Die Digital-Humanistin

Digitalisierung nicht um jeden Preis

Wien gilt als eine der lebenswertesten Städte der Welt. Auch in Sachen Digitalisierung will die Donaumetropole international die Nummer eins sein. Ulrike Huemer war als Chief Information Officer fünf Jahre lang für die digitalen Agenden der Stadt Wien verantwortlich, im Juni wechselte sie als Magistratsdirektorin nach Linz. Wir haben mit ihr über „Digitalen Humanismus“, Seniorinnen mit Tablets, totale Überwachung und eine Gesellschaft, die aufeinander aufpassen muss, gesprochen – und dabei ganz schön viel gelernt. 

Mit Artworks von Susanna Hofer, Marie Haefner und Martina Lajczak.

„Wir müssen lernen, die Folgen unseres digitalen Handelns abzuschätzen.“

Viktoria Kirner: Als Chief Information Officer der Stadt Wien waren Sie sozusagen Wiens oberste IT-Chefin. Was macht man in diesem Job?

Ulrike Huemer: Da gibt es mehrere Aufgabenbereiche. Einerseits beschäftige ich mich mit klassischen IT- und Digitalisierungsprojekten, wie derzeit etwa der Einführung eines neuen Bürgerinnenportals oder einer neuen Wahlapplikation, weiters gilt es auch, die Digitalisierungsstrategie der Stadt umzusetzen. Sehr wichtig ist außerdem die Frage, wie Verwaltungsprozesse bestmöglich mit IT verknüpft werden können – und dann wären da noch strategische Entscheidungen zu treffen.

Welche zum Beispiel?

Wir stellen uns die Frage, wie man als Stadt mit Cloud-Technologien umgeht. Wir haben den Zugang, dass so ziemlich alle Daten, die Bürgerinnen betreffen, in unseren eigenen Rechenzentren gespeichert werden, also nicht extern. Manchmal gibt es aber Situationen, in denen wir Applikationen verwenden wollen oder müssen, die nur in einer fremden Cloud betrieben werden können. Wie aber schützen wir die Daten unserer Bürgerinnen? – Dafür erarbeiten wir Lösungen.

„Selbst in einer Blackout-Situation wären die Rechenzentren mit Notstrom versorgt.“

Wo genau liegen die Daten der Wienerinnen?

Sie liegen in drei Rechenzentren, in drei unterschiedlichen Wiener Bezirken. Aus Sicherheitsgründen sage ich Ihnen aber nicht die genauen Adressen. 

Was passiert, wenn die Rechenzentren ausfallen?

Sollte ein Rechenzentrum herunterfahren, springen die anderen ein. Davon, dass gleich alle drei ausfallen, gehen wir grundsätzlich nicht aus. Selbst in einer Blackout-Situation, die ein ganzes Stadtgebiet betreffen würde, wären die Rechenzentren mit Notstrom versorgt und würden noch 72 Stunden funktionieren. Bei 72 Stunden Blackout in Wien hätten wir aber sowieso ein grundsätzliches Problem.

„Künstliche Intelligenz könnte den bürokratischen Aufwand in Zukunft stark minimieren.“

Wie stellen Sie sich das digitale Wien der Zukunft vor?

Ich stelle mir ein Wien vor, in dem Bürgerinnen vor weniger bürokratischen Hürden stehen. Gerade in Verwaltungsprozessen gibt es noch sehr viel unausgeschöpftes Potenzial in Sachen Digitalisierung. Meine Vision ist, es für uns alle einfacher zu machen.

Was könnte einfacher werden?

In der Baubranche etwa gibt es gerade das große Digitalisierungsthema „Building Information Modeling“, eine Methode zur vernetzten Planung und Ausführung von Bauwerken mithilfe von Software. Hier arbeiten wir etwa daran, Abläufe auch bei Baugenehmigungen zu digitalisieren, um sie deutlich zu verkürzen. Bauprojekte können als 3-D-Modelle eingereicht und schneller genehmigt werden, wenn die Voraussetzungen stimmen, die eine künstliche Intelligenz davor geprüft hat. Das würde auch bei der digitalen Betriebsanlagengenehmigung funktionieren. Künstliche Intelligenz könnte den bürokratischen Aufwand in Zukunft stark minimieren.

Künstliche Intelligenz übernimmt dann also Genehmigungsprozesse – heißt das, in Zukunft entscheidet ein Algorithmus über unsere Anträge?

