Bitte zu Tisch
Sie möchten wissen, warum Sie im Lockdown ständig zum Kühlschrank laufen? Eine Idee, wie die Küche der Zukunft von IKEA aussieht? Nein? Dann lesen Sie unser Interview mit der Ernährungskulturforscherin Eva-Maria Endres. Erfahren Sie auch, warum Dosenravioli aus feministischer Sicht ziemlich super sind und warum die Französinnen trotz vermeintlich ungesunder Schlemmerei so lange leben. Bon appétit! Illustriert wurde das Interview mit einer Fotoserie von Iiu Susiraja. Ob auf dem Hometrainer mit Würstchen-Tennisschläger oder mit Spaghetti überhäuft - die finnische Fotokünstlerin zeigt in ihren Fotografien besonders abstruse Selbstporträts. Ihre Darstellungen sind vielschichtig, strategisch ausgerichtet und ausgesprochen witzig.
„Ewige Gelüste.“
Du bist, was Du isst. Können Sie den Charakter einer Person daran erkennen, wie sie sich ernährt?
Eva-Maria Endres: Bis zu einem gewissen Grad ja, denn jedes Lebensmittel steht für gewisse Werte, von denen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit gezogen werden können. Ein Mann, der mittags gerne Pommes und ein XXL-Schnitzel bestellt, legt möglicherweise Wert auf das Demonstrieren seiner Maskulinität, denn Fleisch ist ein Symbol für Männlichkeit und Macht. Möglicherweise kommt er aus der Arbeiterklasse, wo große Portionen für Männer lange ein Muss waren. Viele Gerichte sind geschlechtlich konnotiert: Ich war einmal mit meinem Mann in einem Restaurant und bestellte Schweinsbraten mit Bier, er ein vegetarisches Gericht mit Apfelschorle – die Kellnerin servierte das Essen umgekehrt.
In den vergangenen Jahren ist in den Industrieländern der Gesundheitsaspekt in puncto Ernährung immer weiter in den Vordergrund gerückt, der Genussaspekt verliert dabei, so scheint es zumindest, zunehmend an Bedeutung. Ein Ratgeber nach dem anderen für „gesunde Ernährung“ wird publiziert, es gibt kaum jemanden mehr, der nicht auf irgendeine spezielle Art der Nahrung schwört – von vegan bis glutenfrei. Essen ist zu einem moralisierten Lebensbereich mutiert. Was ist da los?
Das gibt es schon seit Jahrtausenden. Schon Jahrhunderte vor Christus definierte Platon vier zentrale Tugenden, eine davon war die Mäßigung. Dieser liegt die Annahme zugrunde, dass unsere Seele in einem Leib gefangen ist, der uns mit seinen ewigen Gelüsten davon abhält, Seelenheil zu finden, weshalb wir lernen müssen, ihn zu züchtigen. Die vier Tugenden wurden vom Christentum aufgegriffen und durch drei weitere zu den sieben Tugenden, die die Völlerei zur Todsünde erklärten. Die Mäßigung ist ein zentraler Aspekt der westlichen Kultur geworden. Wir definieren unsere europäische Identität darüber.
Die Tugend der Mäßigung scheint heute mehr denn je im Trend zu sein …
Dieses Ideal hat sich auf jeden Fall radikalisiert. Waren in der Nachkriegszeit noch propere Babys, Männer mit kleinem Bauch und Frauen mit etwas Speck auf den Hüften das Ideal, entstand in den darauffolgenden Jahrzehnten ein Schlankheitsideal, das immer extremer wurde. Weil sich bald alle Gesellschaftsschichten Lebensmittel leisten konnten, die früher der Oberschicht vorbehalten waren, wurde die Mäßigung das neue Mittel der sozialen Distinktion. Durch Auswahlkriterien wie Tierethik, Nachhaltigkeit und Schlankheit wurde kundgetan: „Ich stopfe nicht alles in mich rein, sondern bin achtsam und in der Lage, eine Auswahl zu treffen.“
„Wer moralisiert, will verletzen.“
Sehen Sie es kritisch, wenn mittels Ernährungsweise soziale Distinktion stattfindet?
