Die Gelatins

Nacktheit ist ein super Kostüm!

Die vierköpfige Künstlergruppe Gelatin ist einer der wenigen internationalen Superstars der österreichischen Kunstszene. Tabuisiertem wie Nacktheit, menschlichen Exkrementen und Genitalien stellen sie sich mit geradezu kindlicher Neugier. Mit ihren sinnlichen, humorvollen, spektakulär poetischen Installationen und Performances loten sie nicht nur ihre eigenen Grenzen aus, sondern auch die des – fröhlich enthemmten bis verärgert verstörten – Publikums. 

Text: Antje Mayer-Salvi

„Wollt Ihr Euer Publikum schocken? Nein, nein, nein!“

Eure Arbeiten haben oft mit Genitalien, Scheiße, Urin, Nacktheit und immer wieder mit Löchern in allen Erscheinungsformen zu tun, warum?

Es geht uns darum, Dinge simpel zu halten. Ein Kostüm zu nähen ist zum Beispiel unglaublich viel Arbeit, also ziehen wir uns oft einfach aus. Nacktheit ist nämlich ein super Kostüm! Urin ist ein Material, das wir in uns tragen und recht unkompliziert einsetzen können. 

Viele reagieren auf Eure Arbeiten empfindlich. Wie war das bei „Arc de Triomphe“, eine nackte Männerskulptur mit erigiertem Phallus, die sich selbst in den Mund pinkelt? Sie wurde 2003 vor dem Rupertinum in Salzburg aufgestellt, musste aber bald darauf verhüllt werden, weil den Festspielgästen „der Anblick erspart“ werden sollte?

Dabei pisst der sich ja nur selbst in den Mund, er ist zufrieden, weil er sich selbst erfüllen kann. Die Figur ist glücklich, frei und hat es schön mit sich. That’s it! Da ging es doch nicht darum, zu zeigen, dass sich jemand anpinkelt, sondern um die Schönheit der Unabhängigkeit.

Wollt Ihr Euer Publikum schocken?

Nein, nein, nein! Wenn es passiert, ist es schon okay, aber das ist überhaupt nicht unsere Intention. In der Kunst gibt es keine Tabus oder Grenzen, also können wir auch keine überschreiten. Wir sind bestenfalls kindisch und suchen wie junge Buben immer eine neue Herausforderung. Im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam haben wir große Scheiße-Skulpturen gezeigt, aber das ist absolut keine „Fäkalkunst“, denn wir arbeiten ja nicht mit Scheiße. Wir scheißen auch nicht ins Museum, sondern wir machen ganz klassisch Skulpturen! 

„Jede und jeder ist Fachfrau oder Fachmann für Scheiße.“

Außerdem standen die Scheiße-Skulpturen in Rotterdam akkurat auf Teppichen!

Genau, jedes Detail ist wichtig, und die Teppiche waren die Sockel der Skulpturen. Wir finden einfach das Thema „Scheiße“ gut und interessant, weil jede und jeder dafür Fachfrau oder Fachmann ist, genauso wie sich jeder Mensch zumindest mit einem Geschlechtsteil, dem Penis oder der Vagina, eigenermaßen gut auskennen dürfte. Vielleicht hätten wir es manchmal bequemer, wenn wir als Künstler in einem Museum einfach was an die Wand hängen würden, aber für uns ist das zu schwer. Schön ist für uns, wenn Dinge einfach sind, eine Eigenständigkeit bekommen, sich entwickeln, wenn was scheinbar so passiert.

Bei den zweiwöchigen Dreharbeiten zu Eurem ersten langen Film in der Kunsthalle Wien im Sommer 2019 im Rahmen der Ausstellung "Stinking Dawn" war das Set öffentlich zugänglich, es war ganz schön viel los. Bei manchen Szenen hatte man den Eindruck, sie wären improvisiert oder aus einem spontanen Impuls heraus entstanden. Wie viel ist bei Euren Arbeiten geplant, wie viel ist dem Chaos und dem Zufall geschuldet?

