Virtuelle Haute Couture
Das erste digitale Couture-Kleid des Amsterdamer Modelabels The Fabricant wurde für knapp 10.000 US-Dollar in New York versteigert. Obwohl es täuschend echt aussieht, existiert es nur virtuell. Mittlerweile erreicht das Unternehmen mit seinen digitalen Kollektionen und Accessoires Hundertausende Userinnen. Wir sprechen mit Amber Jae Slooten, Mitgründerin und Kreativdirektorin, über die Kunst des digitalen Schneiderns und die Frage, warum die Fashionwelt nicht mehr so weitermachen kann wie bisher.
„Eine neue Art des Schneiderns.“
Mandy Zaninovic: Welchem Stil würden Sie Ihr digitales Label zuordnen?
Amber Jae Slooten: Die Sache am digitalen Raum ist, dass es ja keine realen Anlässe gibt und keinen „Dresscode“, an den man gebunden ist. Ein fantastischer Vorteil! Alles außerhalb von irgendwelchen Normen ist möglich! Unser Label referenziert stilistisch auf alte Kulturen, die Antike und Mythologien, und kombiniert alles mit futuristischen und technologischen Elementen. Der Mix ist das Interessante.
Gibt es einen Bestseller im Sortiment?
Ja, wir haben tatsächlich einen! Die Jacke, die wir in Zusammenarbeit mit dem britischen Fashionlabel Marques'Almeida designt haben, wird am häufigsten in unserem Shopbereich heruntergeladen. Im Moment stellen wir unsere Kreationen noch kostenlos zur Verfügung, zukünftig wollen wir sie aber verkaufen.
Wie zieht man Ihre Kleidung an?
Sie können bei uns einen individuellen Avatar Ihrer selbst schaffen, um sich mit ihm in den unterschiedlichsten Bereichen der digitalen Welt auszuleben, angefangen von Social Media bis hin zu Videospielen. Jeder, der ein 3D-Programm bedienen kann, darf seinem Avatar unsere Klamotten „anziehen“. Künftig sehen wir unsere Outfits in der realen Welt, in der sie durch Linsen oder VR-Brillen zu Leben erweckt werden.
„Go digital!“
Wie kann man sich eine Shopping-Tour mit Ihren digitalen Klamotten vorstellen?
Nun, das Interessante dabei ist, dass man sich mit den Outfits in 3D von allen Seiten betrachten kann. Viele passen nämlich ihr Outfit in der realen Welt nur an ihre Vorderseite an, wobei hinter den Schultern ebenso eine Menge vor sich geht. Es ist also eine Art außerkörperlicher Erfahrung!
Erklären Sie uns "The Fabricant" genauer!
Man kann sich mit unseren Styles präsentieren, je nachdem, wie man sich fühlt. Es reichen ein paar Klicks. Wenn man will, kann man sich minütlich umziehen. In der Realität ist das, wie wir wissen, nicht möglich. Immerhin kann man sich ja nicht die Haare abschneiden und im nächsten Moment eine Langhaarfrisur haben. Ich denke, dass Selbstdarstellung ein menschliches Bedürfnis ist; das Digitale hilft uns, diese exzessiv auszuleben, so oft und wie wir wollen, aber ohne dem Planeten zu schaden.
Wie präsentieren Sie Ihre Kollektionen ohne Laufstege und Fashion-Shows?
Unsere erste Kollektion "Deep" war als eine Kritik an Fashion-Shows gedacht. Wir wollten zeigen, dass wir eine Show auch virtuell realisieren können, nur besser. Besser in dem Sinne, dass wir ressourcenschonender vorgehen, indem wir keine Fotografen, keine Models und vor allen Dingen keine Klamotten benötigen, die um die halbe Welt gereist sind, um einmalig vorgestellt zu werden.
„Selbstdarstellung ist ein menschliches Bedürfnis!“
Waren Sie erfolgreich damit?
Sehr, immerhin hat unsere virtuelle Bekleidung mittlerweile Hunderttausende von Menschen erreicht, ohne je physisch existiert zu haben. Wir schaffen ein neues Paradigma, indem wir keine Körperlichkeit mehr benötigen und trotzdem dabei verschiedenste emotionale Momente erzeugen können. Viele begegnen der Digitaltechnik allerdings immer noch mit einer Kombination aus Neugierde und Angst.
