, um die Verwurzelung mit einer bestimmten Kultur, einem bestimmten Gebiet und ihren Ahnen. 

Wie bereiten sich die jungen Männer auf eine Skarifizierung vor?

Bei den männlichen Kaningara ist das ein langwieriger Prozess. Vor der Skarifizierung müssen sie eine sehr strenge zweimonatige Klausur im Geisterhaus durchstehen. Die jungen Männer werden mit Fisch und bestimmten Gemüsesorten gemästet, weil – so der Glaube – die Krokodilgeister die Jungen während der Beschneidung fressen und sie als erwachsene Männer wieder ausspucken.

Warum werden sie gemästet?

Die zusätzliche Fettschicht, die sie angesetzt haben, ermöglicht es dem Narbenmeister, schneller zu arbeiten: Er drückt eine Hautfalte ein und schneidet sie dann, während sie gleichzeitig die Einstichwunden bis zu einem gewissen Grad betäubt.

Eine weitere Regel ist, dass man das Geisterhaus nicht verlassen darf, außer man muss auf die Toilette. Dabei werden die Männer von einem älteren männlichen Kollegen begleitet und bedeckt, sodass sie von niemandem gesehen werden können. Auch Frauen zu sehen, ist strengstens verboten. Die Brüder ihrer Eltern flüstern den Männern Geschichten über die Ahnen des Stammes und Spirituelles zu. So lernen sie über den Glauben und Mythen ihrer Vorfahren.

Wie lange dauert das und womit wird in die Haut geschnitten?

Das Ritual findet alle vier bis fünf Jahre statt. Die Eingeweihten können zwischen zwölf und 35 Jahre alt sein, das liegt vor allem auch daran, dass das Ritual sehr kostspielig ist. Die Familie muss während dieser zwei Monate für Lebensmittel, Wasser und die Bezahlung des Narbenmeisters und der Zeremonien aufkommen. Viele müssen dafür jahrelang sparen. Die Skarifizierung selbst dauert nie länger als einen Tag und wird mit einer Einweg-Rasierklinge am ganzen Körper vorgenommen. Früher hat man Messer aus Bambus verwendet, aber die werden sehr schnell stumpf und die Infektionsgefahr ist höher. 

„Die Narben werden absichtlich infiziert.“

Geht manchmal auch was schief?

Es wurden Geschichten über Männer überliefert, die nach dem rituellen Schneiden gestorben seien, vor allem, wenn sie ein Tabu gebrochen haben. 

Das Ritual selbst ist wie ein blutiges Schlachtfeld. Der Legende nach muss das postpartale Blut der Mutter aus dem Körper des jungen Mannes entfernt werden. Symbolisch gesprochen ist dieser Akt notwendig, um die jungen Männer vollständig von der Mutter zu trennen und sie stattdessen mit der Kraft des Krokodilgeistes zu erfüllen. 

Wie schafft man es, dass die Narben nachher so schön aussehen?

Nach der Skarifizierung sitzt man gemeinsam beim Feuer, um die Wunden zu trocknen. Die Haut der jungen Männer wird sozusagen „geräuchert”. Die Narben werden mit selbst gemachten medizinischen Salben und dem Öl des Kaumever-Baumes, der zur Herstellung von Kriegskanus verwendet wird, behandelt. Die Narben werden aber auch absichtlich infiziert. Während des Heilungsprozesses gehen die Männer regelmäßig zum Fluss, reißen ihre Narben auf und reiben sie mit dem Flussschlamm ein. Tannine und andere organische Chemikalien erzeugen dann die dreidimensionalen, geschuppten Narben, die der Haut eines Krokodils ähneln. 

Wenn Skarifizierung ohne Schmerz möglich wäre, würde sie dann noch ihren Sinn erfüllen?

Bodypainting erzeugt keinen Schmerz und erfüllt in anderen indigenen Völkern ähnliche Funktionen wie die Skarifizierung. Also nein, es geht nicht bei jeder Körpermodifikation um Schmerz. Der Schmerz ist aber nicht unwichtig; er ist ein körperlicher Test. Der Schmerz sorgt dafür, dass du nie vergessen wirst, wer du vor der Skarifizierung warst und wer du bist, nachdem du die Markierungen deiner Vorfahren erhalten hast. Auch ich war nach der Skarifizierung ein anderer. 

„Narben stimulieren das Immunsystem."

Romantisiert man das nicht auch ein wenig, ist damit nicht auch ein Gruppenzwang und eine Art von Unterwerfung verbunden?

Nicht unbedingt, viele Kaningara werden ja nur dann skarifiziert, wenn sie genug Geld haben. Es entscheiden sich heute tatsächlich auch viele Junge dagegen. Es ist eine Zeremonie, eine von mehreren Gelegenheiten, den Wohlstand der Familie zu zeigen. Bei den Bétamarribé ist das anders.

Heutzutage verliert, laut Krutak, das Ritual der Skarifizierung immer mehr an spiritueller Bedeutung, da die Moderne und die wirtschaftlichen Verhältnisse es von seiner mythischen Vergangenheit entfernen. In der Blackwater-Region der Kaningara gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten, Geld zu verdienen, außer wenn drei bis vier Mal im Jahr Touristinnen zu Besuch kommen und die Einheimischen Schnitzereien und teilweise auch Familienerbstücke verkaufen.

Zwei- oder dreijährige Kinder können aber nicht selbst darüber entscheiden, ob sie diese Narben erhalten wollen oder nicht?