Es geht vielmehr um Texterkennung. Widerspricht ein Vorhaben offensichtlich den geltenden Bauvorschriften, oder ist ein eingereichtes 3-D-Modell unvollständig, kann das automatisch von einer KI erkannt werden. Solche von Menschen durchgeführten Prüfungen dauern in der Regel sehr lange. Künstliche Intelligenz kann hier unterstützen, hat aber sicherlich auch ihre Grenzen.

„Es wird weiterhin ein Mensch ans Telefon gehen und einen Brief beantworten.“

Wo liegen diese Grenzen?

Ich denke nicht, dass eine künstliche Intelligenz über den gesamten Baugenehmigungsantrag entscheiden können wird, weil dabei ja auch ästhetische oder baudenkmalpflegerische Kriterien maßgeblich sind. Wir haben dazu in Wien einen weniger radikalen Zugang als andere Städte. Es sollte immer auch eine analoge Möglichkeit geben, Anträge einzureichen, um niemanden zu benachteiligen. Das heißt, wenn jemand das Bürgerinnenportal nicht verwenden möchte, kann man immer auch noch persönlich auf das Amt kommen. Es wird in der Wiener Stadtverwaltung weiterhin ein Mensch ans Telefon gehen und einen Brief beantworten.

Sie nennen diesen Weg „Digitalen Humanismus“, also Wiens Ja zum technologischen Fortschritt und zur Digitalisierung des Alltags, aber nicht um den Preis unserer humanistischen Werte?

Es geht darum, bewusst eine kritische Gegenposition zu einem hoch digitalisierten Alltag einzunehmen, wie wir ihn in anderen Ländern beobachten: in China etwa, aber durchaus auch in den USA, wo es manchmal Digitalisierung um jeden Preis gibt.

Was meinen Sie mit „Digitalisierung um jeden Preis“?

Häufig geht es ausschließlich darum, dass ein Service kurzfristig komfortabel scheint, ohne Rücksicht darauf, ob es für die Userinnen nachhaltig gut ist. Wir kennen das aus unserem Alltag: Natürlich ist es bequem, bei Amazon einzukaufen oder Google zu nutzen. Dass im Gegendeal von diesen Konzernen unsere privatesten Daten nach Belieben abgeschöpft werden, wird dabei aber oft ausgeblendet.

Welche Haltung nimmt Wien dabei ein?

Wir müssen alle lernen, die Folgen unseres digitalen Handelns abzuschätzen. Auch Regierungen sind in die Verantwortung zu nehmen. Wir versuchen in Wien, bewusst zu zeigen, dass wir kein Interesse daran haben, Daten zu verknüpfen oder zu verkaufen – daher auch die Nutzung eines eigenen Rechenzentrums statt einer kommerziellen Cloud. Es geht nicht darum, Technologie der Technologie wegen einzusetzen, sondern darum, mit ihr einen Mehrwert für die Bevölkerung und für den einzelnen Menschen zu schaffen.

Gibt es Projekte der Stadt, wo man das schon umgesetzt hat?

Wir sind der Überzeugung, alle sollten von neuen Technologien profitieren, nicht nur einige wenige Privilegierte. Das schlägt sich in mehreren Initiativen der Stadt nieder. 2019 gab es etwa einen Förder-Call, bei dem man Forscherinnen der Geisteswissenschaften dazu animiert hat, mit dem Bereich Informatik zusammenzuarbeiten. Um nur eines der Siegerprojekte zu nennen: In Zusammenarbeit zwischen dem Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, dem Verein ZARA und der Uni Wien beschäftigt sich ein Projekt mit der Schaffung einer künstlichen Intelligenz im Einsatz gegen rassistische Hasspostings im Netz.

„Ich kann den AMS-Algorithmus nicht nachvollziehen.“

Die Technologie soll für den Menschen arbeiten und möglichst zum Wohle einer Gesellschaft eingesetzt werden. In vielen Bereichen entscheiden zunehmend Algorithmen ohne Einzelfallprüfung über unser Schicksal. Man denke da etwa an den AMS-Algorithmus, der die Jobchancen von Arbeitslosen bewertet. Ist das nicht ein Widerspruch zur Idee des „Digitalen Humanismus“?