Warum, glauben Sie, braucht die Welt digitale Mode?
Kreativität ist in unseren Köpfen immer noch stark auf die physische Welt beschränkt. Es gibt eine gigantische, faszinierende, digitale Welt, die noch gänzlich unerforscht ist. Noch können wir uns in ihr und mit ihr nicht zur Gänze ausdrücken, sie erscheint uns, metaphorisch gesprochen, noch sehr flach. Wenn man sich Instagram als Beispiel hernimmt, sieht man Bilder und Videos, die in den meisten Fällen fern von jeglicher Realität sind.
Wie „schneidern“ Sie Ihre Klamotten?
Mein Basiswissen kommt aus dem Modedesign. Daher ist es mir möglich, Kleidungsstücke zu schneidern, die gut sitzen. Im digitalen Umfeld spiele ich wiederum mit Passformen und Größen. Ich überlege mir, wie ich ein Kleidungsstück designe, das sich dynamisch mehreren Körpern anpassen kann. Eine neue Art des Schneiderns! Digitales Schneidern hat nämlich weniger damit zu tun, einen einzigen, fixen Entwurf auf ein Kleidungsstück zu übertragen, sondern eher mit Bildhauerei und einer möglichst variierbaren Art des Gestaltens.
„Gigantisch, faszinierend, digital.“
Wie lange brauchen Sie und Ihr Team für die Herstellung eines digitalen Kleidungsstücks im Verhältnis zur physischen Produktion?
Es hängt von der Komplexität des Stücks ab, aber wenn man sich die Produktion eines normalen T-Shirts ansieht – angefangen von der Herstellung des Materials bis zur letzten Naht – dauert die Produktion eines digitalen Produkts nur einen Bruchteil davon. Ein schlichtes T-Shirt hat man digital innerhalb weniger Stunden modelliert, wohingegen eine komplexere, digitale Jacke schon mehrere Tage dauern kann.
Wie leben Sie denn Ihre Persönlichkeit aus?
Mir wäre es am liebsten, den ganzen Tag in einem Kimono und einem riesigen Hut herumzulaufen, welch göttliches Gefühl (lacht)! Die Realität macht mir jedoch einen Strich durch die Rechnung, denn ich muss mich aufs Fahrrad schwingen und in der U-Bahn eingeklemmt mit anderen schwitzen. In der digitalen Welt hätte ich diese Einschränkungen nicht!
Haben Sie sich schon als Kind gerne verkleidet?
Oh, als Kind hat mir meine Mutter immer Kleider genäht. Wenn ich mir etwas in den Kopf setzte, setzte sie das um. Sogar mein erstes Ballkleid hat sie genäht. Was ich außerdem sehr mochte, waren Barbie-Puppen. Ich besaß gefühlt eine Million Barbies, ich war echt süchtig nach ihnen. Sie zu kleiden und zu stylen war für mich sehr prägend.
„Wenn man will, kann man sich minütlich umziehen.“
Wollen Sie der weibliche Karl Lagerfeld der digitalen Mode werden?
Meiner Meinung nach neigt sich die Ära der großen Mode-Ikonen dem Ende zu. Ich glaube nicht mehr an den einen genialen Designer, vielmehr glaube ich an Menschen, die verstehen, was die Welt braucht. Denn ganze Berge nach Paris zu versetzten, um eine 20-minütige Modenschau abzuhalten, ist absolut lächerlich. Es sollte nicht mehr nur eine Person verantwortlich sein, sondern eher eine ganze Gruppe von kreativen Köpfen, die gemeinsam stark sind und versuchen, bewusst zu agieren.
Was können Sie jungen Designerinnen auf den Weg mitgeben?
Go digital!
Gut, etwas anderes hätte ich mir von Ihnen nicht erwartet!
Wegen meiner Ideen wurde ich oft als lächerlich und verrückt dargestellt. Nichtsdestotrotz ließ ich mich nie beirren, da ich immer fest davon überzeugt war, dass die Welt das, was wir machen, braucht. Trust your own vision!
Ich danke für das Gespräch!