Jede Person kann für sich selbst definieren, was richtig oder falsch ist. Problematisch wird es, wenn man versucht, andere davon zu überzeugen, dass die eigene Meinung allgemeingültig ist. Der bekannte Soziologe Niklas Luhmann sagte: „Wer moralisiert, will verletzen.“ Diese These wird von empirischen Untersuchungen zum Verhalten von Moralistinnen belegt. In der Moral steckt ein großes Gewaltpotenzial, daher sehe ich es kritisch, wenn sich Ernährungsformen radikalisieren.
Ist diese Radikalisierung angesichts der Klimakrise nicht notwendig?
Natürlich ist es legitim zu diskutieren, ob wir in einer Gesellschaft leben, in der es moralisch nicht mehr akzeptabel sein könnte, Fleisch zu essen. Gleichzeitig finde ich es wichtig, nicht von den sozial benachteiligteren Bevölkerungsgruppen zu verlangen: „Ihr müsst Euch gesund und nachhaltig ernähren!“, denn für diese sind oft ganz andere Werte wichtig, und das empfinde ich als nachvollziehbar. Menschen, die in ihrem Leben von vielen Zwängen umstellt sind, beispielsweise wenig Geld, einen geringen Bildungsstatus oder familiäre Probleme haben, möchten sich nicht freiwillig noch mehr Zwänge auferlegen. Eine Hartz-IV-Empfängerin sagte mal zu mir: „Für Zigaretten gebe ich 100 Euro im Monat aus, aber wenn man mir das auch noch nimmt, dann habe ich nichts mehr im Leben.“
„Fleisch ist ein Symbol für Männlichkeit.“
Im Italienurlaub genießen wir spät am Abend Pizza und Spaghetti mit Rotwein, in Frankreich trinkt man schon am Nachmittag einen Apéro, und in Österreich ist das Schnitzel fast identitätsstiftend. Was erzählt die Ernährungskultur über ein Land?
Diese Esstraditionen sind oft dem Zufall und den geografischen Gegebenheiten geschuldet, erzählen aber auch etwas über die Mentalität eines Landes. Den Deutschen wird ja oft nachgesagt, sehr funktional zu denken, und diese Eigenschaft spiegelt sich auch in ihrem Verhältnis zum Essen wider. Die Mahlzeiten sind meist schlicht und es wird nicht allzu viel Zeit dafür aufgewendet. Die meisten Deutschen schaffen es nicht einmal, an den Festtagen länger sitzen zu bleiben, während in Frankreich das Weihnachtsessen um elf Uhr vormittags anfängt und gegen Mitternacht aufhört. Welche großen Auswirkungen diese Geselligkeit hat, zeigt das französische Paradox.
Was ist das französische Paradox? Klären Sie uns bitte auf.
Das französische Paradox besteht darin, dass die Franzosen viele Lebensmittel essen, die ungesund sind, beispielsweise Baguette und Käse, aber trotzdem eine geringe Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine hohe Lebenserwartung aufweisen. Die Forschung hat lange versucht, das zu erklären, und dabei herausgefunden, dass das soziale Zusammensein beim Essen einen wichtigeren Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden hat als gedacht. Ich glaube, das Soziale ist ein stark unterschätzter Faktor, wenn wir über gesunde Ernährung sprechen.
Apropos gemeinsames Essen: Warum hat sich die Geburtstagstorte etabliert?
... weil sie ein wunderschönes Symbol ist! Durch ihre runde Form verkörpert sie Ganzheit und durch ihre meist aufwendige Zubereitung Feierlichkeit. Beim Anschneiden der Tortenstücke ist garantiert, dass jede Person von den unterschiedlichen Tortenschichten die gleiche Menge bekommt, also die gleiche Menge Cremefüllung, die gleiche Menge Schokoglasur und so weiter, weshalb sie auch Gemeinschaft symbolisiert.
„Essen ist ein Vorgang, der ein wenig eklig ist.“
Wieso essen wir die Torte mit der Gabel und nicht mit Stäbchen?
Das Besteck ist eine Form von Ästhetisierung der Esskultur. Essen ist ein Vorgang, der ja an sich ein wenig eklig ist – der Speichel, die Verdauungssäfte – und manchmal auch komische Geräusche beinhaltet. All das erinnert uns daran, dass wir Tiere sind. Um uns von jenen als „menschliche kulturelle Wesen“ abzuheben, haben wir ein Konstrukt rund um unsere Mahlzeiten errichtet, das unter anderem beinhaltet, dass jede Person einen eigenen Teller, eine eigene Portion und eben auch ein eigenes Besteck bekommt. Das Besteck symbolisiert, dass wir uns nicht mal mehr die Finger schmutzig machen wollen und nichts dreckig werden darf – wenn mal eine Flüssigkeit aus dem Mundwinkel läuft, wischen wir das sofort weg.
