Über Eiterbeulen und Visionen
Wir wollten uns mit Veronica Kaup-Hasler treffen, um über ihr erstes Jahr im Wiener Rathaus zu sprechen. Doch dann stellte das Ibiza-Video Österreichs Innenpolitik auf den Kopf, und es gab erst einmal wichtigere Fragen: Was bewegt sie und die heimische Kulturszene in Tagen wie diesen, und wie geht es nun weiter mit Kulturprojekten, die die Stadt Wien und der Bund gemeinsam verantworten? Zeit, um über Persönliches und Visionen zu plaudern, gab es aber dennoch.
„Die Protokoll-Abteilung im Rathaus hat viel Freude mit mir, weil immer etwas Ungewöhnliches passiert.“
Antje Mayer-Salvi: Wie geht es Ihnen nach den wilden innenpolitischen Ereignissen der vergangenen Tage und Wochen?
Veronica Kaup-Hasler: Ich und mein Team reagierten wie die meisten Menschen in diesem Land auf die Offenbarungen dieses Videos – sprachlos und mit offenen Mündern.
Sprachlosigkeit ist ja nun nicht gerade, wofür Sie bekannt sind?!
Eben (lacht)! Es gab bereits Vermutungen, dass etwas dieser Art existieren könnte. Aber in einer so dreisten Erscheinungsform, auch in Kombination mit diesem Abgrund in ethischer Hinsicht, das überstieg dann doch alle Fantasien. Hätte man diese Ibiza-Szenen in einem Theaterstück gesehen, man hätte sie als überzogen abgestempelt, von linken Aktivistinnen und Aktivisten verfasst – doch die Realität übertrifft die Kunst. Das Ganze war wie eine Eiterbeule, die schon lange spannt und wehtut, dann endlich platzt und dadurch Entlastungs- und Jubelschreie im ganzen Land auslöst.
Dankbar und jubelnd dürfte aber nur ein Teil der Bürgerinnen gewesen sein ...
Es ist Dankbarkeit, keine Schadenfreude, darüber, dass sich die Wahrheit so enthüllt. Gleichzeitig wurden wir wieder Zeuginnen und Zeugen der enormen rhetorischen Begabung von Altkanzler Kurz. Er tat bei seinen Auftritten so, als wäre er gerade von McKinsey eingeflogen worden, um als Troubleshooter in einer für ihn gänzlich unverständlichen und schwierigen Situation zu fungieren.
Die gefühlt tausenden Einzelfälle, vom Liederbuch bis hin zu den 1,50-Euro-Jobs – zu denen er geschwiegen hat –, mutieren nach seiner Abwahl zu etwas, das außerhalb seiner Verantwortung lag, obwohl er bei allem in harmonischem Einverständnis mit der FPÖ nach außen hin auftrat. Jetzt schlüpft er in die Rolle eines externen Außenberaters, und wieder ist er „perfekt“. Wir leben leider in einem Land, in dem das historische Gedächtnis nie besonders ausgeprägt war. Aber es ist eine hochspannende Zeit, die Leute sprechen wieder miteinander.
„Kurz tat so, als wäre er gerade von McKinsey als Troubleshooter eingeflogen worden.“
Was bedeutet die Übergangs- und Expertinnenregierung konkret für die Kulturagenden in Wien und Österreich?
Dass einige Themen, die ich gerade mit dem Bund
gemeinsam auf der Agenda hatte, auf Eis liegen. Was allerdings die
Volkstheater-Sanierung betrifft, so war es wohl eine der letzten
Amtshandlungen von Minister Blümel, diese durch seine Unterschrift zu
bestätigen. Damit können nun die Baufirmen beauftragt werden. Ohne diese Unterschrift hätten sich sämtliche Pläne weit nach hinten
verschoben und die Kosten wären durch zwingend neue
Ausschreibungen maßgeblich um mehrere Millionen gestiegen. Dem hohen Verantwortungsbewusstsein von Gernot Blümel gebührt Respekt. Ebenso hat er
mir das in einem persönlich formulierten Schreiben mitgeteilt. In einer schwierigen Situation, in der er sich zu diesem Zeitpunkt
befand, nicht unbedingt zu erwarten.
