Abseits der Norm
Susanne Kircher ist Humangenetikerin. Sie beschäftigt sich mit seltenen genetischen Stoffwechselerkrankungen, die zu körperlichen Abnormitäten führen. Sie ist eine absolute Koryphäe auf ihrem Gebiet und ist liebenswürdig bemüht, Laiinnen komplizierteste Sachverhalte verständlich zu erklären. So auch uns. Ein Gespräch über Gene, Gott und Gargoylismus.
„Gestresst bin ich erst, seit mein Mann in der Pension ist.“
Viktoria Kirner: Danke für die Einladung ins Zentrum für Pathobiochemie und Genetik hier an der Medizinischen Universität Wien. Sie wirken etwas außer Atem, hatten Sie einen stressigen Tag?
Susanne Kircher: Wissen Sie, richtig gestresst bin ich erst, seit mein Mann in Pension ist. Seitdem kommt es mir so vor, als säße er zu Hause in seinem Ohrensessel und wartete mit der Stoppuhr auf mich. Der Arbeitsalltag einer Medizinerin verträgt sich aber nun mal nicht mit einer Stoppuhr.
Sie befassen sich mit seltenen genetischen Erkrankungen, erforschen Genpools, also eine Summe von Genvariationen, und entdecken „fehlerhafte“ Gene. Wie viele Genfehler bringt die Natur hervor?
Ich würde sie nicht als „Fehler“ bezeichnen, denn das bedeutet immer, dass etwas falsch ist. Sprechen wir bestenfalls von Varianten: Zurzeit kennen wir in etwa 25.000 Gene, wobei wir im Moment etwa 7.000 dieser Gene eine Krankheit zuordnen können. Insgesamt sind in einem Menschen aber hunderttausende verschiedene Genvarianten, die ihn von anderen Menschen unterschieden. Man könnte sagen: Jeder Mensch ist seine Summe aus eigenen Varianten.
„Es gibt keine Fehler, bestenfalls Varianten.“
Wie wird man Genetikerin?
Gelandet bin ich hier über ein paar Umwege – von der Gynäkologie in die Pathologie und letztlich zur Labormedizin. Als ich dann hier im Haus mit der Ausbildung begonnen habe, wurde ich mit einem äußerst ungewöhnlichen Fall betraut: Ich musste die Harnproben von Personen mit sogenanntem „Gargoylismus“, eigentlich Mukopolysaccharidose, untersuchen. „Gargoyles“ sind Wasserspeier. Die Gesichter der Menschen mit dieser Krankheit sind deformiert und ähneln jenen, daher auch der informelle Name. So bin ich irgendwie in das Gebiet der seltenen genetischen Erkrankungen mit abnormen körperlichen Erscheinungsbildern hineingestolpert – es hat mich von Anfang an fasziniert.
„Gargoyles“ haben also den Grundstein für Ihre Faszination vom „genetisch Ungewöhnlichen“ gelegt?
Eigentlich wurde dieser Grundstein sogar noch ein bisschen früher gelegt: Im Rahmen meiner Pathologieausbildung musste ich eine junge Frau obduzieren, die innerlich verblutet war, da unerklärlicherweise eines ihrer Gefäße abgerissen war. Die Untersuchungen zeigten, dass sie eine seltene genetische Bindegewebserkrankung hatte, das sogenannte „Ehlers-Danlos Syndrom“. Diese Krankheit gibt es bereits seit mehr als hundert Jahren, die Forschung dazu steckt aber noch in den Kinderschuhen. Mit dieser ungewöhnlichen Erkrankung beschäftige ich mich bis heute.
Das Ehlers-Danlos-Syndrom? Noch nie gehört! Erklären Sie mir das bitte!
Das wundert mich gar nicht. Die wenigsten Ärzte können mit diesem Begriff etwas anfangen. Bei Menschen mit diesem Syndrom produziert der Körper zu wenig Kollagen, das natürliche Korsett, in dem wir alle stecken, nämlich das Bindegewebe, ist brüchig, schlaff und erfüllt nicht die nötige Stützfunktion. Der Körper sinkt zusammen, Wirbelsäuleninstabilitäten, Bandscheibenvorfälle, Gelenkbeschwerden oder Luxationen sind die Folge. Bei bestimmten EDS-Typen können aber auch die Organe und Gefäße – wie bei der jungen Frau aus meiner Geschichte – betroffen sein. Andere verlieren Zähne oder ihre Augäpfel reißen ein.
„Schlangenmenschen galten lange als exotische Attraktionen im Zirkus.“
Wie kann es sein, dass man von einer Krankheit, die derart essenzielle Körperregionen beeinträchtigen kann, noch nie etwas gehört hat?
Wissen Sie, woher Sie Menschen mit dieser Krankheit vielleicht kennen könnten? Früher nannte man sie „Schlangenmenschen“: Die Haut der Betroffenen ist extrem dehnbar, die Sehnen und Bänder sind sehr lasch, sie sind daher extrem biegsam und beweglich. Schlangenmenschen galten lange als exotische Attraktionen im Zirkus.