Ich finde das okay. Es gibt nicht nur Narben zur Stammesidentifikation, sondern auch medizinische Narben, die Kindern absichtlich in regelmäßigen Abständen an unterschiedlichen Körperstellen zugefügt werden. Das sind dann sehr kleine Markierungen, die zum Beispiel Schmerzen während dem Zahnen lindern sollen; auch Erwachsene bekommen solche Narben gegen Rückenbeschwerden oder andere Probleme. Narben sind also nicht nur ein kulturelles Protokoll, sondern auch eine Art spirituelle Medizin. Es gibt sogar biomedizinische Studien, die gezeigt haben, dass Kinder, die durch solche Abhärtungspraktiken künstlich gestresst werden, einen medizinischen Nutzen davontragen: Es wirkt wie eine Art von Impfung, stimuliert das Immunsystem, stärkt die Widerstandskraft.

Skarifizierung als Heilmethode …

Ja. Und damit meine ich nicht nur die Narben selbst. Viele der Heilpflanzen und Kräuter, die im Zuge der Skarifizierung verwendet werden, sind bis heute nicht identifiziert beziehungsweise genauer untersucht worden. Es könnte sich dabei um das nächste Heilmittel für Krebs oder Alzheimer handeln, aber wir wissen es nicht, weil die westliche Welt offenbar kein Interesse daran, den biologischen Nutzen dieser natürlichen Materialien zu untersuchen.

„Narben sind eine Art spirituelle Medizin.“

Unterscheidet sich der Skarifizierungs-Vorgang bei Männern und Frauen?

Das ist von Stamm zu Stamm unterschiedlich. In der Regel ist vorgeschrieben, welche Muster indigene Frauen und Männer erhalten können und welche nicht. Diese gehen auf die Gesetze der Ahnen zurück. Bei den Kaningara bekommen aber zum Beispiel sowohl Männer als auch Frauen die Krokodils-Narben; der Vorgang ist bei Frauen auf dieselbe Art und Weise ritualisiert, aber in einem kleineren Ausmaß und über einen kürzeren Zeitraum. 

Bei den Bétamarribé in Benin lassen Narbenmeister das Motiv durch ein Orakel bestimmen, indem sie fünf Kaurimuscheln in einen mit Wasser gefüllten Keramiktopf werfen. Die Ahnen beobachten diese Zeremonie; sie kanalisieren die Kräfte in das Orakel und entscheiden so über das Muster. 

Skarifizierung im Westen – Cultural Appropriation oder Appreciation?

Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die unsere heutige Zeit als kulturelles Ödland empfinden. Sie wollen etwas Uraltes, Reales; die tiefe kulturelle Verwurzelung und die Jahrtausende alte Spiritualität der Skarifizierung zieht sie an. Andere Menschen suchen auch einfach nach einer psychischen und physischen Prüfung: den Schmerz aushalten, den Körper transzendieren. Es gibt individuelle Motivationen, und ich denke, sie sind alle berechtigt. Aber bitte dabei kein Stammeszeichen kopieren!

Wie sehen die Stämme diese Aneignung selbst?

Die Skarifizierung ist im Westen noch nicht so weit verbreitet wie die indigene Tattoo-Kunst, deshalb kann ich momentan nur von Letzterem sprechen. Ich arbeite mit diversen indigenen Tattoo-Künstler:innen zusammen, die zu internationalen Kongressen reisen und traditionelle Ikonographie für Tourist:innen entwerfen, die zu ihrer individuellen Geschichte und ihren Motiven passt, ohne die eigene Kultur dabei zu verletzen. 

Skarifizierung in Europa: Dazu fällt mir spontan der „Schmiss“ der rechtsgerichteten Burschenschaften ein. Kann man diese Narben vergleichen?

Ein Schmiss ist keine Skarifizierung. Auch die Selbstgeißelung aus religiösen Gründen nicht. Ich habe mich mit Skarifizierung in Europa aber bislang kaum auseinandergesetzt. Ich weiß allerdings, dass es eine alte Tradition der Pilger-Tattoos gibt. Schon um 1500 ließen sich Besucher:innen des Heiligen Landes oft ein christliches Tattoo-Symbol stechen, um an ihren Besuch zu erinnern, insbesondere das Jerusalemer Kreuz.

„In die Vergangenheit blicken, zurück zu unseren Vorfahren.“

Deine Botschaft, wenn Dir die ganze Welt gerade zuhören würde?

Ötzi, der Mann aus dem Eis, hatte Tattoos, die vermutlich in die Haut geritzt wurden. Das ist eine Form der Skarifikation. Diese Tradition ist einer der ältesten Kulturpraktiken der Welt. Sie ist Teil der menschlichen Geschichte, eine, die uns alle verbindet.  Wenn wir verstehen wollen, wohin wir uns in der Zukunft bewegen, sollten wir niemals unsere Vergangenheit und die Traditionen unserer Vorfahren vergessen, aus denen die Menschheit hervorgegangen ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview erschien in C/O Vienna Books Nr. 2 „Narben“, das in unserem Shop für 28.- Euro erhältlich ist.
Lars Krutak (*1971 in Lincoln, USA) ist ein US-amerikanischer Anthropologe, Fotograf und Schriftsteller mit dem Fokus auf Tattoo-Kunst. 2009 hat er an der School of Human Evolution & Social Change der Arizona State University nähe Phönix (USA) promoviert. Er verbrachte drei Jahre damit, die komplexe Symbolik und Praxis des Tätowierens in der Arktis zu erforschen. 
Krutak forscht, lehrt, hält Vorträge und schreibt Artikel für internationale Tattoo-Publikationen, darunter Total Tattoo (UK), Tattoo Savage (USA), Z Tattoo (Dänemark), Tattoo Magazin (Ungarn) und Tattoo Planet (Niederlande). Im Jahr 2002 begab sich Krutak auf eine Weltreise, um das Leben, die Geschichten und die Erfahrungen tätowierter Menschen rund um den Globus aufzuzeichnen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum of International Folk Art in New Mexico (USA).

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