In-vitro-Fleisch, Algen und Insektenburger: Was steht in fünfzig Jahren beim Familienessen auf dem Tisch?
Vegetarische, gesunde, nachhaltige und internationale Gerichte, die unkompliziert zuzubereiten sind. Der gesundheitliche Aspekt unserer Ernährung wird immer wichtiger, weil sich die Lebenserwartung erhöht und dadurch das Bedürfnis entsteht, auch noch mit siebzig Jahren gesund und fit zu sein. Auch das Bedürfnis nach Gerichten, die schnell fertig sind, wird immer größer, da Frauen vermehrt arbeiten und Arbeitszeiten flexibilisiert werden. Die Digitalisierung wird vor allem bei der Essenszubereitung eine Rolle spielen – IKEA-Mitarbeiterinnen haben sich beispielsweise darüber Gedanken gemacht, wie die Küche im Jahr 2025 aussehen könnte und eine „Küche der Zukunft“ geplant.
Wie sieht die „Küche der Zukunft“ aus?
Sie ist ein Tisch mit Induktionsfeld und integrierter Waage. Auf diesem Tisch kann sowohl gekocht und gegessen als auch das Smartphone aufgeladen werden. Über dem Tisch befindet sich eine holografische Kamera, die scannt, welche Lebensmittel auf dem Tisch liegen, und anzeigt, was aus diesen Zutaten zubereitet werden könnte. Wenn man sich für ein Rezept entscheidet, projiziert die Kamera dieses auf den Tisch und führt einen Schritt für Schritt durch den Kochprozess.
Wo kühlen wir in dieser Küche unser Essen?
Der Kühlschrank wird durch ein Regal mit Induktionsfeldern ersetzt, auf dass man Behältnisse mit elektronischen Stickern stellt, die angeben, auf wie viel Grad die jeweiligen Lebensmittel gekühlt werden sollen. Dieses Regal ist eine nachhaltige Alternative zum Kühlschrank, denn es ist energiesparend und informiert uns, bevor Lebensmittel ablaufen. Der Tisch ist wiederum platzsparend, was wichtig ist, wenn man bedenkt, dass wir auf immer beengterem Wohnraum leben werden.
„Lagerfeuer-Feeling in der Küche.“
Eine Küche ohne Herd und Kühlschrank? Schwer vorstellbar!
Deswegen ist das Konzept des „living table“ auch so revolutionär! Der Herd ist seit jeher das zentrale Stück der Küche, er hat weitaus mehr als nur einen funktionalen Zweck. Früher gab es anstelle des Herds eine Feuerstelle, um die sich die Menschen versammelten. Diese Tradition wurde beibehalten: Auch heute finden Familienzusammenkünfte häufig in der Küche statt, auf einer Party versammeln sich die Leute in der Küche. Der Herd sorgt für das Lagerfeuer-Feeling – eine Küche, in der er nicht mehr vorhanden ist, ist zwar kaum denkbar, aber wohl die Zukunft.
Wir leben im Überfluss und sind daran gewöhnt, dass die Supermarktregale immer voll sind. Gleichzeitig steigt die Ressourcenknappheit, und Importe von Lebensmitteln tragen zur Klimakrise bei. Ist diese paradoxe Beziehung zu unserem Essen ein Grund für die Klimakrise?
Lebensmittelverschwendung und das Unverständnis dafür, dass gewisse Lebensmittel mal nicht verfügbar sind, resultieren aus der geringen Wertschätzung, die wir Produkten aus dem Supermarkt entgegenbringen. Zu einem Glas Marmelade von der Oma haben wir eine andere Beziehung als zur 79-Cent-Marmelade aus dem Supermarkt – daher bin ich der Überzeugung, dass die Wertschöpfungsketten kürzer werden müssen. Erst, wenn wir besser nachvollziehen können, woher unsere Lebensmittel stammen, wie und von wem sie produziert wurden, werde wir ein nachhaltigeres Verhältnis zu unserem Essen haben. Packerlsuppe, Dosenravioli und Mikrowellenlasagne sind nicht gesund und nachhaltig – für viele, besonders für ältere Menschen und berufstätige Frauen und Mütter – aber eine Möglichkeit, ihr Leben selbstbestimmter zu leben. Diese Produkte ermöglichten vielen Frauen, arbeiten zu gehen, oder den Älteren, in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben zu können. In den Siebzigern konnten Männer ihren Frauen das Arbeiten noch per Gesetz verbieten – einige erlaubten das nur unter der Bedingung, dass abends trotzdem ein warmes Essen auf dem Tisch stehen musste. Da waren Convenience-Produkte eine Erleichterung. Meine Oma erzählt mir heute noch, wie begeistert sie war, als der Instantkaffee auf den Markt kam.