Haben alle ungewöhnlich beweglichen Akrobatinnen im Zirkus in Wahrheit das Ehlers-Danlos-Syndrom?
Früher ja, heute nein. Ich bin mir sicher, dass jene Schlangenmenschen, die früher im Zirkus oder in sogenannten „Freakshows“ gezeigt wurden, EDS oder zumindest eine andere Form von Bindegewebserkrankungen hatten. Sie besaßen diese Besonderheit, ohne dass man sie extra darauf getrimmt hatte. Das, was man heute im Zirkus sieht, sind Menschen, die ihren Körper für diese Höchstleistungen hart trainiert haben.
Uns faszinieren die körperliche Perfektion wie auch die Imperfektion gleichermaßen. Woher kommt unser Voyeurismus angesichts körperlicher Abnormitäten?
Menschen sind seit jeher von „dem Anderen“ und „dem Neuen“ angezogen. Im Wiener Prater gab es Ende des 19. Jahrhundert regelrechte „Menschenzoos“. In den 1890er-Jahren wurden dort der afrikanische „König Aschanti“ und sein Dorf wie wilde exotische Tiere in Käfigen gehalten und der Schaulust von abertausenden Besucherinnen und Besuchern preisgegeben. In der Geschichte finden sich unzählige dieser Beispiele. Einer der Abgründe der Menschheit, wenn Sie mich fragen.
Anders aussehende Menschen mussten also primär herhalten, um die Schaulust zu befriedigen.
In manchen Fällen ging es nicht nur um die Befriedigung der Schaulust, häufig haben anders aussehende Menschen auch wichtige Funktionen erfüllt. Kleinwüchsige Menschen waren – etwa in Zeiten der Monarchie – hoch angesehen: Viele von ihnen waren außerordentlich klug und wurden von den Herrschern als enge Berater „gehalten“. Sie waren die Einzigen, die unverblümt sagen durften, was Sache ist. Im Gegensatz zu allen anderen waren sie vermeintlich nicht auf die Gunst des Herrschers angewiesen, da sie ohnehin bereits aufgrund ihrer Abnormität einen gesellschaftlichen Sonderstatus und somit nichts zu verlieren hatten.
Haben Sie jemals „Game of Thrones“ gesehen?
Nein, warum?
Der zwergwüchsige Tyrion Lannister ist „die Hand“, also engster Berater der Königinnen und gilt als intelligentester Charakter der Serie ...
Na sehen Sie! Ethisch und moralisch unkritisch zu betrachten sind derartige Fälle natürlich nicht.
Mit welchen ethischen oder moralischen Konflikten sind Sie und Ihre Kolleginnen konfrontiert?
In der Beratung stoßen wir manchmal an die Grenzen von Glauben und Religion: Es gibt Patientinnen und Patienten, die eine schwerwiegende genetische Erkrankung haben und diese mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weitervererben werden. Sie betrachten ihre Krankheit aber als „gottgegeben“, und der eventuell eintretende Fall, diese an ihr Kind weiterzugeben, ist dann eben göttliche Bestimmung. Sie sind beratungsresistent, der „liebe Gott“ hat es schließlich so gewollt.
„Ich glaube an eine Energie, die uns steuert.“
Was ist Ihre Meinung zu Gott? Kann man als Humangenetikerin an die göttliche Schöpfung glauben?
Ich habe lange Zeit in der Pathologie gearbeitet. Sie war der Ort, an dem mir klar wurde, dass es mehr als nur die menschliche Hülle geben muss. Das klingt jetzt vielleicht esoterisch, aber das, was Menschen von Nahtoderfahrungen erzählen, habe ich im Seziersaal unglaublich oft gespürt. Ich war zwar allein mit den Verstorbenen, aber eigentlich nicht allein. Ich glaube an eine Energie, die uns steuert. Wer diese Energie lenkt, wo sie nach dem Tod hingeht, ob sie danach ins Universum freigesetzt wird – die Antworten übersteigen mein Wissen. Als Genetikerin versuche ich, alles zu erklären, was ich sehen und fassen kann, aber insgeheim weiß ich, da gibt es noch viel mehr. Das könnte vielleicht auch ein Gott sein.
Gibt es für Sie das „perfekte“ Gen?
Es gibt für mich kein perfektes Gen, aber vielleicht einen perfekten Genpool – nämlich einen, der keine Krankheiten hervorbringt.
Was ist für Sie persönlich der schwerwiegendste genetische Defekt?
