Freie Schule für freie Kinder im 6. Bezirk
Stefan Leitner-Sidl ist der Typ Mensch, der nicht lange raunzt, sondern einfach macht. Und deswegen gründet und erfindet er ständig irgendetwas. Für das neue Colearning Lernzentrum gaben seine drei Söhne den Ausschlag. Nicht zuletzt für sie hat er – gemeinsam mit Florence Holzner und Roland Dunzendorfer - diese freie Schule gegründet, wo Kinder seit fast einem Jahr selbstbestimmt lernen, forschen und coworken, ohne festen Lehrplan. Wir waren vor Ort.
Lisa Peres: Wie war denn Deine eigene Schulzeit? Immer noch Albträume?
Stefan Leitner-Sidl: Du wirst mir das nicht glauben! Ich habe gute Erinnerungen an die Schule, und ich war sogar ein guter Schüler. Als Jüngster von sechs Geschwistern konnte ich schon lesen, schreiben und rechnen, bevor ich in die Schule kam. Die haben mir das alles nebenbei beigebracht.
Deine Kinder, findest Du, haben es nicht so gut in der Schule?
Ja, meine Kinder waren die treibende Kraft, eine freie Schule zu gründen. Als Vater und Mutter leidest du mit deinen Kindern mit und bist sehr identifiziert mit ihnen – was auch nicht immer optimal ist. Wenn man merkt, in normalen Regelschulen geht es ihnen nicht gut und das System stärkt sie nicht, sondern schwächt sie eher, dann halte ich das persönlich nicht aus, dass ich sie neun, zehn oder zwölf Jahre da drinnen lasse.
Du hast schließlich die LAIS-Methode entdeckt, auf der Eure Schule aufbaut. Was ist das?
Bei LAIS geht es um einen natürlichen Zugang des Lernens, den die Kinder, bevor sie in die Schule kommen, ja besitzen und ihnen dann in der Regelschule ausgetrieben wird. Dieses Erforschende, Entdeckende, dieses nicht Bewertende, dieses Amtsfreie, dieses Fließende. Wenn sich Kinder frei mit einem Thema beschäftigen, es so lange erforschen, bis sie es wirklich verstehen, bis sie sagen: "Jetzt hab ichs!"
Und das alles sollen die Kinder in einer Gemeinschaft tun?
Ja, das ist die Kunst. Im besten Fall kommen die Kinder in bestimmten Phasen des Lernens in einen gemeinsamen Flow, wo Angstfreiheit herrscht, und wo sich niemand verstecken oder besonders hervor tun muss, und wo die "gemeinsame Intelligenz" wirkt.
Ist das eine andere Art von Hausunterricht?
Nein. Da unterscheiden sich die Homeschooler von den sogenannten Freilernern, denen wir näher stehen. Die Homeschooler betreiben schulisches Lernen, aber halt zuhause. Das kommt vom Privatunterricht der Adeligen früher. Der Privatlehrer kam nach ause und unterrichtete die jeweiligen Kinder. Aber da gibt es ja wieder den einen, der alles weiß, und die Schüler, die vermeintlich nichts wissen. Und zum Schluss wird bewertet, ob der Schüler es verstanden hat. Das ist nicht unser Konzept.
Eine Schule gründet man ja nicht jeden Tag! Was war ausschlaggebend für Dich, sich mit LAIS zu beschäftigen?
Das war ein Zufall. Ich habe vor drei Jahren für eine NGO über ein Jahr
lang ein Schulkonzept entwickelt. In den Recherchen dazu ist mir unter
anderem die LAIS Schule in Klagenfurt aufgefallen und die Schetinin
Schule in Russland. Das sind mittlerweile für uns zwar Referenzen,
wir haben uns davon sehr inspirieren lassen, aber wir legen die Konzepte auf die Situation hier in Wien um und machen was eigenes daraus.
Wieviel Schüler lernen bei Euch und wie alt sind sie?