Was ist Ihr Plan? Abwarten?
Nein, wir werden einfach weiterarbeiten, das ist unser Beitrag zur Stabilisierung. Es gibt viele Themen, die ich gerne in näherer Zukunft mit dem Bund besprochen hätte – wie man beispielsweise die gemeinsamen Verantwortlichkeiten bei Aufsichtsräten regelt. Da sehe ich jetzt eher keine Bewegung in näherer Zukunft.
„Wir werden einfach weiterarbeiten, das ist unser Beitrag zur Stabilisierung.“
Geht mit dem interimistischen Außenminister Alexander Schallenberg, der auch für das Ressort Kultur zuständig ist, in den nächsten Monaten alles weiter wie bisher?
Lassen wir ihn erst einmal mit seiner Arbeit beginnen, bevor wir urteilen. Ich habe Gutes von ihm gehört und vertraue darauf, dass er sich mit derselben Entschlossenheit um die Kulturagenden kümmert, wie um seine Aufgaben als Außenminister. Für uns alle folgen nun spannende Wochen, weil wir zum ersten Mal eine Regierung haben, die nicht aus Berufspolitikerinnen und -politikern, sondern aus Expertinnen und Experten besteht. Aus eigener Erfahrung sehe ich da durchaus Potenzial (lacht)! Vielleicht gefällt uns die ganze Sache ja besser, als manchen lieb ist.
Werden die Ansuchen um Jahresförderungen für 2020 werden alle im Herbst bearbeitet? Oder sollten sich jene, die auf das Geld vom Bund angewiesen sind, darauf einstellen, erst einmal keine Planungssicherheit zu haben?
Niemand kann sich gerade vorstellen, wie das in den nächsten Monaten gehandhabt werden wird. Wir haben so etwas ja noch nie erlebt! Dazu kommt, dass man sich drei Monate vor der Wahl und drei Monate danach grundsätzlich darauf einstellen kann, dass nichts passiert – eine Pi-mal-Daumen-Regel. Und durch das Sommerloch verschärft sich das alles noch.
„Wo hat Straches Freund Orbán zuerst gekürzt? Bei den Medien, der Kunst und der Wissenschaft!“
Das klingt ja nach komplettem Stillstand.
Wir werden wohl in Kürze mit den führenden Kräften sprechen und klären, was jetzt passieren soll und wie man helfen kann, damit die unterschiedlichen Szenen, für die wir in Wien verantwortlich sind, möglichst gut weiterarbeiten können.
Hat sich durch das Ibiza-Video etwas an Ihrer kulturpolitischen Einstellung geändert?
Nein, aber es verstärkt vielleicht noch einmal mein Bewusstsein, wie wichtig eine demokratische Gegenöffentlichkeit ist – die der Medien, der Kunst und der Kultur. Ich hatte schon davor eine klare Haltung, an der ändert auch das Ibiza-Video nichts.
„Natürlich darf Böhmermann sagen, was er möchte.“
Was ist Ihre Haltung?
Wo hat Straches Freund Orbán in Ungarn zuerst gekürzt? Bei den Medien, der Kunst und der Wissenschaft! Kultur ist eine immens politische Angelegenheit. Wir brauchen deswegen unabhängige Expertinnen und Experten, die der Kunst und Kultur die maximale Autonomie bereitstellen. 80 Prozent der Touristinnen und Touristen kommen wegen Kunst und Kultur nach Wien – es ist so essenziell, was hier von Kulturseite beigetragen und geleistet wird. Sie sind mit allen Kräften zu unterstützen! Die Hälfte der Kulturschaffenden in Wien ist in der freien Szene tätig und generiert 50 Prozent des Publikums. Diese Öffentlichkeit ist ernst zu nehmen.
Darf ein Satiriker wie Jan Böhmermann sagen, was er möchte?
Natürlich darf Böhmermann sagen, was er möchte – das ist Meinungsfreiheit. Viele Dinge kann man als Künstler zugespitzt ausdrücken. Ob das immer relevant und klug ist, ist eine andere Sache, zu der kann ich mich als Bürgerin ja verhalten.