Vor dem Einsatz eines Algorithmus kann man entscheiden, ob Faktoren wie Geschlecht oder Religion berücksichtigt werden sollen. Meine Haltung zu dem, was im AMS-Algorithmus berücksichtigt wird, kennt man mittlerweile: Ich kann es nicht nachvollziehen. Ich kann einfach nichts damit anfangen, dass eine gesellschaftliche Benachteiligung in einem Algorithmus abgebildet ist, die wiederum zu noch mehr Benachteiligung führt.

Wir haben die Verantwortung, zu verhindern, dass es eine derartige Benachteiligung überhaupt gibt. Und ja, es ist definitiv ein Fakt, dass eine Frau mit Betreuungsverpflichtungen schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt hat, aber ich möchte trotzdem nicht, dass das in einem Algorithmus enthalten ist. Es ist immer die Aufgabe einer Institution, diese Verantwortung auch wahrzunehmen.

Nicht die Technologie, sondern die Art und Weise, wie sie von einer Institution – in diesem Fall vom AMS – genutzt wird, ist also problematisch?

Wir führen viel zu viele Diskussionen, in denen die Technologie als die Schuldige hingestellt wird, für mich aber ist eine künstliche Intelligenz per se neutral. Für mich ist auch eine Blockchain oder eine Cloud-Lösung neutral. Ob sie letztlich zum Wohle oder zum Schaden der Menschen eingesetzt werden, liegt an uns. 

„Technologien sind per se neutral. Ob sie zum Wohle oder zum Schaden der Menschen eingesetzt werden, liegt an uns.“

In welchen Digitalisierungsfragen hat Wien die Nase vorne?

Etwa im E-Government-Bereich, aber auch im Bereich künstliche Intelligenz gibt es sehr erfolgreiche Forschungsprojekte bei uns. Auch beim Thema Life-Sciences, also den Biowissenschaften an der Schnittstelle zur Digitalisierung, ist Wien vorne mit dabei. Die 3-D-Druck Technologie ist in Österreich gerade sehr im Kommen: Vor noch nicht allzu langer Zeit beschäftigte sich unsere Veranstaltungsreihe „Digitaler Salon“ mit der Herstellung von Schädelimplantaten mittels 3-D-Druck, auch bei Rippenbrüchen kommen zunehmend solche Drucker zum Einsatz.

Von welchen anderen Städten kann Wien in Sachen Digitalisierung etwas lernen?

Die nordischen Länder sind sehr stark in der digitalen Bildung, da versuchen wir uns gerade sehr viel abzuschauen, was ja im Home-Schooling während des Corona-Shutdowns absolut an Aktualität gewonnen hat. 

Bei Mobilitätsthemen wiederum sind die Niederlande sehr stark, Barcelona ist Vorreiterin, was die Nutzung von Open-Government-Data, also Datenbestände des öffentlichen Sektors, die für Bürgerinnen digital frei einsehbar sind, betrifft. Am weitesten digitalisiert ist das öffentliche Leben im asiatischen Raum. In Shanghai etwa ist der ganze öffentliche Raum von Videokameras mit Sensoren überwacht, um Staus zu erkennen, die Suche nach Parkplätzen zu erleichtern oder Verunreinigung zu ahnden. Grundsätzlich können wir uns in Wien von solchen Technologien schon etwas abschauen – sie sind allerdings auch mit großer Vorsicht zu genießen.

„Möchten wir in Wien, dass an jeder Straßenlaterne und Ampel eine Videokamera mit Sensor angebracht ist?“

Stichwort Überwachungsstaat?

Genau, solche Städte stehen gesellschafts- und demokratiepolitisch natürlich woanders. Man sollte sehr aufpassen und sich fragen: Möchten wir in Wien, dass an jeder Straßenlaterne und Ampel eine Videokamera mit Sensor angebracht ist? – Das will man in Wien definitiv nicht. Eine Wiener Delegation war vor Kurzem in Tel-Aviv: Dort ist es gang und gäbe, dass jeder öffentliche Ort videoüberwacht wird. Natürlich sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anders. In einer Gesellschaft, die sich häufig bedroht fühlt, gibt es ein viel höheres Commitment der Bürgerinnen diesen Überwachungsmaßnahmen gegenüber. 

Wenn Ihnen alle Technologie und alle Mittel zur Verfügung stünden: Welche App würden sie gerne für die Menschheit entwickeln?

