Von der Wiederkehr der Geschichte(n)
Die Ukrainerin Yana Barinova leitete mit nur 32 Jahren das Kulturamt der Stadt Kiew und ist im März mit ihrer 13-jährigen Tochter nach Wien geflüchtet. Mit dem Statement Ukraine, dem Programmschwerpunkt der diesjährigen viennacontemporary (8.-11.9.) macht Barinova das, was sie am besten kann: Leute zusammenbringen und anpacken. Über ein Leben für die Kunst in Zeiten des Krieges.
„Wir haben unser Leben geliebt.“
Eva Holzinger: Yana, Du wurdest mit nur knapp über 30 Jahren Kulturstadträtin in Kiew. Hier in Wien bist Du Projektmanagerin für Europapolitik und Ukraine für die ERSTE Stiftung und Development Director bei der viennacontemporary. Eine persönliche Frage am Anfang: Woher nimmst Du Deine Kraft?
Yana Barinova: Meine Mutter bekam mich mit nur 20 Jahren. Sie war enorm stark. Sie nahm mich überall mit hin, ich war bei ihr, als sie ihr Studium beendete und Praktika absolvierte. Ich glaube, dass ich deshalb sehr früh schon sehr ambitioniert war. Ich besuchte eine Mathematik-Schule, das bedeutete drei Mal am Tag Mathematikunterricht. Das hat mich geprägt. Es gab damals ein zehnjähriges Schulsystem, deshalb habe ich bereits mit 16 Jahren studiert. Mein Herz schlug für die Philosophie, meine Eltern wollten aber, dass ich etwas „Nützliches“ lerne, also habe ich mich zusätzlich zur Philosophie noch für Wirtschaft und Recht eingeschrieben.
Hat die Mathematik Dein Denken geprägt?
Das Leben ist wie eine Mathematikaufgabe. Jedes Problem, jede Herausforderung ist etwas, das man dekonstruieren kann, eine Gleichung mit verschiedenen Variablen, für die man eine Formel finden muss. Mathematik und Philosophie in Kombination hilft mir heute noch, die Logik hinter unterschiedlichsten Prozessen zu verstehen.
„Wie eine Mathematikaufgabe“
Wie würdest Du die Kunstszene in Kiew und der Ukraine vor dem Krieg beschreiben?
Sehr lebendig, divers, freundlich. Wir haben unser Leben geliebt. Man war Teil vieler Transformationsprozesse, die ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugt haben, Zugehörigkeit zu Reformen, zu etwas Neuem. Das ist vielleicht der große Unterschied zwischen der „alten Welt“ und der Ukraine. Hier in Wien ist man Rezipientin von bestehenden Regeln und Traditionen, in der Ukraine haben wir diese Regeln alle aktiv mitaufgebaut. Es entstand gerade eine Demokratie und wir waren stolz, dazu einen Beitrag zu leisten.
Hast Du Angst davor, dass wir uns im Westen an den Krieg gewöhnen werden?
Die Menschen werden sich an den Krieg gewöhnen, weil, wie es ausschaut, auf kurze Sicht niemand vermag, Putin zu stoppen. Die größte Gefahr für die Ukraine liegt in der Gleichgültigkeit.
„Die vienncontemporary will ukrainische Künstlerinnen unterstützen.“
Kann Kunst Gleichgültigkeit verhindern?
Die Kunst kann einen großen Beitrag leisten, denn ihre Stärke liegt im Dokumentieren und Erinnern. Ich habe größten Respekt vor den Künstlerinnen, die in der Ukraine geblieben sind. Aber auch im Ausland kann man etwas bewirken. Wir als viennacontemporary versuchen das mit dem „Statement Ukraine“: Mit diesem Programmschwerpunkt wollen wir aufzeigen, was Kunstmessen für das Gemeinwohl tun können, Künstlerinnen in und aus der Ukraine unterstützen sowie die Sichtbarkeit der ukrainischen Kultur im Ausland fördern.
Zurück zu Dir: Kannst Du uns mehr über Deine Familie erzählen?
Gemeinsam mit dem Institute of Science and Heritage of the Jewish People habe ich viel über meine Familie forschen dürfen. Manche meiner Vorfahren wurden während dem Holocaust erschossen, die Linie meines Vaters kommt von einer berühmten rabbinischen Familie. Ich wurde nicht religiös, aber kulturell jüdisch erzogen. Damit meine ich jüdische Küche, gewisse Traditionen und die Beziehungen innerhalb der Familie. Ich bin zum Beispiel eine sehr jüdische Mutter, und das meine ich natürlich mit einem Augenzwinkern. Die kann zuweilen übervorsichtig und auch kontrollierend sein.
„We are doing it again.“
Warum hast Du Odessa verlassen?
Ich wurde mit 19 Jahren Mutter. Mein damaliger Ehemann hat sich ein ruhiges Leben für uns vorgestellt, aber ich war schon immer sehr neugierig, wollte die Welt sehen, erfolgreich sein. Ich hatte das Gefühl, dass mich Odessa einschränkt. Also habe ich an der Paris Business School weiterstudiert und ein Praktikum in Brüssel absolviert, meine Tochter ist währenddessen bei meiner Mutter in Odessa geblieben. Das war eine harte Entscheidung, aber ich wollte wachsen und meine professionelle Identität finden. Als meine Tochter eingeschult wurde, bin ich in die Ukraine zurückgekehrt.
Würdest Du nach dem Krieg in die Ukraine wieder zurückkehren wollen?
Ich habe aufgehört, vorauszuplanen. Ich blicke immer nur auf die nächsten drei bis vier Wochen. Was ich weiß: Unser Leben wird nie wieder so sein wie vorher. Vierzig Prozent der zentralen Infrastruktur wurde bereits zerstört und zehn Millionen Menschen aus ihren Häusern und ihrer Heimat verdrängt. Man wird die Ukraine neu aufbauen müssen. Und deshalb vernetze mich jetzt so gut es eben geht, um Brücken zu bauen, um irgendwann Teil dieses Wiederaufbaus sein zu können.
„Vitali Klitschko hat meine Stärke erkannt.“
Ab 2016 warst Du leitend für Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar* in Kiew zuständig, abgesehen davon, dass Du sehr jung warst, war das ein schwere Aufgabe?
Ich wurde damals zu einem Gespräch eingeladen, bei dem die Verantwortlichen das Potential des Projekts Babyn Jar besprachen. Ich habe mich damals mit Vitali Kltischko, der 2015 in Kiew zum Bürgermeister gewählt wurde, gut verstanden. Ich glaube, dass er meine Stärke erkennen konnte, meine Energie. Er sah in mir jemanden, der kritische Fragen stellt und keine Angst hat. Ich habe offensichtlich die richtigen Menschen beeindruckt, und so kam es, dass ich mit nur 26 Jahren ein Millionen-Budget managen durfte.
Was waren später die Aufgaben als Leiterin des Kulturamts von Kiew?
Und dann kam der Krieg. Während meiner Zeit bei Babyn Jar haben wir den Spruch “Never again” unzählige Male wiederholt. Und jetzt sind wir hier, in der Mitte Europas, und tun es wieder. We are doing it again.
Vielen Dank für das Gespräch!