Wenn man ein Bild malt, trägt man unmittelbar Farbe auf, reagiert, fügt hinzu, nimmt weg; auch wenn man eine Skulptur mit den Händen fertigt, sieht man sofort, was man geschaffen hat. Hier war das anders. Wir hatten natürlich in der Vergangenheit schon mal mit Video gearbeitet, aber noch nie einen längeren Film produziert, der festgelegte Szenen vorsieht. Es gab sogar ein Drehbuch, zumindest ein Skelett davon.

„Nach dem Fußmalen wird nun auch das Popomalen von uns in den Kunstkanon eingeführt.“

Wirklich! Wir sind neugierig, was war genau die Handlung?

Vier junge Möchtegerns bilden sich ein, mit etwas, das sie als Post-Linksradikalismus bezeichnen, die Welt verbessern zu können. Sie fetzen sich, langweilen sich im Anschluss und am Ende wird alles zerstört. So ungefähr oder auch anders. Es gibt verschiedene Handlungsorte: eine Unterwäschefabrik und eine Mine, wo mit langen Pinseln, die in Popos stecken, versucht wird, Kreise zu zeichnen. Nach dem Fußmalen wird nun auch das Popomalen von uns in den Kunstkanon eingeführt.

Das waren intensive Drehtage. Fühlt Ihr Euch nach solchen, zuweilen sehr intensiven, Performances und Aktionen befreit?

Wir sind immer erleichtert, wenn sich bei unseren Performances – und auch bei diesen Dreharbeiten – niemand verletzt hat. Passiert fast nie. Unsere Aktionen wirken oft sehr gefährlich, sind aber natürlich vorher abgecheckt. Wir sind ja nicht lebensmüde. In diesem Sinne ist man zufrieden. Befreit sind wir aber insofern nicht, da es ja auch im Vorfeld schon nichts bringt, bei irgendeiner Arbeit nervös oder zwanghaft zu werden – die große Kunst ist, bei dem, was man tut, fröhlich zu bleiben.

„Für unsere Familien ist so eine Zeit beinhart.“

Viele Eurer Performances sind sehr anstrengend. Es gibt ständig wechselnden Protagonistinnen, und oft überdimensionierte Kulissen. Es wird oft mit Live-Publikum gearbeitet. Gibt es da nicht zuweilen auch mal einen Punkt, an dem man gar nicht mehr so fröhlich ist?

Körperlich ist das alles immer sehr anstrengend, aber viel herausfordender ist es oft mental – in erster Linie für unsere Familien und Partnerinnen. Für die ist so eine Zeit beinhart. Du bist ja zwei Wochen komplett weg. Selbst wenn du jede Nacht nachhause kommst, steckst du mit jeder Faser deines Geistes gedanklich in einer komplett anderen Welt, und das ist für deine Familie nicht lustig, die fühlt sich da schnell mal zurückgesetzt. Deswegen verstehen wir auch, wenn bei jeder Oscar-Verleihung sofort den Partnerinnen gedankt wird.

Ihr arbeitet oft mit Publikum. Benimmt es sich immer gut?

Das Publikum benimmt sich schon ganz gut, es miteinzubeziehen ist immer eine bewusste Entscheidung von uns. Zuschauerreaktionen haben ja immer auch etwas Motivierendes. Kunst schafft immer einen Dialog zwischen der Arbeit und den Betrachterinnen. Und selbst wenn unser Dreh negative Reaktionen bei den Zuschauerinnen ausgelöst hat und Leute gesagt haben: „Das könnten ja auch Kinder machen“ – dann ist das doch das schönste Kompliment überhaupt!

Seid Ihr Eurem Nachwuchs manchmal peinlich?

Es gibt natürlich Phasen, in denen Eltern ihren Kindern peinlich sind, aber vielleicht haben sie ja in unserem Fall recht, und wir sind tatsächlich irgendwo stecken geblieben ...

