Die Kunst der Künstlichkeit
Vor zwanzig Jahren landete Jessica Hausner mit ihrem ersten Spielfilm Lovely Rita prompt in Cannes, heute ist sie eine der international renommiertesten österreichischen Filmemacherinnen. Das Filmfestival Diagonale, das von 8. bis 13. Juni in Graz stattfindet, widmet ihr heuer den Schwerpunkt zur Person – ein guter Anlass, um über ihr Schaffen, ihre Lust am Unheimlichen und ihre Rolle als Mitglied der Oscar-Jury zu sprechen.
„Mich interessiert das Unoriginelle am Menschen.“
Lara Ritter: Ob im Science-Fiction-Film „Little Joe“ durch gruselige Sound-Effekte oder im Thriller „Hotel“ durch das düstere Setting – wieso erzeugen Sie mit Ihren Filmen so gerne Unbehagen?
Jessica Hausner: Weil Unbehagen dann entsteht, wenn das, was wir für sicher halten, ins Wanken gerät. Wir gehen immer davon aus, dass die Welt genauso ist, wie wir sie wahrnehmen, das ist die Voraussetzung, mit der wir jeden Tag verbringen. In dem Moment, in dem man sich bewusst wird, dass ein anderer Mensch in einer anderen Welt lebt, wird die Realität brüchig und es entsteht ein Gefühl der Unheimlichkeit. Mit meinen künstlichen Filmsettings betone ich, dass es eine „echte“, authentische Umgebung gar nicht gibt.
Sie meinten mal, Filme hätten die Zauberkraft, das auszudrücken, was nicht gesagt werden kann und erlauben, in einen vorsprachlichen Zustand zurückzukehren ...
Als Teenagerin wollte ich Schriftstellerin werden und hatte oft das Gefühl, dass mir die Worte fehlen. Mich störte, dass bei dem Versuch, Dinge zu benennen, viel Unschärfe entsteht. Das Leben ist vielfältiger, als die Sprache es beschreiben kann. Ein Bild hingegen kann nicht verallgemeinern.
Sie waren sechzehn Jahre alt, als Sie von Ihren Eltern ein Buch über „Die Großen der Welt“ geschenkt bekamen. Sie fanden darin nur Marie Curie unter vielen Männern und träumten davon, auch einmal zu den „Großen“ zu zählen. Mit achtzehn begannen Sie, nach der Matura auf der Filmakademie in Wien bei Axel Corti zu studieren. Was für eine Stimmung herrschte damals an der Filmakademie?
Wenn wir von der Gleichstellungsdebatte ausgehen, war das Anfang der 90er Jahre eine ganz andere Situation als heute. Damals gab es kaum Filmemacherinnen, die mir Vorbilder hätten sein können. Es war die Stunde Null, eine Art Brachland, das vor mir lag. Das gab mir aber auch wahnsinnige Freiheiten. Mein Professor Wolfgang Glück sagte zu mir: „Mach, was du willst!“ Was ich machen wollte, war aber gar nicht leicht herauszufinden. Bei meinem Kurzfilm „Flora“ hatte ich das erste Mal das Gefühl, einen Zugang zum Filmemachen gefunden zu haben, der mir gefällt.
„Stunde Null.“
Auf welchen Filmsets arbeiteten Sie damals?
Unter anderem auf Sets von Peter Patzak, Xaver Schwarzenberger und Michael Haneke. Ich hatte bei Haneke einen super Job als Videoassistentin und war dafür verantwortlich, nach jeder Aufnahme für ihn einen Hocker und Lichtschutz aufzustellen und den richtigen Take rauszusuchen. Dadurch war ich ganz nah an seiner Regiearbeit dran und bekam mit, wie er welchen Take fand, was er änderte und wieso.
Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie Regie führen?
Was ich von damals mitgenommen habe, ist die Genauigkeit, mit der Haneke arbeitete und das Mitdenken des Schnitts beim Dreh. Gleichzeitig ist mir auch Spontanität wichtig. Bevor ich drehe, probe ich alles genau, aber wenn wir dann drehen, machen die Schauspieler und Schauspielerinnen trotzdem manchmal etwas Ungeplantes. In solchen Momenten erwachen die Szenen zum Leben.
Mit Ihrem ersten Spielfilm „Lovely Rita“ erzählen Sie die Geschichte eines pubertierenden Mädchens, das mit seiner Sexualität alle überfordert und unerwartet einen Mord begeht. Ihr Einsatz war immens. Sie casteten über 500 Mädchen, bis sie die Besetzung für Rita gefunden hatten und recherchierten am Jugendgerichtshof Fälle junger Frauen, die jemanden umgebracht hatten.