Ein Herzensthema für mich ist definitiv das Thema „Active Assisted Living“. Dabei geht es um die Entwicklung von Technologien für ältere Menschen, die sie in ihrem Alltag unterstützen und ihnen möglichst lange ein eigenständiges Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Wir haben im vergangenen Jahr ein Forschungsprojekt mit annähernd hundert Wiener Haushalten durchgeführt. Es gab Armbänder mit einer Sensorik, die anzeigen, wenn jemand stürzt. Außerdem hat man den Teilnehmerinnen, die über Jahre waren, Tablets gegeben. Alle zwei Wochen haben wir zu einem Stammtisch geladen, bei dem alle Nutzerinnen über ihre Erfahrungen und auch Ängste im Umgang mit diesen Technologie sprechen konnten.

„Nein, Sie können das Tablet nicht kaputtmachen.“

Welche Ängste hatten die Seniorinnen?

Es war primär die Angst, etwas falsch zu machen. Wir mussten oft beruhigen: „Nein, Sie können das Tablet nicht kaputtmachen“, „Nein, Sie können das Programm nicht unwiderruflich löschen“. Wir haben immens viel in diesem Forschungsprojekt gelernt, nicht nur über die Berührungsängste, sondern auch darüber, wie wichtig Schrift und Sprache sind. Für ältere Menschen braucht es beispielsweise eine Sprachfunktion bei unserem Wien-Bot, einer App, die Fragen rund um das Leben in Wien beantwortet und vor allem für ältere Menschen eine Hilfe sein könnte. Wir haben durch diesen unmittelbaren Kontakt mit älteren Menschen aber auch gelernt, dass ihnen so etwas wie die Sturzsensorik tatsächlich ein Sicherheitsgefühl gibt.

Benutzt Ihre Mutter derartige Technologien?

Meine Mutter ist 83 Jahre alt und hat auch so ein Sturzsensor-Armband. Als sie das vor sieben Jahren bekommen hat, verweigerte sie die Verwendung und fühlte sich damals fast entmündigt. Vor Kurzem war sie im Krankenhaus, wo man fälschlicherweise einer anderen Frau ihr zuvor abgenommenes Band mitgegeben hat. Zuhause angekommen war sie richtig verzweifelt und hat alles daran gesetzt, das Band noch vor dem Schlafengehen wiederzubekommen – einfach weil es ihr mittlerweile so viel Sicherheit gibt.

„Ich habe Angst davor, dass wir Menschen einfach verblöden.“

Sind ältere Menschen für das Digitale offen?

Hier gibt es noch total viel zu tun. Es ist mein Wunsch, in all diesen Bereichen Awareness zu schaffen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Als wir unser Forschungsprojekt beendet hatten, war der größte Wunsch der Teilnehmerinnen, dass die Schulungen regelmäßig fortgesetzt würden, sie hatten Angst, sonst den Anschluss zu verlieren. Es ist wichtig, da zu investieren. Digitalisierung soll nicht einfach als Thema der Jungen verstanden werden.

Haben Sie persönlich Angst vor so manchen Auswirkungen der Digitalisierung?

Nicht vor Digitalisierungsmaßnahmen per se, ich habe eher Angst davor, dass wir Menschen einfach verblöden. Dass sich die Haltung, Technologie sei böse, zunehmend ausbreitet, während de facto wir selbst das Problem sind. Dabei kann ich doch bewusst entscheiden, ob ich mir etwas Online bestelle oder dann doch lieber ins regionale Geschäft gehe. Ich habe das Gefühl, dass wir zuweilen nicht mehr reflektieren können.

Wo verblödet der Mensch jetzt schon?

Meine Sorge ist, dass wir als Gesellschaft zunehmend rücksichtsloser werden. Das äußert sich zum Beispiel in Form der mitten auf dem Gehsteig abgestellten E-Scooter, aber auch in Form von Hasspostings auf Facebook, Frauenfeindlichkeit im Netz und dergleichen. Solange wir den Einsatz von Technologie noch reflektieren, können wir verantwortungsvolle Entscheidung treffen und als Gesellschaft weiterhin aufeinander aufpassen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Ulrike Huemer ist seit März 2014 Chief Information Officer der Stadt Wien und wechselt mit 1. Juni in das Amt der Magistratsdirektorin in Linz. Zuvor hat die Juristin den Österreich-Konvent betreut und war in der Finanzverwaltung Wiens für das Budget der Stadt verantwortlich.

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