Sie sind nun fast genau ein Jahr im Amt – das eigentlich geplante Thema unseres Treffens. Sie haben Ihr angestammtes Biotop verlassen. Als Intendantin beim „steirischen herbst“ mussten Sie nicht so viele Reden halten und Orden verleihen. Sind Sie noch zufrieden mit Ihrem neuen Job im Rathaus?
Ich denke, in diesem ersten Amtsjahr konnte ich beweisen, dass man eine politische Funktion innehaben und trotzdem bei sich bleiben kann. Die Protokoll-Abteilung im Rathaus hat viel Freude mit mir, weil immer etwas Ungewöhnliches passiert (lacht).
Hat sich Ihr Privatleben im vergangenen Jahr verändert?
Die Arbeitszeiten sind sehr herausfordernd, auch für meine Familie. Es ist wie ein Festival, das nie aufhört. Mein Bekanntheitsgrad ist gestiegen, das ist schon deutlich zu spüren. Das Sozialleben hat sich in die Öffentlichkeit verlagert, und man muss sich seinen privaten Freiraum geradezu erkämpfen. Mein persönliches Kunstinteresse ist zu einer großen Verantwortung für viele mutiert, was ich sehr ernst nehme. Es gibt unglaublich viel zu tun. Ich möchte und kann auch nichts halb machen.
Wie viele Reden halten Sie pro Tag?
Ich bin bestimmt jeden zweiten Abend on Stage – der Improvisationsanteil ist hoch. Das ist ein gutes Training, ich konnte noch nie so frei sprechen wie in diesem Job.
„Ich habe ein Team, das meine öffentlichen Auftritte mit Angstschweiß verfolgt.“
Sie sind bekannt für Ihre direkte Art, haben Sie keine Angst anzuecken?
Ich habe ein Team, das meine öffentlichen Auftritte mit Angstschweiß verfolgt. Bis jetzt ist immer alles gut gegangen. Natürlich ist mein Bewusstsein gewachsen, was aber nicht heißt, dass ich mich immer im Zaum halte. Man hat gegebenenfalls jemanden, der einen anschielt, bevor man sich wegtragen lässt. Mir ist es ein Anliegen auszusprechen, was Sache ist. Deswegen müssen wir auch Medien wie das Ihre und viele andere unterstützen, die in den vergangenen Monaten so gute Arbeit geleistet haben. Meinungs- und Pressefreiheit stehen über allen politischen Interessen.
Sie haben in ihrem ersten Jahr als Kulturstadträtin gleich ziemlich losgelegt und zwei sehr weitreichende Personalentscheidungen für die „Wiener Festwochen“ und die Kunsthalle getroffen, nun folgt noch die Entscheidung für die neue Leitung des Volkstheaters.
Die Entscheidung über die neue Leitung des Volkstheaters wird entgegen der Ankündigungen erst Mitte Juni getroffen. Ich habe zusätzlich zwei Millionen für das Haus aufgestellt. Es musste ja frisches Geld sein, damit es nicht anderen Projekten weggenommen wird. Die Entscheidung, Christophe Slagmuylder als Leiter der „Wiener Festwochen“ zu bestellen, habe ich allerdings sehr rasch getroffen und auch nicht daneben gegriffen. Im Gegenteil. Er macht seine Arbeit erwartungsgemäß hervorragend, und das Publikum nimmt seine Arbeit sehr positiv auf.
Die Zagreber Kuratorinnen vom Kollektiv WHW, What, How & for Whom, mit Ivet Ćurlin, Nataša Ilić und Sabina Sabolović, als neue Leitung der Kunsthalle versprechen auch neuen Wind!
Nicolaus Schafhausen ist freiwillig gegangen, wenn auch aus vielleicht nicht für alle nachvollziehbaren Gründen, aber so können wir jetzt einen Neuanfang mit der Kunsthalle wagen. Das Dreierteam habe nicht ich zusammengestellt, sondern sie arbeiten seit Jahrzehnten erfolgreich zusammen – eine glückliche Wahl und auch zeitgemäß: weiblich und nicht autokratisch.
