Annie Atkins ist ein absoluter Star in der Filmbranche, auch wenn sie nur im Hintergrund arbeitet. Ihr Job ist es, Inserts, Requisiten und Szenerien für Filme und TV-Serien grafisch zu gestalten. Die Designerin kreiert eigene Welten, wie etwa die Republik Zubrowka, in der sich Wes Andersons berühmtes The Grand Budapest Hotel befindet. Die Irin hat auch die Sets von The Tudors, Vikings und Titanic gestaltet.
„Ich verbringe viel Zeit damit, Ramsch zu sammeln.“
"And the Oscar goes to ... The Grand Budapest Hotel!": Annie und das gesamte Team des Produktionsdesigns wurden mit dem Oscar in der Kategorie „Best Production Design“ ausgezeichnet – nur erfuhr sie es zunächst nicht, weil sie die Preisverleihung verschlafen hatte. Nach Steak und Champagner war sie bei ihren Eltern in Wales eingenickt..
Eva Holzinger: Ehrliche Antwort bitte! Bist Du es nicht schon leid, dauernd nach Wes Anderson und nach Deiner Funktion als leitende Grafikdesignerin für seinen Film The Grand Budapest Hotel gefragt zu werden?
Annie Atkins: Überhaupt nicht. Der Job für The Grand Budapest Hotel war ein absoluter Traum! Ich liebe es, für Wes Anderson zu arbeiten - ich war ja auch bei seinem letzten Film Isle Of Dogs beteiligt. Das Interesse an meiner Arbeit beimThe Grand Budapest Hotel ist wohl so groß, weil die Grafik so viel sichtbarer ist als üblicherweise. Die meisten Requisiten, die ich sonst für Filme und Serien gestalte, sind realistischer, unauffälliger – sie gleichen viel mehr den Dingen, die uns im Alltag umgeben. Was aber nicht heißt, dass in anderen Filmen weniger Grafik steckt! Für jede Serie, die du in der vergangenen Woche auf Netflix gesehen hast, arbeiten mindestens zwei Grafikdesignerinnen.
Wie findet man die Balance zwischen Kreieren und Kopieren, zwischen historischer Exaktheit und den Erwartungen des Publikums?
Bevor ich eine Requisite schaffe, recherchiere ich intensiv. Ich schaue
mir Exponate, wie etwa Fotos, Geldscheine oder Zeitungen, aus einer
bestimmten Zeit an. Ich verbringe viel Zeit damit, Ramsch zu sammeln:
Papierschnipsel, Tickets, Lesezeichen, Zigarettenpackungen. Wenn ich
eine neue Stadt besuche, fotografiere ich gerne alte Fassadenreklamen.
Ich starte nie eine Arbeit, ohne eine reale Referenz gesehen und
studiert zu haben. Recherche ist eigentlich der größte Teil meines Jobs.
Aber am Ende des Tages drehen wir keine Dokumentation, sondern erzählen
Geschichten. Und dieses Erzählen ist uns wichtiger als historische
Exaktheit.
„Die Zukunft ist nichts für mich, sie liegt definitiv außerhalb meiner Komfortzone.“
Wie sehr beeinflussen digitale Technologien Dein Handwerk?
Das Erstellen von mittelalterlichen Schriftrollen funktioniert heute noch genauso wie vor zehn oder 20 Jahren, nämlich von menschlicher Hand. Kein visueller Effekt kann einen professionellen Kalligraphen ersetzen. Ich benutze heute zwar öfter ein Pad zum Malen, aber es geht einfach nichts über Papier und Stift.
An welchen Projekten arbeitest Du derzeit, die nichts mit Film zu tun haben?
Ich designe eine koreanische Kosmetikmarke und eine Serie von Produkten für einen Museumsshop. Außerdem schreibe ich gerade ein Buch über meine Arbeit.
Du gibst auch Workshops für interessierte Grafikdesignerinnen. Warum?