Genetische Defekte sind immer dann schlimm, wenn sie nicht erkannt werden. Besonders betroffen macht es mich, mitzuverfolgen, wie junge Ehlers-Danlos-Patienten sozial an den Rand geraten. Nicht nur, dass sie aufgrund der körperlichen Beeinträchtigungen häufig ihren Beruf nicht mehr ausüben oder unter Leute gehen können, oft werden sie auch nicht ernst genommen. Nach langen unbehandelten Beschwerden treten früher oder später zwangsläufig psychische Begleiterkrankungen, wie etwa Depressionen, auf. Sind jene erst einmal diagnostiziert, sind viele Ärzte der Ansicht, dass die eigentlich genetisch bedingten körperlichen Probleme psychosomatisch seien. Ein Teufelskreis, der die Patientinnen und Patienten mitunter bis in den Suizid treibt.
„Die Gentherapie halte ich für eine der sensationellsten Entdeckungen überhaupt.“
Welches Schicksal hat Sie in den vergangenen Jahren am meisten mitgenommen?
Das einer jungen Mutter, die mit Verdacht auf EDS zu uns gekommen ist – was wir letztlich aber nicht bestätigen konnten. Ihre Diagnose kenne ich bis heute nicht. Sie litt unter einer so schweren Form von Muskelschwäche, dass sie es nicht mal mehr schaffte, ihr kleines Baby aus dem Gitterbett zu heben und im Arm zu halten.
Mich berühren auch jene Fälle, in denen im Laufe meiner genetischen Beratung einer ganzen Familie immer wieder Verwandte an den Folgen des vererbten Gendefekts sterben. Das macht mich selbst nach 35 Berufsjahren noch immer unfassbar betroffen.
Die Technologie im Bereich der Gentherapie ist mittlerweile weit fortgeschritten, sogenannte Geneditierungsmöglichkeiten öffnen Türen zu bislang unbekannten Therapiemöglichkeiten. Inwiefern kann man „kranke“ Gene heilen?
Die Gentherapie halte ich für eine der sensationellsten Entdeckungen in der Genetik überhaupt. Man wird in Zukunft Menschen sehr individuell therapieren können, indem man ihre Genanlagen beeinflusst. Bei einer Reihe von Krankheiten versucht man bereits jetzt, durch Gentherapie Krankheitsverläufe abzumildern oder zu stoppen. Durch die sogenannte „Stop codon read-through“-Therapie verzeichnet man beispielsweise bereits erste Erfolge bei Mukoviszidose-Patienten.
Wie kann man sich das vorstellen? Züchtet man einfach gesunde Gene in der Petrischale?
Fast. Bei bestimmten Erkrankungen, bei denen ein Gen fehlerhaft einzelne Genprodukte nicht bilden kann, gibt es bereits Medikamente, die zugeführt werden, damit ein gewisses Genprodukt doch gebildet wird oder verfügbar ist. Gentherapie bedeutet auch, dass man fehlerhafte Gene zwar im Körper belässt, zusätzlich aber korrekte Gene über virale Vektoren einbringt. Wenn das eigene Gen nicht das gewünschte Genprodukt bilden kann, so kann es dann das Neuzugeführte – das ist revolutionär! Uns erwartet hier eine große Zukunft!
Aber nicht nur in der Gentherapie werden diese Editierungsmöglichkeiten genutzt. Durch den Einsatz von sogenannten CRISPR-Technologien besitzen Wissenschaftlerinnen ein Werkzeug zur Schaffung von eigens designten Organismen. Gene können theoretisch bereits in Ei- oder Samenzellen verändert werden.
Man könnte sich ein eigenes „Designerbaby“ bauen. Beobachten Sie den Stand der Technik im Bereich „Genetik“ nicht auch mit ein bisschen Bauchweh?
Diese Form von Geburtenkontrolle oder Präimplantationsdiagnostik ist in Österreich zum Glück nicht erlaubt. Allerdings wird diese genetische Manipulation von Embryonen in manchen Ländern – verbotenerweise –, beispielsweise in China, heutzutage schon realisiert. Man manipuliert Genanlagen oder betreibt eine „Selektion“ von Embryonen, was moralisch und ethisch sehr umstritten ist. Dieses Thema bereitet mir tatsächlich ein bisschen Bauchweh, denn hier gilt es für die Genetik, in Zukunft noch viele Grundsatzfragen zu klären.
Hätten Ihre Eltern Ihren Embryo designen können, welche Eigenschaften hätten Sie sich für sich selbst gewünscht?
Ich bin mit meinen natürlich vererbten Eigenschaften ganz zufrieden. Meine Eltern sind beide sehr alt geworden, ich hoffe das haben sie mir vermacht. Dann kann ich zumindest noch ein paar Pensionsjahre mit meinem armen Mann gemeinsam verbringen (lacht).
Ihr Gatte freut sich auf Ihre Pensionierung?
Und wie. Immerhin habe ich ihm aber schon das Zugeständnis abgerungen, dass ich auch in der Pension noch denken darf. Ich werde sicherlich auch dann noch Wissenschaftliches publizieren. Schließlich ist all dieses Wissen in mir drin. Wo soll das denn sonst hin? Ins Universum?
Vielen Dank für das Gespräch!