Ich war auf der Suche nach einer Täterin. In den damaligen Filmen waren es meist Männer, die jemanden umbrachten. Vatermord war ein Klassiker, beruhend auf der ödipalen Idee Sigmund Freuds, dass es für einen jungen Mann ein Befreiungsschlag sein kann, den Vater zu töten. Ich wollte das Gegenteil einer in sich geschlossenen psychologischen Analyse à la Freud. Mich interessierte die Sinnlosigkeit der Gewalttat. Ich ging zum Jugendgerichtshof, wo es vier Fälle junger Frauen gab, die in den letzten 20 Jahren jemanden ermordet hatten. Einen dieser Fälle, den einer jungen Frau, die versucht hatte, ihre Eltern zu erschießen, nutzte ich als Inspiration und las die Gerichtsprotokolle. Die Motivationskette war bei diesem Fall nicht schlüssig, es hätte genauso gut nicht passieren können.
„Wir sind im Internet sehr streng miteinander.“
Mit dem Film debütierten Sie 2001 neben Barbara Albert zur wichtigsten Vertreterin einer neuen Jugendbewegung. Empfanden Sie das österreichische Kino damals als verstaubt?
Ich fand es sehr einseitig, weil vor allem Kabarettfilme gedreht wurden, in denen stets derselbe Humor gefragt war. Ich wollte internationale Arthouse-Filme machen, in Österreich interessierte das zu der Zeit niemanden. Die Filme von Ulrich Seidl etwa wurden in den Medien damals stark kritisiert, weil sie sich nicht eindeutig in das Genre einer Dokumentation oder eines Spielfilms einordnen ließen. Heutzutage lächelt man darüber, weil diese Genreeinteilung längst aufgebrochen wurde und Seidl ist mittlerweile einer der erfolgreichsten internationalen Arthouse-Regisseure.
Welche Themen beschäftigten Sie als junge Filmemacherin?
Ich wurde groß in einer Welt, in der sich die Disziplinargesellschaft mit der Leistungsgesellschaft die Hand gab, und kämpfte an gegen den Konformitätszwang, der einem abverlangt wurde. Heute ist dieser jedoch nicht geringer, sondern nur subtiler geworden. Wir haben mehr Freiheiten, sind aber vor allem im Internet sehr streng miteinander.
„Wieso verstehen die das nicht?“
Ihre Filme sind ja auch ein gewisser Kommentar zu dieser Konformität. Die Persönlichkeiten der Charaktere verblassen oft hinter den gesellschaftlichen Rollen, die sie einnehmen. Dieser „seltsam unbeteiligte, distanzierte Blick auf die Figuren und ihre Bestreben“ sei eines Ihrer auffallendsten Stilmittel, schrieb Kritiker Dominik Kamalzadeh über Ihre Filme.
Mich interessiert das Unoriginelle am Menschen, nämlich der Punkt, an dem wir alle mehr oder weniger gehorchen. Immer wieder frage ich mich: „Ist das gerade wirklich das, was ich sagen will?“ Ich denke, dass wir gar nicht in der Lage sind, uns von den Glaubenssätzen der Gesellschaft ganz loszulösen, weil die Beeinflussungsmechanismen von klein auf so massiv sind. Mit meinen Filmen würde ich gerne zum Nachdenken darüber anregen, dass man Teil einer Maschine ist, denn das ermöglicht, das eigene Leben besser zu verstehen und sich mit anderen Augen zu sehen.
Welche Rolle nehmen Sie als bekannte Regisseurin in dieser Maschine ein?
Verantwortung habe ich vor allem als Lehrende, denn was ich meinen Studierenden sage, hat Gewicht. Als Regisseurin bin ich auf Augenhöhe mit dem Publikum und vor allem mir selbst gegenüber verantwortlich, das auszudrücken, was mir wichtig ist. Ein Filmprojekt ist immer eine Forschungsreise, da weiß ich oft nicht, welche Erkenntnisse ich haben werde, sondern nur, dass es wichtig ist, weiterzuforschen.
Wann gerieten Sie im Laufe Ihrer Karriere an einen Wendepunkt?