Weil die Tür zur Filmbranche oft sehr verschlossen wirkt, und ich anderen helfen möchte einzutreten. Ich möchte mein Wissen, wie die Kunst des Grafikdesigns in die Sprache des Films übersetzt werden kann, teilen. Zum Beispiel erkennt man manche Schriftarten besser auf einer Leinwand als andere, denn auf manchen Oberflächen und Farben spiegelt sich das Kameralicht, an anderen nicht. Nur durch Erfahrung kann man so etwas erlernen.
Was sollte man nie tun, wenn man beim Film arbeitet?
Gib nie jemand anderem die Schuld, wenn etwas schief läuft! Im Film Business geht es ziemlich stressig zu. Wenn du einen Fehler machst, solltest du ihn einfach schnell selbst beseitigen und weitermachen, anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das wird nicht gern gesehen!
"Es geht einfach nichts über Papier und Stift."
„Gib nie jemand anderem die Schuld!“, Atkins' oberste Regel an einem Filmset.
Wo befindet sich Grafikdesign in der Hierarchie am Set?
Die Produktionsdesignerin kreiert den Stil des Films und stellt dann eine Set-Dekorateurin sowie eine Art-Direktorin ein, die ihre Vorstellung verwirklichen sollen. Grafikdesign ist wohl eine Stufe unter dieser Abteilung. Unser Job ist nicht der sichtbarste, auch, wenn wir manchmal direkt für die Regisseurin arbeiten. Im Idealfall kann man die Gedanken der Kolleginnen lesen!
Wie beginnt so ein kreativer Arbeitsprozess? Wie kommt man von einer Idee zum fertigen Objekt?
Alles beginnt mit dem Lesen des Skripts, da machen wir ein sogenanntes „Script breakdown“. Man nimmt jede einzelne Seite genau unter die Lupe und erstellt dann eine Tabelle mit allen Informationen: Um was für eine Requisite handelt es sich? Zu welchem Charakter gehört sie? Was passiert mit ihr? In welcher Zeit befindet sie sich?
Hat die Tatsache, dass Du eine Frau bist jemals deine Arbeit beeinflusst?
Bestimmt. Aber die meisten meiner Kolleginnen sind Frauen, das gilt auch für die Kostümdesignerinnen, Make-up Artists oder die Cutterinnen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil Frauen besonders gut darin sind, vieles gleichzeitig zu erledigten und auch unter Druck kreativ arbeiten können?
Dein Job verlangt bestimmt viel Geduld. Wie lange dauert es zum Beispiel, eine historische Zigarettenschachtel zu designen?
Ich schaffe ungefähr drei verschiedene Zigarettenpackungen an einem Tag. Mein Job ist tatsächlich ziemlich zeitaufwendig. Privates, wie mein Familienleben, kommt daher leider oft zu kurz.
„Das Meiste, was wir machen, ist für den verschwommenen Hintergrund.“
Auch bei Wes Andersons Film „Isle of Dogs“ (2018) hat Atkins als Grafikdesignerin mitgewirkt.
Atkins, die sich an Fundgruben, wie Dachböden oder Flohmärkten, erfreut, dehnt mit ihren Requisiten die Wahrheit. Ein Beispiel: In Zeitungen aus dem 19. Jahrhundert gab es keine großen Überschriften, lediglich kleine Anzeigen und Werbungen. Weil große Überschriften aber oft die Filmhandlung vorantreiben, wird dieser historische Fakt ignoriert.
Nicht jeder legt so viel Wert auf Grafikdesign wie Wes Anderson und nicht alles, was designt wird, schafft es auch tatsächlich auf die Leinwand oder wird vom Publikum überhaupt wahrgenommen. War das jemals ein Problem für Dich?
Es macht immer Spaß, das eigene Werk auf einer Kinoleinwand zu sehen, aber das meiste, was wir machen, ist für den verschwommenen Hintergrund gedacht. Außer, wenn es sich um ein sogenanntes „Hero-Prop“ handelt, also eine „Helden-Requisite“, die ganz genau in Nahaufnahmen zu sehen ist. Das ist aber eine absolute Ausnahme.