Insgesamt sind es momentan 24 Kinder und Jugendliche. Sie sind aufgeteilt in vier ungefähr altersheterogene Gruppen mit Sechs- bis Achtjährigen, Neun- bis Elfjährigen und Zwölf- bis Vierzehnjährigen.
Mit welchen Altersgruppen funktioniert das freie Lernen am besten?
Bei den Acht- bis Zehnjährigen. Bei den Kleinen, den Sechs- bis Achtjährigen, arbeiten wir sehr stark mit Montessori-Materialien, weil die Kinder damit die Themen viel besser begreifen können, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Abstraktionsfähigkeit kommt bei den Kindern erst später, wenn sie über Dinge reden und diskutieren können.
Wieviel Lernbegleiterinnen gibt es bei Euch?
Im Gegensatz zum Regelschulwesen sind wir gut ausgestattet, wir haben vier Lernbegleiterinnen für 24 Kinder.
Und was ist der Unterschied zur herkömmlichen Schule?
Als Lernbegleiterin greift man in den Prozess inhaltlich wenig ein. Man lässt die Kinder ein Thema selbst erarbeiten und entwickeln. Man interveniert in bestimmten Phasen, wenn man merkt, die Gruppe steht jetzt an, oder schweift komplett ab. Dieses herkömmlich Unterrichtsmässige, Erklärende ist bei uns sehr reduziert. Dass da vorne jemand steht und etwas erzählt, wozu die Kinder gar keine Frage haben, das gibt es bei uns nicht. Außerdem wird gemeinsam gekocht, eingekauft, geputzt und aufgeräumt.
Sind die Lernbegleiterinnen auf Themen spezialisiert?
Bei uns brauchen die Lernbegleiterinnen keine Fachexpertinnen sein. Deren Rolle ist es, die Lernprozesse der Kinder zu begleiten und zu leiten. Da müssen sie auf die Prozesse schauen und nicht auf die Inhalte. Für die Inhalte haben wir dann unser großes Netzwerk. Da holen wir uns Mathematikerinnen, Physikerinnen oder Chemikerinnen ins Haus. Außerdem verwenden wir natürlich auch Bücher und das Internet.
Mich interessiert so ein Wochenablauf! Von Montag bis Donnerstag habt Ihr Lernbetrieb. So nennt Ihr das. Können die Kinder zur Schule kommen, wann sie wollen?
Ganz so frei ist das nicht, weil wir aufgrund der Gruppenkonstellation natürlich schon bestimmte Verbindlichkeiten brauchen. Zwischen acht und neun Uhr ist Ankommen, da können sie auch noch frühstücken. Um neun Uhr ist dann Morgenkreis mit allen. Da setzen sich alle zusammen und besprechen, was für den Tag auf dem Plan steht. Danach teilen sich die Gruppen auf für den Vormittag je nach Arbeit auf. Die einen machen Physik, die anderen Mathematik mit Montessori-Materialien oder Englisch, oder was auch immer.
Wie lernen die Kinder ein Thema?
Wir erarbeiten ein Thema immer am Stück. Über einen längeren Zeitraum von mehreren Wochen wird zum Beispiel dem Thema Biologie auf den Grund gegangen. Vielleicht kommen die Kinder irgendwann darauf, dass es die Lehre des Lebendigen ist, sie erforschen diese grundlegenden Fragen. Die haben eine philosophische Dimension. Sie sollen zur Essenz des jeweiligen Themas kommen, zu dem, worum es dabei wirklich geht. Aus dieser Erkenntnis heraus können sie dann in die vielen Teilbereiche eines Themas gehen und verlieren dabei jedoch nie den Überblick.
"Hier gefällt es mir viel besser als im Kindergarten. Dort durfte man nicht prügeln (lacht). Wir machen in Mathe gerade Malrechnen und Dividieren. Einmal habe ich sogar eine Wurzel gezogen und ich habs geschafft!"
Finden die Kinder so eine freie Schule cool? Viele kommen ja von einer herkömmlichen Schule zu Euch, wie gehen die damit um?