Als ich meinen zweiten Spielfilm „Hotel“ veröffentlichte. Es sollte ein Genrefilm sein, in dem das Genre negiert wird, ein Horrorfilm, in dem das Monster fehlt und bei dem sich alle vor etwas fürchten, das gar nicht existiert. Vielen Zuschauern fehlte aber das Ende, irgendjemand schrieb im Internet, der Film sei wie „Jaws without the shark“. Die zwiespältige Reaktion des Publikums verunsicherte mich sehr. Ich dachte mir: „Wieso verstehen die das nicht?“ Das war der erste Moment, in dem ich als Regisseurin merkte, dass ich an eine Grenze dessen stieß, was ein Publikum gerne erträgt. Die Filme, die ich jetzt mache, sind immer noch rätselhaft und handeln von widersprüchlichen Wahrheiten, aber ich füge bestimmte Elemente ein, die diese verständlicher, nachvollziehbarer und vielleicht auch lustvoller machen sollen.
„Ein Filmprojekt ist immer eine Forschungsreise.“
Als Mitglied der Oscar-Academy wählen Sie jedes Jahr in verschiedenen Kategorien jeweils drei Filme aus, aus denen sich die Nominierungen ergeben. Aus diesen werden dann die Oscar-Gewinnerfilme gewählt. Der Jury wird immer wieder vorgeworfen, zu konservativ zu sein, zu brave Filme auszuzeichnen und Regisseurinnen zu ignorieren. Wie sehen Sie das?
Ich finde, das ändert sich gerade stark, denn in diesem und im letzten Jahr waren viele Independent-Filme dabei, einige davon von Frauen. Als ich mit Filmemachen anfing, waren die Oscars für mich eher eine Beleidigung – die standen für blöden Kommerz und oberflächliches Tschim-Bum-Kino. Cannes war viel wichtiger, das stand für künstlerische Filme. Mittlerweile ist man in Cannes froh, wenn Hollywood-Stars kommen und Hollywood ist froh, wenn interessante Regisseurinnen Filme mit Inhalt machen. Es wird immer wieder behauptet, dass Kommerz- und Kunstfilm auseinanderdriften, aber ich habe das Gefühl, es passiert gerade das Gegenteil. Ein Arthouse-Film muss heute auch kommerziell funktionieren, Kommerz-Filme werden wiederum origineller.
„Die Oscars waren eine Beleidigung.“
Streaming-Plattformen wie Netflix und Co. nehmen zunehmend den Markt ein. Besteht die Gefahr einer Monopolisierung?
Sicher, andererseits gründen viele Verleiher gerade eigene Streamingplattformen. Dass sich das Filmeschauen ins Internet verlagert, sehe ich nicht unbedingt negativ, sondern auch als eine Bereicherung, da es dort einen viel diverseren Umgang mit verschiedenen Formaten gibt. Im Moment werden etwa viele Mini-Serien produziert und auch das Seitenverhältnis 3:4 taucht wieder auf.
Seit vergangenem Jahr haben Sie als erste Frau an der Filmakademie Wien die Professur für Regie inne. Welche Trends beobachten Sie?
Gender ist gerade ein wichtiges Thema. Die klassischen Geschlechterrollen lösen sich zunehmend auf und auf Klischees wird verzichtet zugunsten unterschiedlichster Möglichkeiten, sich auszudrücken und zu sein. Diese Veränderung erfolgt nicht mit einem revolutionären Duktus, sondern mit einer lässigen „Das ist jetzt normal“-Attitüde. Das finde ich toll.
Ihr Vater Rudolf Hausner war ein bekannter österreichischer Künstler und bedeutender Vertreter der Wiener Schule des Phantastischen Realismus. Wie wuchsen Sie auf?
Bei uns zu Hause wurde nur über Kunst geredet, meine Mutter und meine Schwester sind ebenfalls Malerinnen. Wir verbrachten unsere Urlaube nicht am Meer, sondern in Museen, einmal waren wir eine Woche in Madrid und gingen jeden Tag ins Museo del Prado, wo wir jeden Tag einen anderen Trakt besuchten. Meine Eltern konnten drei Stunden lang vor einem Bild stehen, meine Schwester und ich hatten gar keine andere Wahl, als dabei zu sein, und bekamen genau mit, wie Bilder komponiert werden. So fad mir das damals erschien, so sehr ist es Teil meines Erfahrungsschatzes geworden.
Wie sehen Sie die Zukunft des österreichischen Films?
Es stellt sich natürlich für alle in der Branche die Frage, was aus dem Kinofilm wird und in welcher Form es diesen noch geben wird – ob es sich um einen aussterbenden Dinosaurier handelt und Kinofilme in Zukunft wie museale Stücke behandelt werden, oder ob Kino ein subventionierter Kulturbetrieb werden wird, frei vom Kommerzdruck. Ich mache jedenfalls weiterhin die Filme, die ich machen möchte.
Vielen Dank für das Gespräch!