Gibt es einen Regisseur für den Du niemals arbeiten würdest?
Es gibt die unausgesprochene Regel in der Filmindustrie, dass du den ersten soliden Job annimmst, der dir angeboten wird. Das kann natürlich in einem großen Flop enden, aber so ist das nun mal.
Du hast ja die „Mendl“-Gebäckverpackung für The Grand Budapest Hotel designt, dabei hat sich ein Rechtschreibfehler eingeschlichen, der in der Postproduktion korrigiert werden musste. Was war Dein größter Fehler, abgesehen von den zwei „T”s im Wort Patisserie?
Ich mache dauernd Fehler! Die meisten davon beim Umrechnen. Beim Film arbeiten wir mit dem imperialen Maßsystem - also in Meilen, Fuß und Zoll - aber die Drucker hier in Europa arbeiten mit dem metrischen System: Meter, Zentimeter, Millimeter. Deshalb muss ich ständig umrechnen, umwandeln und gegenchecken. Da schleichen sich leicht Fehler ein.
Regisseur Wes Anderson wurde für seinen Film "The Grand Budapest Hotel" von Stefan Zweigs Werken „Rausch der Verwandlung“ und „Ungeduld des Herzens“ inspiriert.
Was war Deine „realistischste“ Arbeit?
Gerade erst hat mein Studio – Annie Atkins & Co, dass ich Anfang 2018 gegründet habe – Anne Franks Tagebuch grafisch nach-konstruiert. Es war ziemlich herausfordernd, die niederländische Handschrift mit Federhalter und Tinte kalligrafisch exakt zu kopieren. Papier kann man beispielsweise mit Tee und Schuhkreme altern lassen, das Schloss des Tagebuchs haben wir aus Lehm angefertigt und mit Nagellack bemalt. Die Arbeit war sehr bewegend! Anne Frank war so ein lustiges Mädchen. Sie hat sogar eine Seite voll schmutziger Witze in ihr Tagebuch geschrieben, hat es aber aus Scham wieder verschwinden lassen.
Hast Du auch schon etwas für die Zukunft designt?
Vor ein paar Jahren hab ich mal ein Projekt begonnen, das auf einem in die Zukunft fliegenden Raumschiff spielt. Die Zukunft ist nichts für mich. Sie liegt definitiv außerhalb meiner Komfortzone. Das Projekt wurde dann aber abgebrochen – aber nicht wegen mir! – (lacht) und zu einem späteren Zeitpunkt neu realisiert, mit neuem Cast und neuer Crew.
Welche Szenen sind am einfachsten zu designen?
Jedes Mal, wenn ich in einem Skript eine Szene lese, die in einem Büro spielt, weiß ich, dass es für mich super aufwendig ist: So viel Arbeitsunterlagen, die designt werden müssen, so viel Papier, das es mit Schrift zu befüllen gilt! Sex-Szenen sind dafür meistens sehr einfach. Niemand zieht in einer Sex-Szene eine Zeitung hervor oder schaut auf eine Landkarte.
Was wärst Du, wenn nicht Grafikdesignerin?
Irgendwann würde ich mich gerne als Schildermalerin ausbilden lassen. Wenn ich alt bin!
Annie Atkins folgte dem kreativen Weg ihrer Eltern: Ihr Vater ist Fotograf und Designer und ihre Mutter Illustratorin. Atkins studierte Visual Communication (BA) in London und in Dublin Filmproduktion. In der isländischen Werbeagentur McCann arbeitete sie als Grafikdesignerin. Ihre beiden Leidenschaften, Grafikdesign und Film, konnte sie erstmals bei The Tudors vereinen. Für die TV-Serie über den englischen König Henry VIII entwarf Atkins bunte Kirchenglasfenster und royale Schriftrollen. Weitere Engagements folgten: Penny, Dreadful Camelot,Vikings, Titanic sowie Steven Spielbergs Bridge of Spies sind nur ein kleiner Auszug der Liste bekannter Filmprojekte, an denen Atkins mitgearbeitet hat.