Mit den Kleineren haben wir ganz wenige Probleme, die wachsen da rein. Bei den Älteren, da merkt man schon, die haben viele kein positives Verhältnis mehr zum Thema Lernen. Sie kennen nur Fremdbestimmung. Für uns ist das zum Teil eine mühsame Arbeit, sie wieder in diese Freiheit zu führen, aber halt in eine Freiheit im Rahmen bestimmter Grenzen. Die Riesenherausforderung ist vor allem auch, alle Eltern mit ins Boot zu kriegen.
Welche Rolle spielen die Eltern?
Sie sollten unsere Prinzipien des Lernens verstehen. Dazu bilden wir das LAIS-Modul 1 an, in dem man das Natürliche Lernen wieder erlernen kann. Grundsätzlich bitten wir die Eltern, dass sie nur in Absprache mit der pädagogischen Leitung Zuhause irgendwelche Themen weitermachen. Es wäre ja schlimm, wenn die Eltern zuhause klassisch mit dem Kind weiterlernen, und es dann in den Konflikt mit unseren Lernmethoden kommt und es die Freude am Lernen vielleicht verliert.
Wie ist das Feedback der Eltern?
Positiv. Die Eltern merken, dass die Kinder weniger Stress haben, dass ihre Kinder bei uns durchaus mehr in die Verantwortung genommen werden. Und es wird auch darauf geachtet, dass die Gemeinschaft, der Sozialraum, gut funktioniert. Wir lernen auf vielen Ebenen, nicht nur auf der Wissensebene, auch auf der Ebene des Tuns, der Selbst- und der Gemeinschaftsbildung.
Bestraft Ihr?
Ja, klar, mit der neunschwänzigen Peitsche …
... das habe ich mir gedacht ...
Nein, Spass beiseite. Es gibt sehr wohl Grenzen und auch Konsequenzen, wenn wegen einem Verhalten ein Weiterarbeiten zum Beispiel nicht möglich ist. Das ist jetzt auch nicht die komplette Kuschelpädagogik, die wir da haben. Bei uns werden die Kinder als Menschen gesehen und als Personen respektiert, nicht als anonyme Nummern. Sie werden gesehen in all ihren Bedürfnissen und Emotionen, auch wenn sie gerade negativ, zornig oder ängstlich sind. Deswegen brauchen sie eigentlich auch nicht wiederholt Grenzen überschreiten.
Was sollen Eure Kinder für ihr Leben mitnehmen?
Die Kinder sollen einen anderen Leistungsbegriff haben. Nicht einen gesellschaftlich vorgegebenen oder einen nur für sich alleine, sondern auch einen für die Gemeinschaftlichkeit, sie sollen kooperationsfähig und kollerborationsfähig sein. Keine Einzelkämpferinnen werden. Auch andere auffangen können, wenn es ihnen schlecht geht. Das nennen wir Co-Learning. Ich mache mir überhaupt keine Sorge, dass sich unsere Kinder in Zukunft in der Welt da draußen zurechtfinden werden.
„Hier dürfen wir spielen, alle sind nett und wir haben keinen Stress. Ich lerne hier mehr!“
Geht ihr viel raus?
Ja, sehr viel. Bewegung ist fix eingeflochten in den Wochenplan. Jeden Tag gibt’s am Morgen Gymnastik und Yoga. Montags gehen wir immer zwei Stunden raus und lernen eine neue Bewegungs- oder Sportart. Momentan ist das das Klettern oder das letzte halbe Jahr haben sie Capoeira getanzt.
Wenn ein Kind nicht will?
Dann gibt es eine Gruppe, die sich um den Rest kümmert. Einmal am Tag raus in den Käfig Fussball spielen, das findet eigentlich immer statt. Oder das Kind macht halt Kopfstände (lacht).
"Ich bin in der Frühe immer ziemlich müde, aber dann sehr froh, wenn ich hier bin."
Welches Unterrichtsmaterial verwendet Ihr?
Alle Freilerner haben Anspruch auf Schulbücher. Die suchen wir uns selbst aus und bestellen sie. Oder sonst haben uns die Erwachsenen alles mögliche an Anschauungsmaterial zusammengetragen. Wir haben schon eine ziemlich große Bibliothek beisammen.