Was wird neu in der Kunsthalle?
Wir haben eine so junge und starke Galerienszene in Wien wie schon lange nicht, die sollte man in Zukunft stärker einbinden. Die Kunsthalle ist dafür budgetär gut ausgestattet. Es braucht einen Diskurs und eine andere Stimmung des Miteinanders als bisher. Die Unzufriedenheit angesichts des fehlenden Dialoges war schon sehr groß. Das heißt nicht, dass Schafhausen keine gute Arbeit geleistet hat. Er machte viele hervorragende Ausstellungen wie „Peter Friedl. Teatro“ möglich.
Sucht die Kunsthalle einen neuen Standort?
So wie die neue Leitung der „Wiener Festwochen“ möchte auch WHW die Tentakel wie ein Krake raus aus dem Zentrum in die Bezirke hinausstrecken. Die ganz große Vision wäre, einen neuen Standort für die Kunsthalle, etwa links der Donau in „Transdanubien“, zu finden, der sich mit einem zeitgenössischen urbanen Konzept den Bewohnerinnen und Bewohnern öffnet. Die mittelfristige Vision ist, die unglücklich versteckte Location im Museumsquartier durch verschiedene Maßnahmen sichtbarer zu machen.
Durch einen Architekturwettbewerb zum Beispiel?
Man ist da sehr eingeschränkt, weil die Hallen unter Denkmalschutz stehen, aber architektonische – oder zumindest räumliche – Interventionen, gerne temporär, sind unbedingt notwendig. Ich bin mit der MQ-Leitung im Gespräch und sehe nach einem Jahr immer klarer, wo es eigentlich hakt.
Wo hakt es denn genau?
Vor allem im sozialen Bereich – es braucht Mindestlöhne für Kreativschaffende, Altersvorsorge für Kreative, leistbare Kreativräume beziehungsweise ein besseres System, das den immensen Leerstand in Wien effektiver vermittelt, eventuell auch durch bargeldlose Tauschgeschäfte zu mieten, und längerfristige Subventionszusagen.
„The System is failing.“
Es gibt gerade einen Projekt-Call zum Thema „Digitaler Humanismus“ mit einem finanziellen Gesamtumfang von über 320.000 Euro. Was hat es damit auf sich?
Die Verzahnung von Wissenschaft und Kultur ist mir ein ganz großes Anliegen. Methoden aus der Kulturwissenschaft, Ethik und Philosophie sollen bei den einzureichenden Projekten von Vornherein in die zu entwickelnden Techniken integriert werden. Der „Erfinder des Internets“, Tim Berners-Lee, meinte zu Recht: „The System is failing!“ Das, was mit der Digitalisierung als Befreiung und Demokratisierung seinen Anfang genommen hat, ist mittlerweile in Bezug auf Privatsphäre und Ethik zu einer totalen Perversion verkommen. Die großen Konzerne agieren hier in Wild-West-Manier. Es muss eine Gegenbewegung folgen!
Bald wird eine Vienna-Token-App, gemeinsam mit der MA 01 – Wien Digital, releast. Ist es nicht schwierig, mit so einem Angebot – ähnlich wie in China – sozial bewertet zu werden?
Dieses Projekt betreut mein wunderbares Team um Alfred Strauch und wird nächstes Jahr als Pilot anlaufen. Soziales und ökologisches Handeln soll mit kulturellem Benefit belohnt werden. Wir beginnen mit CO₂-Reduktion: Für zu Fuß gehen, Fahrrad fahren und Auto stehen lassen bekommt man Token, die dann beispielsweise gegen einen Besuch im Theater eingetauscht werden können.
Aus dem Kultur-Token soll – geht es nach Bürgermeister Michael Ludwig – der Wien-Token werden, der auch andere Angebote der Stadt miteinbindet: Man passt ehrenamtlich auf die Kinder beim Eislaufen auf und kann dann mit seiner Frau in die Therme gehen. Das heißt jetzt natürlich nicht, dass jedes freiwillige Engagement mit Geld belohnt werden soll, es soll einfach Anstoß und Anreiz für die Wienerinnen und Wiener sein.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.