Gefällt Euren Eltern die Kunst von Gelatin?

Teilweise finden sie das, was wir machen, peinlich und genieren sich dafür. Wenn sie dann aber unsere Namen in der Zeitung lesen und merken, dass die Nachbarinnen über uns sprechen, dann finden sie das schon super. Das macht sie auch ein bisschen stolz. 

„Immer, wenn man nicht mehr so gut miteinander kann, lädt man sich eine dritte Partei hinzu – die ist dann der neue Feind.“

Häufig wirken bei Euren Aktionen und Arbeiten „befreundete Künstlerinnen“ mit. Habt Ihr viele Freundinnen?

Ich glaube, wir haben tatsächlich gar nicht so viele Freunde und Freundinnen. „Befreundete Künstlerinnen" einzuladen ist so eine Strategie von uns: Wir glauben nämlich, wir benehmen uns ein bisschen besser, wenn wir Leute dazu einladen. Das ist ein guter Trick, um das Klima untereinander positiv zu halten und die interne Zusammenarbeit zu stärken. Immer, wenn man gerade mal nicht mehr so gut miteinander kann, lädt man eine dritte Partei hinzu. Die ist dann der neue Feind, der „Außenfeind“ oder „Außenfreund“ quasi. 

Was kommt als Nächstes?

Jetzt kommt erst mal wieder jeden Sonntag Depression. 

„Jetzt kommt erst mal wieder jeden Sonntag Depression!“

Nach dem Hoch kommt also das Tief. Wie geht Ihr damit um?

Es hilft auf jeden Fall, in so einem Fall die Gruppe zu haben und zu wissen, dass schon wieder irgendwas passieren wird. Wir empfehlen Literatur und Bewegung – ganz einfache Dinge. Sich jeden Abend künstlich zu berauschen, ist da eher kontraproduktiv – auch für die Kreativität.

Eine Menge Künstlerinnen und Musikerinnen würden Euch da widersprechen ...

Der Rausch ist schon wichtig, aber künstlich erzeugter Rausch bringt nichts im künstlerischen Prozess. Rausch sollte in der Regel etwas sein, das dich abschalten lässt, weil du vielleicht schon zu tief in etwas drin steckst. Versteh uns nicht falsch, wir haben gar nichts gegen Alkohol oder Drogen per se. Die können schon helfen, sich im künstlerischen Prozess zu lockern. Aber man kann im Vollrausch keine Kunst machen. Basta!

Basta! Danke für das Gespräch!

Die international bekannte Gruppe Gelatin besteht aus vier Wiener Künstlern, Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban. Die vier haben sich 1978 als Kinder in einem Ferienlager kennengelernt und arbeiten angeblich seitdem zusammen. International sind sie jedenfalls seit 1993 künstlerisch aktiv. 

Ihre humorvollen, spektakulär-poetischen Installationen und Performances sind meist körperlich und intim angelegt. Sie beziehen Künstlerfreundinnen und das Publikum mit ein und beschäftigen sich mit der Überwindung und dem Ausloten von Grenzen. 

Ihre Arbeiten waren international zu sehen u. a. im Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam; in der Fondazione Prada, Mailand; im Musée d’art moderne de la Ville de Paris; im Kunsthaus Bregenz, im 21er Haus in Wien; auf der Manifesta 11 in Zürich, der 49. und 54. Biennale di Venezia, der Liverpool Biennial und  der EXPO 2000.

Die Grenztänzerin

Text: Lena Stefflitsch

Was haben Pirouette, Plié und Pas de deux mit Pornos zu tun? Die formalisierten Ballettposen waren ursprünglich dazu gedacht, „männliche Zuschauer aufzugeilen“, erklärt uns die gefeierte Wiener Choreografin Florentina Holzinger. Ihre Performances brechen mit dem rigiden Schönheits- und Körperkult des klassischen Balletts. Denn die einzigen Grenzen sind die eigenen – und diese gilt es für die widerständige Künstlerin immer wieder zu überwinden.