Freitag ist ein freier Tag bei Euch?
Ja, der sollte eigentlich von den Eltern geführt sein, aber der Bedarf war bis jetzt nicht da. Viele waren froh, dass er einfach frei ist.
Die Freilerner kommen jedoch nicht um die obligatorische offizielle Jahresprüfung herum?
Ja, das sind die Externenprüfungen. Da arbeiten wir mit Prüfungsschulen, beziehungsweise mit Partnerschulen zusammen, mit denen wir uns einen Prüfungsmodus vereinbaren. Unsere Kinder bereiten auch über das Jahr hinweg Portfolios vor, mit denen sie präsentieren, was sie gelernt haben, mit Fotos, Bildern, Aufsätzen und Zeichnungen. So macht sich die Prüferin einen Überblick über den Wissens- und Kenntnisstand der Kinder.
Kann man bei Euch durchfallen?
Nein, das ist keine Option. Da überlegen wir nicht mal, dann müsste das Kind halt die Prüfung wiederholen.
Sie bekommen auch ein Zeugnis mit Noten?
Ja, wir müssen ja beim Stadtschulrat dann das Zeugnis in Kopie abgeben, damit sie wissen, unsere Kinder haben die Voraussetzung dafür, weiter Freilerner sein zu können.
Wie finanziert sich das Projekt?
Es gibt Elternbeiträge und Spenden. In Zukunft möchten wir auch auch gewisse Geschäftsmodelle aufbauen, wo wir zum Beispiel Erwachsenenbildung anbieten, oder Nachhilfeformate für externe Schüler. Wir vermieten auch Seminarräume, abends und am Wochenende.
Der Schulpreis ist gar nicht so hoch, der liegt bei zwischen 200 und 300 Euro. Soviel zahle ich mit Nachmittagsbetreuung und Essen in einer Regelschule ja eigentlich auch …
Ja eben, wir wollten die ökonomische Schwelle niedrig halten, damit das nicht wieder ein Eliteprojekt wird. Bei uns arbeiten die Lernbegleiterinnen in den ersten Jahren vor allem ehrenamtlich.
Was ist die große Vision?
Unsere Vision ist, Colearning zu einem großen Gemeinschaftsprojekt zu machen, das Lernzentrum für die Kinder soll davon ein Teil sein. Die anderen Projekte sind dann Co-Working, Werkstätten und Ateliers. Wo eben Leute arbeiten und wo es Seminarräume gibt, Veranstaltungsräume und vielleicht auch eine kleine Gastronomie. Das Lernzentrum soll sich im besten Fall durch die Gewinne aus den
anderen Bereichen finanzieren. Leider bekommen wir noch keine staatliche Förderung. Wir suchen derzeit Räumlichkeiten – ca. 1.000 Quadratmeter wären perfekt mit irgendwas Grünem dabei.
Wir wünschen Euch viel Glück und haltet uns auf dem Laufenden!
Stefan Leitner-Sidl, Obmann und kaufmännischer Leiter der Schule, hat sich nach seinem Betriebswirtschaftsstudium gleich selbständig gemacht und gemeinsam mit seinem Firmenpartner Michael Pöll die "mother of coworking" Schraubenfabrik und dann später die Unternehmerinnenzentren Hutfabrik und Rochuspark gegründet und aufgebaut.
Damit haben die beiden im Bereich Co-Working – auch im internationalen Kontext – Pionierarbeit geleistet. Stefan beschäftigt sich ausserdem seit Jahren intensiv mit zeitgemäßen Bildungs- und Lernsystemen. Aus- und Weiterbildungen in Gruppendynamik und Organisationsentwicklung, Projektmanagement und Mentoring. Er ist Vater von drei Söhnen, von denen zwei das Colearning Wien besuchen (das dritte Kind ist noch zu klein).
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Kontakt:
Colearning Wien
Verein für natürliches Lernen und Gemeinschaftsbildung
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