„Mütter sind auch heute noch meist für das Essen verantwortlich.“
Die Aussage „Frauen an den Herd“ kommt heute höchstens noch von rechts außen. 2019 kochten trotzdem fast achtzig Prozent der Frauen in Deutschland mehrmals die Woche in ihrer Freizeit, bei den Männern waren es nur 22 Prozent, zu anderen Geschlechtern finden sich in der Studie leider keine Angaben. Wie spiegelt sich das Patriarchat in der Esskultur wider?
Das Bild der Frau ist nach wie vor mit dem der „nährenden Mutter“ verbunden, von der erwartet wird, dass sie Kinder bekommt und diese nutritiv versorgt. Frauen stehen heute vor vielen Zwiespälten: Wollen sie „Rabenmütter“ sein, die arbeiten gehen und ihre Kinder in die Krippe schicken, oder „umsorgende, liebevolle“ Mütter, die ihre Bedürfnisse zurückstellen und jeden Tag ein warmes Essen servieren? Dann gibt es natürlich die Option, gar keine Kinder zu bekommen, womit sie in den Augen der Gesellschaft ihre Identität infrage stellen. Mütter sind jedenfalls auch heute noch meist für das Essen verantwortlich ...
... für das Frühstück, das Mittag- und das Abendessen. Wer hat sich diese Mahlzeitenfolge eigentlich ausgedacht?
Schwer zu sagen, wahrscheinlich unser Magen (lacht). Bemerkenswert ist, dass die gemeinsame Mahlzeit eine universelle Institution ist, es gibt weltweit keine menschliche Gesellschaft, von der bekannt ist, dass sie nicht gemeinsam isst. Das gemeinsame Essen macht uns Menschen gewissermaßen aus. Es ist verwunderlich, dass wir alle körperlichen Funktionen, etwa das Waschen, Zähneputzen und Fingernägelschneiden, hinter verschlossene Türen verlegt, das Essen hingegen auf ein hohes kulturelles Niveau gehoben haben. Ein Erklärungsansatz dafür ist, dass der Mensch durch die Entdeckung des Feuers begann, Mahlzeiten zu kochen, die zum gleichen Zeitpunkt fertig waren und daher gemeinsam eingenommen wurden.
„Das gemeinsame Essen macht uns Menschen aus.“
Beispiel Lakritze: Was die einen toll finden, finden die anderen total eklig. Wieso schmecken uns manche Dinge und andere nicht?
Der Geschmack hängt sowohl mit unserer Biografie als auch mit unseren Genen zusammen. Bezüglich der Biografie spielen Kindheitserfahrungen eine wichtige Rolle. Essen, das wir mit positiven Erlebnissen verbinden, schmeckt uns meist, wurden wir hingegen mal gezwungen, etwas zu essen, lehnen wir das gern ab. Gewisse Geschmackserfahrungen werden wohl auch genetisch weitergegeben, denn Föten schmecken bereits gewisse Aromen im Fruchtwasser heraus und trinken mehr davon, wenn es süß ist.
Während des ersten Lockdowns fingen viele an zu naschen, neue Kochrezepte auszuprobieren und Sauterteigbrot zu backen. Welche Funktion hat Essen in einer Krise?
In Krisenzeiten werden unsere Urinstinkte geweckt: Wenn der Körper das Signal „Gefahr“ erhält, kriegen wir automatisch größeren Hunger und essen mehr, um uns zu schützen und auf schwierige Zeiten vorzubereiten. Essen hat außerdem eine beruhigende Funktion, es aktiviert unser Nervensystem und entspannt unsere Muskeln. Gewisse Geschmäcker, meist solche, die wir mit unserer Kindheit verbinden, vermitteln uns außerdem Sicherheit und Geborgenheit.
Vielen Dank für das Interview!